„Die Einsamkeit des Killers vor dem Absch(l)uss“
Die Zeit, in der wir uns über abstrus desorientierend geschnittene Actionsequenzen im Hollywoodkino aufgeregt haben, ist langsam vorbei. In einer Zeit, in der Filme wie ALEX CROSS, QUANTUM OF SOLACE, THE LOSERS und natürlich der Zaunklettererkönig TAKEN 3 die räumliche Wahrnehmung einer ganzen Generation neu definierten, hatten geneigte Actionsfans nur ein paar Lichtblicke wahrzunehmen. Gareth Evans zeigte uns in den RAID-Filmen ziemlich eindrucksvoll, wie man Körper demolieren kann, Scott Adkins bewies, dass das hochwertige Actionkino mittlerweile eher im preisgünstigen Ostblock-B-Sektor zu finden war und dann erschien JOHN WICK (2014). Klar, auf den ersten Blick war das auch nur einer der weiteren, ewig tristen TAKEN-Epigonen, der dem in den 90ern etablierten und mit Liam Neeson perfektionierten Muster folgte: Garniere deinen high-concept Film mit einer gut aufgelegten Garde renommierter Charakterdarsteller und besetze einen nicht mehr ganz taufrischen Akteur in der Hauptrolle, bei dem man sich nicht mehr ganz sicher ist, ob seine besten Tage nicht schon hinter ihm liegen.
Die Geschichte des beruhestandeten Profikillers John Wick (Keanu Reeves), der erst seine Frau und dann durch den hochnäsigen Sohn (Alfie Allen) seines ehemaligen Auftraggebers (Mikael Nyquist) auch noch sein Auto und seinen Hund verliert, sorgte zwar für ein wenig Häme (paraphrasiert die Internetmeinung: „All das nur wegen eines Hundes, ha ha“), ehrlich gesagt erfrischte es aber im bereits schon 2014 komplett ironieübersättigten Kino die raue Verbissenheit, mit der das Regie-Duo Chad Stahelski und David Leitch ihren Killer auf seinen letzten Feldzug schickten. Eine im Mainstreamkino eigentlich schon verloren gegangene Ästhetik der Eleganz, die in ihren besten Momenten an Meisterwerke wie DER EISKALTE ENGEL (LE SAMOURAI, 1967) erinnerte und eine skizzierte Parallelwelt von Auftragskiller:innen mit mehr oder weniger nachvollziehbaren Regeln und Gepflogenheiten rundeten die in Teilen balletartige Inszenierung ab und machte JOHN WICK vollkommen verdientermaßen zum Überraschungserfolg, der mit JOHN WICK: KAPITEL 4 nun also die dritte Fortsetzung mit sich zieht. David Leitch verabschiedete sich bereits zum zweiten Teil vom Regiestuhl, um uns mit Werken wie DEADPOOL 2 und BULLET TRAIN zu quälen, Stahelski perfektionierte die Formel des ersten Teils. Die Wick-Fortsetzungen sind, was ihre Actioninszenierung angeht, natürlich über jeden Zweifel erhaben, über ihre inhaltliche Ausrichtung, die uns eine Welt, die eben im ersten Teil hervorragend als arbiträre Andeutung von Größerem funktionierte, mit jeder weiteren Erklärung aber einen Großteil ihres Faszinosums verlor und sich eher in Bereiche der Lächerlichkeit begaben, kann man geteilter Meinung sein. Auch mit Blick auf die 170 Minuten Laufzeit setzt man sich dann also etwas ängstlich in den Kinosessel, um einen halben 1900 später ehrfurchtsvoll anerkennen zu müssen. JOHN WICK: KAPITEL 4 ist wahrscheinlich der beste Teil der Reihe.
Es gibt natürlich so etwas wie eine Geschichte. Die begreift der Film selbst aber auch eher als notwendiges Übel, was seine größte Stärke ist. This year’s bad guy, Marquis de Gramont (Bill Skarsgård) terminiert das Continental Hotel in New York und um die Ehre seines väterlichen Mentors Winston (Ian McShane) wiederherzustellen, muss John Wick (Keanu Reeves) den gelackten Franzosen, der offensichtlich in Versailles lebt (?), zum Duell fordern, Effi-Briest-Style. Vorher sind aber noch ein paar Probleme zu lösen, als Exkommunizierter muss Wick erst noch seiner alten „Familia“ beitreten, bevor es zum alles entscheidenden Showdown am Sacré-Cœur de Montmartre kommen kann. Eine Reise, die ihn unter anderem nach Osaka und Berlin führt. Hier geben sich in Gastrollen, Menschen wie Clancy Brown, Hiroyuki Sanada, Scott Adkins, Sven Marquardt und Rina Sawayama die Klinke, oder eher die Kugeln und Fäuste in die Hände. Vervollständigt wird das zum Niederknien gute Ensemble von Wiederholungstäter Laurence Fishburne, der als Bowery King den ein oder anderen sardonischen Spruch auf den Lippen hat und Donnie Yen und Shamier Anderson, die als Caine und Tracker so etwas wie die Hauptantagonisten Wicks sind.
Alles ist Form und Stil in JOHN WICK: KAPITEL 4. Mehr als einmal zitiert Stahelski David Lean und Bernardo Bertolucci, auch ein gewisser Michael-Mann-Einschlag ist spürbar, wenn sich wortkarge Männer in weiten (Neon)Räumen gegenüber stehen und ein bisschen weniger als das Nötigste an Worten miteinander wechseln. Emotionen und langjährige freundschaftliche Verbindungen werden hier mehr behauptet und ausgesprochen als gezeigt, was sämtliche Akteur:innen, allen voran Hauptdarsteller Keanu Reeves aber auch von unnötigem mimischen Aufwand befreit. Reeves funktionierte immer als Oberfläche am besten, sei es in POINT BREAK oder MATRIX und hier ist er zum Maximum dessen mutiert. Ehrlich gesagt sind Worte auch einfach überflüssig, wenn Wick im nächsten sündhaft schönen, maßgeschneiderten Anzug auf der Bildfläche erscheint. Stahelski erzählt seine Geschichte nicht über Dialoge, er erzählt sie über die Kleidung der Figuren (man vergleiche etwa die Dekadenz des Marquis mit der schlichten Eleganz Wicks), über die Beschaffenheit der Innenräume und die Kampfstile der Figuren.
Durch den bereits im dritten Teil vorbereiteten Drehbuchkniff, aus der Killerparallelwelt die Hauptbevölkerung dieser Diegese zu machen (im vierten Teil erhält diese Parallelgesellschaft, die das Präfix Parallel eigentlich gar nicht mehr nötig hat etwa einen eigenen Radiosender und eine U-Bahnlinie), befreit man sich gekonnt von einem der Erbsünden des Actiongenres, dem, was man wohl zynisch „Kollateralschäden an Passant:innen“ nennen darf. „Unschuldige“ Mitmenschen, die durch die Todestänze der Killer:innen zu Schaden kommen könnten, gibt es schlichtweg nicht mehr. Die gesamte präsentierte Welt dient nur noch als Requisite für den nächsten großen Kampf.
Es ist JOHN WICK: KAPITEL 4 dabei immens hoch anzurechnen, über die fast dreistündige Laufzeit ein zwar enorm hohes, aber niemals ermüdendes Tempo zu halten. Dieser Film ist sogar einer der raren Leinwandwerke, die immer besser werden, je länger sie gehen. Spätestens, wenn das große Finale in Paris einsetzt und zu den wahrscheinlich besten 60 Minuten, die man jemals in einem Actionfilm gesehen hat, einsetzt, ist man unwiederbringlich gefesselt. Als Bonmot obendrauf gibt es mehr oder weniger subtile Einbindungen von dem ein oder anderen bereits erwähnten cineastischen oder literarischen Verweis (etwa einen höchst amüsanten Verweis auf den Sisyphos-Mythos, der in der Pressevorführung für Szenenapplaus sorgte).
„I do what I do best, I take scores“, fasste Robert DeNiro alias Neil McCauley 1995 in HEAT seine ganze Existenz zusammen. So etwas ähnliches kann man auch über JOHN WICK sagen. Denn auch, wenn der vierte Teil vielleicht so etwas ähnliches wie Absolution für ihn andeutet, so wissen wir doch, dass Männer wie Wick niemals wirklich fertig sind, dass sie immer weitermachen werden, weil sie nicht anders können. Selten lagen Tragik und Eleganz enger zusammen als in JOHN WICK: KAPITEL 4 und selten brauchte ein Film so wenig Worte, um so viel zu erzählen.
Titel, Cast und Crew | John Wick: Kapitel 4 (2023) OT: John Wick: Chapter 4 |
---|---|
Poster | |
Release | Kinostart: 23.03.2023 ab dem 27.10.2023 auf UHD, Blu-ray und DVD erhältlich. Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: |
Regisseur | Chad Stahelski |
Trailer | |
Besetzung | Keanu Reeves (Jonathan „John“ Wick) Ian McShane (Winston) Lance Reddick (Charon) Laurence Fishburne (The Bowery King) Bridget Moynahan (Helen Wick) Rina Sawayama (Akira) Bill Skarsgård (Marquis de Gramont) Hiroyuki Sanada (Shimazu) Scott Adkins (Killa) Donnie Yen (Caine) Shamier Anderson (Tracker) Marko Zaror (Chidi) Natalia Tena (Katia) Clancy Brown (Der Vorbote) |
Drehbuch | Michael Finch Shay Hatten |
Kamera | Dan Laustsen |
Musik | Tyler Bates Joel J. Richard |
Schnitt | Nathan Orloff |
Filmlänge | 169 Minuten |
FSK | ab 18 Jahren |