„Filmische Epochal-Literatur“
Jeder hat von dem historischen Roman „Krieg und Frieden“ vom russischen Schriftsteller Leo Tolstoi gehört, „Weltliteratur, muss man kennen“. Aber die wenigsten haben die gut 1500 Seiten gelesen. In der Schule hat man gern abgekürzt, wenn man keine Lust hatte, das Buch zu lesen. Man hat einfach den Film geschaut. Das ging natürlich immer mächtig daneben, wenn sich die Handlung des Films von der des Buches unterschied. Wenn man aber das russische Meisterwerk zumindest ansatzweise kennenlernen will, gibt es ebenfalls eine cineastische „Abkürzung“. Zugegeben, sie ist nicht gerade kurz (422 Min.) und wesentlich länger als die Hollywood-Verfilmung von King Vidor aus dem Jahre 1956 mit Audrey Hepburn und Henry Fonda, aber von allen Verfilmungen am dichtesten am Originaltext. Die Rede ist vom russischen Film zum hundertjährigen Bestehen des Romans: KRIEG UND FRIEDEN (1965-1967) von Sergei Bondartschuk. Sowjetisches Monumentalkino in XXL. Es ging sogar die Legende um, es wäre die teuerste Produktion der Filmgeschichte, was aber dann doch genaue Zahlen der Produzenten widerlegten (knapp 10 Mio. Dollar, also gut 90 Mio. Dollar im Jahre 2022).
Die gute Nachricht für alle: Die sich schon bei der enormen Laufzeit auf der Couch wegdämmern sehen, KRIEG UND FRIEDEN teilt sich in vier Abschnitte, die man gut auf vier Filmabende verteilen kann. Die Topnachricht ist jedoch, dass man nun endlich den Film in HD auf Blu-ray erleben kann (es gibt die Edition auch auf DVD). Das Label Bildstörung hat sich einer ebenso monumentalen Aufgabe zusammen mit dem russisch-staatlichen Filmstudio Mosfilm und der DEFA-Stiftung gestellt. Bild und Ton wurden restauriert und in einer 3-Disc-Special-Edition veröffentlicht. Übrigens auch eine der ersten Veröffentlichungen von KRIEG UND FRIEDEN mit russischer Tonspur, die in den letzten Jahren in Europa kaum erhältlich war. Jetzt wird zudem eine komplette deutsche Synchro geboten, sogar in DTS 5.1 außer natürlich bei französischen Dialogen, die sind untertitelt. Aber wir wollen erst später auf diesen kleinen Goldschatz der Heimkino-Veröffentlichung eingehen.
Produktionsumfang
Sieben Jahre dauerte die Filmproduktion mit über 12.000 Statisten, vier Jahren Drehzeit, Tonnen von Schwarzpulver, hunderten Pferden und unzähligen Kostümen, die ganze Sporthallen füllten. Sergei Bondartschuk hat zumindest mit seinen Gewerken gespart und ist nicht nur als Regisseur, sondern auch als Drehbuchautor und Hauptdarsteller tätig. KRIEG UND FRIEDEN ist aber nicht nur wegen seines Produktionsumfangs ein Blick für jeden ernsthaften Filmgeschichtsfan wert, sondern auch wegen seiner Inszenierung. Bondartschuk versucht dem realistischen Stil, den der Roman im 19. Jahrhundert so besonders machte, gerecht zu werden. Die Kamera wird zur wertefreien Beobachterin und die Geschichte wird möglichst objektiv abgebildet. Ganz ohne Einfluss der damaligen Regierung bei der Produktion und gesellschaftspolitischer Aussage des Autors geht es dann nicht, denn auch Tolstoi selbst war ein Reformer seiner Zeit. Heute wäre es Tolstoi immer noch, was seine Zitate zum Thema Fleisch als Ernährung belegen:
„denn außer der Aufregung der Leidenschaften infolge dieser Nahrung ist dieselbe auch ganz einfach unmoralisch, weil sie eine dem Gefühl der Moralität widersprechende Tat – den Mord – erfordert, und weil sie nur von der Feinschmeckerei und Gefräßigkeit verlangt wird“.
„dass im Herrenhaus viel Mühe auf exquisite, raffinierte Speisen verwandt wurde, während ringsum bittere Armut und periodisch immer wieder Hunger herrschten“.
Tolstoi hätte in unserer Gegenwart sicherlich immer einen Platz in einer abendfüllenden Talkshow bekommen.
Zurück zur Verfilmung aus den 1960er-Jahren: Am meisten muss man an die Regiearbeiten von Stanley Kubrick denken. Der Inszenierung Bondartschuk fehlt es vielleicht an intellektueller Tiefe gegenüber Kubrick, aber nicht am Willen untypische und neue Einstellungen zu wagen: Kameralinsen mit geteilter Brennweite, endlose Planfahrten, schwankende Aufnahmen, Kamerafahrten mit dem Hubschrauber, Egoperspektiven auf dem Schlachtfeld oder Splitscreens. Eine Vielzahl von visuellen Stillmitteln befindet sich im Wechselspiel und wird in diesem Epos getestet. Selbst die Kamera durch einen brennenden Schützengraben zu ziehen, kann man im Abschnitt „Das Jahr 1812“ erleben. Das Ergebnis dieses Forschergeistes bringt Frische in die sieben Stunden Laufzeit und lässt uns Zuschauerinnen und Zuschauer ehrfurchtsvoll vor den Bildschirmen sitzen, was aber auch an den Menschenmassen in den Szenen liegt.
Teil 1: Andrej Bolkonski
Klassischer Anfang: zweieinhalb Minuten Ouvertüre mit Schwarzbild, dann die zeitliche Einordnung 1805, Petersburg und Moskau. Noch herrscht Ehrfurcht in den Gesprächen des Adels über die Erfolge Napoleons. Auch die befreundeten Adligen Pierre Besuchow (Sergei Bondartschuk) und Fürst Andrej Bolkonski (Wjatscheslaw Tichonow) sprechen darüber. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein. Pierre ist ein emotionaler und ungelenker Charakter, der als unehelicher Sohn eines Grafen keine Geldsorgen hat, ihm aber das Ansehen in der gehobenen Gesellschaft fehlt. Andrej ist künftiger Alleinerbe von Fürst Nikolai Bolkonski (Anatoli Ktorow) und verheiratet mit der schönen Lisa (Anastassija Wertinskaja). Beide Männer haben jedoch von den Ritualen und dem Gesellschaftsklatsch der adligen Veranstaltungen genug. Sie unterhalten sich über existenzielle Fragen und die Möglichkeiten aus ihrem vorgeschriebenen Leben zu entfliehen. Andrej will in den Krieg zu ziehen, sich mit Ruhmestaten im Land einen Namen machen und nicht nur den seines Vaters als Erbe zu nutzen. Pierre wird nach dem Tod seines Vaters als Alleinerbe anerkannt und erlangt Titel und Wohlstand. Für das Schlachtfeld fehlt ihm die Härte und so wird er zum Spielball der arrangierten Liebschaften am Hofe des Zaren. Es entstehen zwei parallele Handlung: Die von Pierre in Moskau mit prächtigen, aber weltfremden Bällen und Festen, und auf der anderen Seite die Szenen an der Front mit Andrej, der in den verbündeten österreichischen Soldaten keine Ehre erkennt und den Sieg auf dem Schlachtfeld sucht. Beide werden nicht glücklich werden.
Die Hauptfigur im ersten Teil ist Andrej Bolkonski, die versucht in seiner Arroganz ein Held auf dem Schlachtfeld zu werden. Man versteht, dass er in der Welt des Adels nicht glücklich werden kann und sein Abenteuer im Krieg sucht. Der Vater ist verrück und die Verwandtschaft ohne ihre Dienerschaft nicht überlebensfähig. Wenn zum ersten Mal tausende Soldaten aufmarschieren und die Dimension von KRIEG UND FRIEDEN langsam begreiflich werden, erkennt man nicht nur den Willen von Andrej sein Abenteuer zu suchen, sondern warum hier ein Monument der Filmgeschichte aufflammt. Die Statisten scheinen unerschöpflich. Wenn man denkt, jetzt ist es vorbei, steigt noch einmal die Kamera nach oben und zeigt die Weiten der Landschaft, die voll von Bataillonsheeren ist. Wohlgemerkt, es sind die 1960er-Jahre und mit Matte Paintings wurde wenig gearbeitet. Eine kühle Stimmung entsteht, fast mechanisch. Der Krieg wird zu einer strategischen Manifestation ohne Gefühl.
Parallel dazu ist die obere Gesellschaft um den Zaren völlig emotionslos. Die Empfänge gleichen einer Ausstellung mit Statuen. Man hört nur den Trasch aus dem Off, die Kamera gleitet über den Marmorboden wie durch ein Museum. Menschlichkeit und Emotionen, Fehlanzeige, weder an der Front noch bei der oberen Elite. Strategien gibt es aber auch im sicheren Moskau, wer soll wen heiraten oder wer hat sich „falsch“ verhalten. Zumal werden Pierre, der in eine geplante Ehe geschoben wird, durch den arroganten Dolochow (Oleg Jefremow) Hörner aufgesetzt, er zeigt sich ganz selbstverständlich beim Umwerben von Pierres Frau. Ein unbeholfenes Duell im Schnee zwischen Pierre und Dolochow ist die Folge und das Glück ist auf Pierres Seite. Das Duell ist in seinem Regelwerk eine passende Verbindung zu Andrej an der Front. Man läuft ein paar Schritte auf einander zu, nur eine Kugel ist im Lauf und es wird geschossen. Auf dem Feld kommt die Form auch vor den Schießkünsten, es scheint wichtiger zu sein, wie gut die Soldaten marschieren und den Befehlen gehorchen als die Angst davor wie Zinnsoldaten in den Kugelhagel zu schreiten oder von der Kavallerie niedergeritten zu werden. Krieg wird zur unmenschlichen, strategischen Schlacht einiger weniger Offiziere, die Zehntausende kontrollieren. Andrej wird hier nicht seine Erlösung finden, aber eine Chance auf ein neues Leben.
Teil 2: Natascha Rostowa
Anfang des 19. Jahrhundert herrschen Männer über das Leben aller, auch über das der jungen und schönen Natascha Rostowa (Ljudmila Saweljewa). Sie ist noch ein Kind voller Gefühle und Naivität, gerät aber schnell in die Aufmerksamkeit der Männer, die sich gerade von einem Urlaub an der Front erholen. Andrej ist als Witwer nach seiner überraschenden Rückkehr aus dem Krieg auf der Suche einer neuen Frau. Die junge Natascha erblüht im Tanz bei einem Petersburger Ball vor seinen Augen. Sie verloben sich, jedoch wissen nur die Eltern davon und es soll ein Probejahr wegen dem hohen Altersunterschied geben. Sie hat die Möglichkeit eines Heiratsrückzugs, Andrej jedoch nicht. Natascha gerät aber in die schmeichlerischen, intriganten Arme eines Verehrers. Anatole beeindruckt die junge Dame mit einer Chance auf ein Leben im Ausland ohne Verpflichtungen. Natascha beendet die Verlobung zu Andrej, die Flucht misslingt und die junge Rostowa sitzt nun ohne jegliche Chance auf eine Heirat vor dem Nichts. Pierre nimmt sie jedoch in Schutz, unterstützt sie und sieht darin seine verdrängte Liebe zu ihr.
Ein Kapitel was sich fast ausschließlich um ein junges Mädchen dreht. Sie wird durch die Heiratspläne und ihre starke, unerfahrene Gefühlswelt zum Spielball der mächtigen Männer. Ljudmila Saweljewa spielt hier weit über den Grenzen des Overacting hinaus. Mit weit aufgerissenen Augen und kindlicher Freude scheint sie keine Grenzen in ihrem Verhalten zu finden. Mit einem gegenwärtigen Blick kann auch die Unbeholfenheit eines Regisseurs erkennbar werden, sich in eine junge Frau hineinzufühlen. Dieser Teil entfernt sich auch sehr stark von der literarischen Vorlage, in der auch die beiden Männer Andrej und Pierre mit ihren Idealen und moralischen Vorstellungen hadern. Zumindest finden die Gedanken von Andrej in einigen Szenen, in diesem verhältnismäßig kurzen Teil, Platz. Er wird melancholisch, sieht wenig Sinn im Leben und noch weniger im Krieg.
Teil 3: Das Jahr 1812
Der Krieg ist nicht mehr weit entfernt, sondern in Russland angekommen. Napoleon hat mit dem französischen Heer die Grenzen überschritten und drängt nach Moskau. Das Adel lebt weiterhin in ihrer mamoreksen Scheinwelt, abgesehen davon, dass der Krieg Tischthema ist. Der Zar wird als Oberhaupt weiterhin von seinem Volk angehimmelt. Andrej muss zurück an die Front, die Wochen in der Heimat und seine Nahetoderfahrung haben ihn verändert. Militärtitel sind nicht mehr wichtig, er will bei seinem Bataillon bleiben und seine Männer beschützen. Es kommt zur großen Schlacht von Borodino nicht weit vor Moskau in der sich 100.000 Soldaten jeweils gegenüberstehen. Ein tagelanger Kampf entfacht, in dem zehntausende getötet und verstümmelt werden. Andrej muss mit seiner Truppe in der Reserve stehend, immer weitere Verluste hinnehmen. Pierre treibt es aus der Sicherheit seines Zuhauses zum Schlachtfeld. Mit weißem Zylinder und Frack wirkt er als Zuschauer wie ein Fremdkörper im blutigen Getümmel. Er überwindet seine Angst und hilft einer Artillerie, bis er vor Blut und Schlamm nicht mehr zu erkennen ist.
„Das Jahr 1812“ sprengt noch einmal alles was vorher in dieser Verfilmung von KRIEG UND FRIEDEN zu sehen war. Abertausende Soldaten in vollen Kostümen stolzieren über die weiten Felder der Schlacht. Endlose Reihen aus Explosionen beben über den Boden, hunderte Pferdehufe durchpflügen die Szenerie. Die Dramaturgie von Sergei Bondartschuks Inszenierung spitzt sich im Getümmel immer weiter zu. Zu Beginn noch auf Form, Gleichschritt und Rechtecke aus Truppen bedacht, zerreißt das Feld immer mehr in ein brutalen Chaoskampf Mann gegen Mann. In Zwischenszenen geben die Generäle ihre Befehle an ihren Stab weiter, essen üppige Mahlzeiten (der russische General Kutuzov) oder lehnt das Frühstück ab (Napoleon).
„Es geht nicht um die Menge, Position oder Strategie, sondern um das Gefühl in jedem Soldaten.“
Mit diesen Worten belehrt Andrej seinen Freund Pierre, wie die Schlacht gewonnen werden kann. Das Gefühl bei diesem Anblick ist ehrfürchtig und erschreckend zugleich. Diese so pompöse Darstellung mit ihren endlosen Kamerafahrten am Rande des Feldes erinnert an Ölmalereien von January Suchodolski oder Adolf Northern. Russland wird die Schlacht faktisch verlieren. Doch ein geordneter Rückzug der russischen Soldaten wird Napoleon und seiner Grand Armée unheilbar später zusetzen. Außerdem sind die Zeit und der nahende Winter auf der Seite der Einheimischen.
Teil 4: Pierre Besuchow
Moskau wird aufgegeben. Der Großteil der Bevölkerung flieht, wie auch der angeschossene Andrej und Natascha. Pierre bleibt zurück, tarnt sich als Bauer und will ein Attentat auf Napoleon verüben. Die Franzosen marschieren in die Stadt ein, plündern und legen Feuer. Keiner will hier länger bleiben. Als französische Soldaten sich an einer unschuldigen Frau vergehen, schlägt Pierre die Männer nieder. Er wird sofort verhaften und als Spion verurteilt. Dem Erschießungskommando entkommt er, die Franzosen ziehen weiter in einen kalten und unbarmherzigen Winter. Napoleon lässt seine Armee zurück und reist unter falschem Namen nach Paris. Ein Großteil der wenigen Männer, die übriggeblieben sind, werden größtenteils verhungern oder erfrieren. Die russische Armee, unter der Führung von Kutuzov, „begleitet“ sie zu den Grenzen und aus dem Königreich Russland hinaus.
Der letzte Teil ist wie eine Mischung der vorherigen drei Teile. Wieder sind Unmengen an Statisten zu sehen. Natascha und Andrej treffen kurz vor seinem Tod aufeinander und gestehen sich ihre ewige Liebe. Pierre wird wieder zum Spielball des Schicksals, um am Ende der Beweis zu sein, dass das Leben schön ist. Spektakulär ist der Brand in Moskau. Die kilometerlangen Häuserschluchten, die von den Requisiteuren erbaut wurden, werden in einem Höllenfeuer niedergebrannt. Die Kameramänner scheinen feuerfest zu sein und ein Sturm aus Asche weht durch die brennenden Ruinen. Im letzten Teil ist der stark subjektive Blick der Sowjetunion als Produzent dieses Epos zu erkennen. Die Franzosen mögen auf den ersten Blick freundlich sein, plündern aber dann, exekutieren auf dem Kohlkopf-Feldern und brennen die beeindruckende Kulisse Moskaus nieder. Die Russen zeigen sich als gute Begleitung für die Gefangenen am Ende, obwohl kurz vorher noch der junge Rostowa erschossen wird. Die Inszenierung wird zum Ende verspielter, fast schon märchenhaft, mit zum Beispiel glitzernden Überblendungen. Die Freude über den Sieg und den Frieden wird durch die Erzähler aus dem Off verkauft. Der Nachgeschmack, wie viele Menschen bei diesem Feldzug gestorben sind, bleibt und die bestellte Lebensfreunde will sich nicht einstellen.
Epos
Für uns Filmfans gibt es immer wieder Listen mit filmgeschichtlichen Meisterwerken, die man unbedingt gesehen haben muss. Für manche eine zähe Angelegenheit, wenn man zum Beispiel nicht das Montagetempo der 1940er Jahre gewöhnt ist: CASABLANCA (1942) ist so ein Kandidat. Was ist aber, wenn es bei der Laufzeit so richtig in die Vollen geht wie bei NAPOLEON (1927) mit 333 Minuten oder DIE ZEHN GEBOTE (1956) mit 220 Minuten? KRIEG UND FRIEDEN stellt mit seinen siebeneinhalb Stunden noch einmal alles in den Schatten. Die Bilder sind beeindruckend, so etwas hat man noch nicht gesehen, wie tausende Menschen Historie nachstellen. Zugegeben, viele Szenen sind zäh, schwermütig und einige Schauspieler etwas ungelenk. Vor allem die deutsche Sprache der Synchronisation passt manchmal gar nicht zur russischen Mimik und Gestik. Die Verfilmung KRIEG UND FRIEDEN aus den 1960er Jahren ist aber in ihrer Produktionsart ein filmgeschichtliches Ausrufzeichen. So ein jahrelanger Kraftakt wäre ohne staatliche Unterstützung der UdSSR nicht möglich. Die Statisten wurden zu großen Teilen von der Armee gestellt, logistische Wege von Behörden organisiert und Geld floss von der Regierung direkt in das staatliche Filmstudio Mosfilm. Man mag sich nicht vorstellen unter welchem Druck Regisseur Sergei Bondartschuk stand. Tolstois „Krieg und Frieden“ als Rückgrat der russischen Weltliteratur, die Obrigkeit der Regierung, die minutiös darauf schaut, dass Mütterchen Russland in der Darstellung gut wegkommt und dann die Drehtage im Umfang einer Kleinstadt.
KRIEG UND FRIEDEN fürs Heimkino
Das deutsche Independent-Label Bildstörung hat schon mehrfach bewiesen, dem breiten Massengeschmack mit wichtigen filmhistorischen Streifen zu widerstehen. Der Katalog führt meist dahin, wo es wehtut, wie zum Beispiel die Veröffentlichung von KOMM UND SIEH (1985) aus dem Jahre 2020 oder die erstmalige Blu-ray zum ungarischen Animationsfilm SOHN DER WEISSEN STUTE (1981). Zum Ehrenkodex des Labels gehört ein würdiges Gesamtpaket, was den interessierten Zuschauer nie ohne weitere Informationen im Regen stehen lässt, so auch bei KRIEG UND FRIEDEN.
Es gibt eine DVD-Special-Edition oder Blu-ray-Special-Edition. Empfehlung von uns liegt auf der Blu-ray. Das Filmmaterial wurde respektvoll restauriert und behält definitiv die Optik jener Zeit. Das Glanzstück ist jedoch der Ton, der mit der kompletten DEFA-Synchronfassung in 5.1 aufwartet. Vor allem in den ersten beiden Teilen kommt das gut zu Geltung, warum es bei Teil drei und vier flacher wird, erklärt das Booklet auf einer Seite. Die restlichen 23 Seiten des beiliegenden Heftchens beinhalten einen Text zur Romanvorlage von der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Christine Engel. Es macht Sinn, hier nur auf den Roman Tolstois und seine kulturelle Verbindung einzugehen, denn der Blick in die Filmhistorie findet auf der Bonus-DVD mit gut drei Stunden Zusatzmaterial statt. Das ist meist aus sowjetischer oder russischer Produktion und es weht immer wieder der Hauch der Propaganda darüber. Bei aktuellen Produktionen wird in den Featurettes auch immer das Blaue vom Himmel gelogen („Der beste Regisseur der Welt“, „Tolle Schauspielerin“, „die Drehtage am Set waren so entspannt“, bla bla bla). Vor allem in die 30-minütige Making-Of-Doku von 1969 sollte ein Blick geworfen werden. Hier kann man sehen, wie unverfroren die Kameramänner durchs Feuer gehen und Planfahrten koordiniert werden. Man muss hin und wieder an den One-Shot-Movie 1917 denken, nur dass es eben hier etwas sporadischer vonstattengeht. Ferngesteuerte Kamera und Seilwinden wurden jedoch auch hier genutzt. Eine Edition mit drei Discs (Blu-ray) bzw. vier Discs (DVD) plus einem Booklet, was im Gesamtpaket auf andere aktuelle Heimkinoveröffentlichung einen weiten Schatten wirft.
Fazit
Sowjetischer Monumentalfilm mit visionärer Inszenierung und gigantischer Filmproduktion in einem. So etwas gab es nur einmal und wird es sicherlich nie wieder geben. Die Edition von Bildstörung ist eine ebenso monumentale Kaufempfehlung.
Titel, Cast und Crew | Krieg und Frieden (1966) OT: Война и мир internationaler Titel: War and Peace |
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Poster | |
Regisseur | Sergei Bondartschuk |
Release | ab dem 27.11.2020 in einer Special-Edition: Blu-ray oder DVD Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: oder direkt beim Label-Shop bestellen |
Trailer | |
Besetzung | Sergei Bondartschuk (Pierre Besuchow) Ljudmila Saweljewa (Natascha Rostowa) Wjatscheslaw Tichonow (Fürst Andrei Bolkonski) Boris Zakhava (Feldmarschall Kutusow) Anatoli Ktorow (Fürst Nikolai Bolkonski) Anastassija Wertinskaja (Fürstin Lisa Bolkonskaja) Antonina Schuranowa (Fürstin Maria Bolkonskaja) Oleg Tabakow (Nikolai Rostow) Wiktor Stanizyn (Ilja Rostow) Irina Skobzewa (Hélène Besuchowa) Boris Smirnow (Fürst Wassili Kuragin) Wassili Lanowoi (Anatol Kuragin) Kira Golowko (Gräfin Rostowa) Irina Gubanowa (Sonja Rostowa) Alexander Borissow (Onkel Rostow) Oleg Jefremow (Dolochow) Giuli Tschochonelidse (Fürst Bagration) Wladislaw Strscheltschik (Napoléon Bonaparte) Angelina Stepanowa (Anna Pawlovna Scherer) Nikolai Trofimow (Tuschin) |
Drehbuch | Sergei Bondartschuk, Wassili Solowjow |
Vorlage | Nach dem gleichnamigen historischen Roman von Leo Tolstoi |
Kamera | Anatoli Petrizki Alexander Schelenkow |
Filmmusik | Wjatscheslaw Owtschinnikow |
Schnitt | Tatjana Lichatschowa |
Filmlänge | 432 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter