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Komm und sieh (1985) – Filmkritik

Krieg muss als geschichtliche Warnung im Bewusstsein lebendig gehalten werden. Eine Zeitkapsel der Grausamkeit, die nie wieder das Licht der Realität erblicken darf. Die Stimme der Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebte, ist in unserer Gesellschaft fast verstummt. Die Probleme im 21. Jahrhundert sind andere, vielfältige, kleinere und komplexere. Wenn man heute auf die Zerstörung Europas durch das Deutsche Reich zurückblickt, wirkt es wie der fiebrige Alptraum einer längst vergessenen Geschichte. Wer bereit ist, in das Gesicht des Krieges zu blicken, kann mit dem düsteren Kunstwerk KOMM UND SIEH die Abartigkeit menschlichen Handelns sehen. Ein intensiver und tieftrauriger Film, der seinem Zuschauer Energie nimmt und Demut für das Leben im Heute lehrt.

© 1985 Mosfilm

Handlung

Die Wirren des Krieges 1943 in Weißrussland. Zwei Jungen spielen im Wald und graben nach Schätzen. Möchte man meinen, aber sie suchen nach Pistolen, die in vorherigen Kämpfen in den Händen verscharrter Soldaten zurückgelassen wurden. Über ihnen kreisen die Beobachtungsflugzeuge der deutschen Luftwaffe. Als Fljora (Alexei Krawtschenko) ein Gewehr aus dem Sand zieht, strahlt er vor Freude. Jetzt endlich kann er sich der sowjetischen Miliz in den Wäldern anschließen, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Sein kindlicher Wunsch Räuber und Gendarm zu spielen wird schneller eintreffen als er denkt, jedoch nicht an der Seite von Kameraden. Er bestreitet seinen Irrweg durch das Inferno des Krieges allein. Am Ende wird nur eine leblose Hülle des Hasses von ihm zurückbleiben.

KOMM UND SIEH (1985)
© 1985 Mosfilm

Der Kriegsfilm

Der populäre Kriegsfilm hat immer auch eine spielerische Komponente. Die einen sind die Guten und die anderen die Bösen. Nun heißt es mit Strategie, Stärke und Mut die Bösen zu besiegen, die Unterdrückten zu befreien und den Frieden wiederherzustellen, eine kindlich naive Version. Aber auch der Titel KOMM UND SIEH wirkt freundlich, wie eine Einladung zu einer ganz besonderen Tour. Mit dieser Erwartung, zu einem ernsten Wettkampf eingeladen zu werden, spielt die Regiearbeit von Elem Germanowitsch Klimow. Diese Vorstellung teilen wir mit Protagonist Fljora. Er lebt mit seiner Mutter und zwei Schwestern in verarmten Verhältnissen. Ihn lockt das Abenteuer in die Schlacht. Noch zu Beginn, wenn die Miliz sich im Wald Verstecke und Hütten baut, erinnert es an einen Abenteuerspielplatz für große Kinder. Genauso hat sich Fljora das vorgestellt. Und wir mit ihm mutmaßen, dass jetzt die große strategische Besprechung kommt, den Feind gezielt anzugreifen und in einer epochalen Schlacht zu vernichten. Doch die Kompanie rückt aus, lässt Männer und Frauen für die Versorgung zurück, aber auch den jungen Neuzugang und mit ihm uns Zuschauer. Mit Tränen in den Augen nicht mitspielen zu dürfen, wird uns Fljora im Krieg an dunkle Orte führen. Man sollte mit seinen Wünschen vorsichtig sein.

© 1985 Mosfilm

KOMM UND SIEH bietet keine Feuergefechte, keine väterlichen Generäle, keine ruhmreichen Schlachten mit hunderten Soldaten. Es ist der Kampf ums Überleben, die Suche nach Nahrung, der Kontakt mit den Elementen und die Vernichtungen ganzer Dörfer. Wenn doch einmal viele Statisten auftreten, dann sind es Opfer, Vertriebene und Gefangene. Mit Elementen des Naturrealismus folgt die Tierwelt dem Protagonisten und verstärkt die schonungslose Darstellung. Wenn noch zu Beginn Vogeleier versehentlich zertreten werden, werden im weiteren Verlauf die leidenden Tiere immer größer. Bis am Ende selbst die Menschen wie Rinder in den Stall getrieben werden.

© 1985 Mosfilm

Die Inszenierung

Im klaustrophobischen Format 1:1,37 wurde KOMM UND SIEH von Kameramann Alexei Rodionow in den sowjetischen Wäldern gedreht. Der Wechsel von geschickter Handkamera über große Plansequenzen bis hin zu dichten Portraitaufnahmen ist kaum wahrzunehmen. Wie Zeitzeugen schauen die Figuren immer wieder direkt in die Kameralinse, was die geschichtliche Wirkung noch verstärkt. Der Zuschauer wird somit auch zum Zeitzeugen, wird bewusst vom Medium selbst gesehen und bekommt ein Gefühl vermittelt, nicht wegschauen zu dürfen. Die Klangkulisse lässt einen stets das Schlimmste erwarten, wenn es zu Beginn noch kaum Musik gibt, wird sie zum Mittelteil, den Hörschaden von Fljora unterstützend, zu einem Mix aus Radiowellen, Geräuschen und Natursound. So fordert KOMM UND SIEH seine Zuhörer auf, stets auf der Kante des Stuhls zu verharren, angespannt zu bleiben und auf der Hut zu sein.

KOMM UND SIEH (1985)
© 1985 Mosfilm

Es ist der feinfühligen Hand des Regisseurs zu verdanken, wie die Szenengestaltung mit der Entwicklung der Hauptfigur einhergeht. In einem viel zu großen Anzug, dem Gewehr über der Schulter und mit breitem Grinsen wirkt der Junge zu Filmbeginn wie der Stummfilmzeit entstiegen. Sein erstes Zusammentreffen mit der geistig angeschlagenen Glascha (Olga Mironowa) bringt ihn aus dem Gleichwicht. Aber die Rückkehr in sein verlassenes Dorf lässt ihn unglücklich von einer Odyssee zur nächsten treiben bis es zum Schluss seine grausame Aufgabe ist, und auch die unsere, Augenzeuge von Massenmord zu werden. Aber auch die Zwischentöne meißeln sich in die filmischen Erinnerungen, viel stärker als es geschichtliche Archivaufnahmen tun. Zum Beispiel, wenn Fljora den riesigen Kochtopf von innen schrubbt, wie ein Vorgeschmack auf die Höllenfahrt, die ihm bevorsteht oder der beschwerliche Weg durch das Moor, welcher zu den Dorfbewohnern führt, die wie Geister im Nebel auftauchen. Der Film ist ein gnadenlos packender Prozess eines Kindes hin zu einem Krieger aus Überzeugung, welcher handwerklich auf hohem Niveau und ohne große Effekte stets mitreißt. Hinzukommt, dass kaum mit geschichtlichen Fakten und Details gearbeitet wird. Wenn die Kleidung der Soldaten und das geschichtliche Wissen des Zuschauers nicht wäre, könnte die Geschichte in jedem anderen Krieg spielen.

© 1985 Mosfilm

Dieses Mahnmal des Zweiten Weltkrieges verbindet Teile des Romans DIE ERZÄHLUNG VON CHATYN von Ales Adamowitsch und die Kindheitserinnerungen des Regisseurs Elem Klimow (1933-2003). Nach einer zermürbenden Produktionsgeschichte und der erfolgreichen Aufführungen von KOMM UND SIEH in internationalen Lichtspielhäusern (30 Mio. Zuschauer) beendete Klimow seine Karriere mit einer Mischung aus Karrierehöhepunkt und Finanzierungsblockade weiterer Projekte durch die Behörden. „I’ve lost interest in making films. Everything that was possible I felt I had already done.“ (Quelle: The Guardian)

KOMM UND SIEH (1985)
© 1985 Mosfilm

Erfahrung

Die Welt der Cineasten ist voll von Listen mit den besten Filmen, IMDb Top 250, 1.001 Movies To See Before You Die, Letterboxd Top 250 und wie sie alle heißen. KOMM UND SIEH ist auf all diesen Listen vertreten und jeder, der filmgeschichtliche Expertise sammeln oder mit digitalen Achievements prahlen möchte, muss an diesem Brocken vorbei. Schwergewicht nicht im Sinne von monumentalem Ausmaß wie zum Beispiel NAPOLEON (1927) mit 332 Minuten, sondern dass diese Filmerfahrung einen bis ins Mark erschüttert. Wie unser naiver Protagonist startet man voller Vorfreude auf ein filmisches Abenteuer und tritt dabei in ein bissiges Maul, welchem man spätestens im letzten Akt entfliehen will, aber nicht mehr kann. Es ist somit unmöglich eine Filmempfehlung für KOMM UND SIEH auszusprechen, das würde einer Führung durch ein Konzentrationslager auf der Kulturtipp-Seite gleichkommen. Deswegen sei hiermit die Warnung an eine durchdringende Einsicht ausgesprochen, die man so schnell nicht noch einmal machen will.

© 1985 Mosfilm

Filmische Aufwartung von Bildstörung

Die Blu-ray-Special-Edition

Wer nun doch bereit ist, sich KOMM UND SIEH zu stellen, sollte einen Bogen um YouTube machen und bei der Veröffentlichung von Bildstörung zugreifen. Der Film liegt nach einem 2K-Scan in HD vor, die bereits bei den Filmfestspielen in Venedig als beste Restaurierung ausgezeichnet wurde. Es gibt keine Synchronisation, sondern nur russische Sprache (LPCM Mono) und wahlweise deutsche Untertitel. Auf einer Bonus-DVD gibt es umfangreiches Bonusmaterial mit über drei Stunden u. a. Dokumentationen, Interviews und einem Videoessay. Die Discs liegen in einer Softbox mit Pappschuber. Hinzu kommt ein 20-seitiges Booklet mit einem sehr lesenswerten Text von Marcus Stiglegger. Insgesamt ein sehr gutes Preis-Leistung-Verhältnis, was am besten gleich im Label-Shop für 20 Euro bestellt werden kann. Vielleicht ist auch diese Special-Edition bald vergriffen wie so manch schöne Edition aus dem Hause Bildstörung (POSSESSION, EL TOPO).

KOMM UND SIEH (1985)
© 1985 Mosfilm

Fazit

Selbst für Augenzeugen ist es schwer über das Kriegserleben zu berichten. KOMM UND SIEH gelingt es dennoch, weil sich der Film gerade nicht in die heldenhaften Schlachten stürzt, sondern die Sinnlosigkeit in all ihrer Grausamkeit darstellt, für Familien, Freunde und Mitmenschen. Der hohe Preis dafür ist die Kindheit des Protagonisten und die Stimmung der mitreisenden Zuschauer. Spätestens beim Abspann wird bewusst, dass die Einladung nicht freundlich gemeint war, sondern eine Aufforderung, die Zerstörung zu bezeugen, welche die apokalyptischen Reiter hinterlassen haben.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewKomm und sieh (1985)
OT: Иди и смотри
international: Come and See
Poster
RegisseurElem Germanowitsch Klimow
Releaseab dem 27.11.2020 in einer Special-Edition: Blu-ray oder DVD

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Trailer
BesetzungAlexei Krawtschenko (Fljora)
Olga Mironowa (Glascha)
Liubomiras Laucevičius (Kosatsch)
DrehbuchAles Adamowitsch
Elem Germanowitsch Klimow
KameraAlexei Rodionow
FilmmusikOleg Jantschenko
SchnittWalerija Belowa
Filmlänge146 Minuten
FSKab 16 Jahren

2 Gedanken zu „Komm und sieh (1985) – Filmkritik“

  1. Hätte ich die Blu-ray nicht schon gekauft, würde ich sie spätestens jetzt bestellen. Liegt in meinem Muss-ich-noch-gucken-Stapel direkt auf THE PAINTED BIRD. Ein Double-Feature schließe ich aber aus.

    Aber bitte: Restauration ist ein anderes Wort für eine Gaststätte oder die „Wiederherstellung früherer (z. B. durch eine Revolution beseitigter) gesellschaftlicher, politischer Verhältnisse“ [Duden], hat aber nichts mit der Wiederherstellung von Kunst- und Kulturgütern oder Möbeln zu tun. Ist das englische und sehr ähnliche „Restoration“ Schuld daran, dass man immer seltener von Restaurierungen liest?

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