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#9 FLUXVergangenheitsblicke – John Schlesingers drei wichtigsten Filme

Anlässlich der soeben erschienenen, neu restaurierten Blu-ray von John Schlesingers ASPHALT-COWBOY (MIDNIGHT COWBOY, 1969) durch Arthaus präsentiere ich Euch lieben Lesern einen kostenlosen Ausschnitt meines Booklet-Texts zu Schlesingers DER FALKE UND DER SCHNEEMANN (THE FALCON AND THE SNOWMAN, 1985), der im letzten Jahr in einem schönen Mediabook via OFDb Filmworks erschienen ist. Das folgende Kapitel beschäftigt sich übergreifend mit den drei größten Filmen von John Schlesinger während der Phase des New Hollywood – voran ASPHALT-COWBOY – und wurde für diesen Artikel leicht überarbeitet.

Asphalt Cowboy (1969)
© STUDIOCANAL/ARTHAUS

ASPHALT-COWBOY (1969)

Schattenwelten: Erzählweisen in Filmen von John Schlesinger

John Schlesinger (1926-2003) fängt in seinen Werken stets die Grauzonen menschlichen Daseins ein. Sein filmisches Auge, die Kamera, ist primär auf die Dunkelstellen, auf die Schattenwelten urbaner Existenzen gerichtet. Fast immer behandeln seine Geschichten Außenseiter und/oder Verlierer. Ein reifes Verständnis von Sexualität, (Un-)Abhängigkeit und auch Gewalt wird in seinen sozialkritischen Themen durchgängig reflektiert und zeigt sich bereits in frühen britischen Produktionen Anfang der Sechzigerjahre wie NUR EIN HAUCH GLÜCKSELIGKEIT (A KIND OF LOVING, 1961) oder GELIEBTER SPINNER (BILLY LIAR, 1963). Jedoch war es sein erster US-amerikanischer Film ASPHALT-COWBOY (MIDNIGHT COWBOY, 1969), der Schlesinger schließlich international ins Rampenlicht rückte, obwohl – oder gerade weil – das Werk selbst explizit Randthemen behandelte. In den mutigen Anfangsjahren des New Hollywood entstanden, galt ASPHALT-COWBOY mit Erscheinen nicht nur als Paradebeispiel für die neugewonnene Macht und Freiheit der Regisseure in Amerika, sondern stellte zugleich einen der konsequentesten und am meisten erwachsenen Vertreter seiner Zunft dar. Mit seiner „nachhaltige[n] Kritik am amerikanischen Way of Life und der Gleichgültigkeit der Gesellschaft“[i] werden auch Prostitution und Drogen in all ihrer beklemmenden Form abgehandelt.

Asphalt Cowboy (1969)
© STUDIOCANAL/ARTHAUS
Asphalt Cowboy (1969)
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Joe Buck (der noch junge Jon Voight) kommt als motivierter junger Mann vom Land in die Stadt, um persönliche Freiheit und Unabhängigkeit zu finden. In Cowboystiefeln, mit Lederjacke und Hut personifiziert er noch zu Beginn der Erzählung gerade auch äußerlich den amerikanischen Traum. Doch ist die Metropole nicht das erhoffte Paradies, sondern die Hölle, ein dreckiger, dampfender Moloch, der seine Individuen verschlingt, durchkaut und auf der anderen, noch viel finsteren Seite wieder ausspuckt. Als junger, stattlicher Kerl lernt Joe die kalte Seele der Großstadt (New York) am eigenen Leib kennen. Um an Geld zu kommen, prostituiert er sich später, verrät seine edelmütigen Werte: anstelle seines erträumten Gigolo-Daseins tritt eine höchst freudlose Form des Gewerbes… Dass es letztlich keine Teufelsschmach ist, durch widrige Umstände ganz unten angekommen zu sein, das ist die große Stärke von Jon Voight. In den düstersten Szenen sehen wir Voight an der Seite von Dustin Hoffman, der nach Mike Nicholsʼ Kultfilm DIE REIFEPRÜFUNG (THE GRADUATE, 1967) für Schlesinger sein erstes wahres Meisterstück des Method Acting hervorbrachte. Hoffman spielt hier „Ratso“ Rizzo, einen zersetzten, drogensüchtigen Kleinkriminellen, der seine Freunde verrät und augenscheinlich die schlimmste Variante des Menschseins verkörpert. Auch zu dieser Figur findet Schlesinger Zugang – ebenso wie wir Zuschauer. Der vordergründig erbärmlich wirkende Zusammenhalt dieser zwei Loser in ASPHALT-COWBOY ist bei weiterer Betrachtung einer grandioser Zuspruch an Mitgefühl und Menschlichkeit, die jedes Individuum verdient, egal wie verdorben es zu sein scheint.

Asphalt Cowboy (1969)
© STUDIOCANAL/ARTHAUS

Das besondere an ASPHALT-COWBOY neben seinem mutigen, aufrüttelnden Thema war die Entscheidung, ausschließlich an Originalschauplätzen zu drehen. Um sein erwachsenes Thema auf Zelluloid zu bannen, reichten John Schlesinger nicht die künstlichen Schatten innerhalb von Studiobauten, er wollte the real thing. Es ging raus in die Großstadt, an schmutzige und verruchte Ecken. Ein glänzendes, kaltes Grau dominiert die Bilderwelt in ASPHALT-COWBOY – Straßenzüge, in die kein natürlicher Lichtstrahl einzudringen vermag, metallische Schlieren an Ecken und Wänden, das von Dreck und Ruß beschmierte Gesicht Hoffmans als Rizzo, Obdachlosigkeit, Krankheit und Armut in all ihren sichtbaren Ausprägungen. Zuletzt untermauert Schlesinger in seinem bis heute größten Film die Ausweglosigkeit des Verfalls bis hin zum Tod.

Asphalt Cowboy (1969)
© STUDIOCANAL/ARTHAUS

War EASY RIDER (1969) im selben Jahr ebenfalls aufrüttelnd und reif und handelte im Kern ebenso von Entfremdung und Isolation, gab es bei Dennis Hoppers Film noch genügend Aufhänger und zwischengeschaltete Bilder, die die Freiheit an sich dokumentierten. ASPHALT-COWBOY ist da ungemein konsequenter und ernüchternder und durch seine beiden Hauptfiguren, deren Charakterisierung tiefer greift, auch intensiver. ASPHALT-COWBOY wurde von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) relativ überraschend mit den drei bedeutendsten Oscars® prämiert: „Bester Film“, „Beste Regie“ und „Bestes Drehbuch“. Das war insofern bemerkenswert, als dass der Film bis heute der einzige Gewinner bleibt, der (als erster überhaupt) das berüchtigte X-Rating erhielt, also ausschließlich für Erwachsene freigegeben war. Zudem war er der erste Gewinner, der das Thema Homosexualität behandelte. ASPHALT-COWBOY bleibt in seiner enormen Wirkung ein zeitloser Klassiker, ein noch heute zutiefst bewegender Film. Neben Anderen orientierte sich auch der renommierte Paul Thomas Anderson in seinem Prachtstück BOOGIE NIGHTS (1997) hinsichtlich Grundstruktur und Intention stark an Schlesingers Film.

Asphalt Cowboy (1969)
© STUDIOCANAL/ARTHAUS

SUNDAY BLOOD SUNDAY (1971)

Sehr persönliche Geschichten

SUNDAY BLOODY SUNDAY (1971) gilt für mich als John Schlesingers persönlichstes und reifstes Werk, es ist das Kondensat seines Erzählens. In diesem bemerkenswerten Film wird eine Dreiecksgeschichte berührend aufrichtig und bewusst nicht sensationslüstern nachgezeichnet. Der homosexuelle Dr. Daniel Hirsh (Peter Finch), im Alltag praktizierender Arzt, genießt sein Liebesleben mit dem deutlich jüngeren Künstler Bob (Murray Head) im Verborgenen. Im Rahmen seiner jüdischen Gemeinde gilt er als angenehmer und angesehener Gefährte, der nach Ansicht Vieler scheinbar noch nicht die richtige Partnerin gefunden hat und als reifer Junggeselle lebt. Doch anstatt eine Enthüllungsgeschichte zu konstruieren, die auf den üblichen WhodunnitEffekt setzt, behandelt Schlesinger dieses komplexe, emotionale Thema als eine grundlegende, unverstellte Sache.

© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.

An den Zuständen von Hingabe und Reife ändert sich in Schlesingers feinfühligem Film wenig, wie etwa, dass die Story plötzlich plakativ-tragisch zum Negativem kippen könnte. In ihrem Inneren leben alle Figuren in Überzeugung, auch die diese Dreiecksbeziehung komplettierende Alex (Glenda Jackson), die ebenfalls mit Bob schläft. Keiner der Mitmenschen, Familie oder Freunde, übt absichtlich verheerenden Druck auf die Hauptfiguren aus, denn außer den Beteiligten weiß niemand von der bisexuellen Dreiecksbeziehung. Die Protagonisten – und das ist hier die große Stärke des Films – beschäftigen sich gar nicht mit der Frage, ob ihr Verhalten denn nun konform zur Allgemeinheit steht. Stattdessen widmen sie sich intensiv ihrem Gegenüber, versuchen diesen zu verstehen und nicht die Gesellschaft, die, wie in diesem Fall London, offensichtlich von der Weltwirtschaftskrise gebeutelt und dysfunktional erscheint. Gerade hier lebt SUNDAY BLOODY SUNDAY als wohl definitiver Film der Signatur „John Schlesinger“ aus inneren Motivationen und zurückgenommenen, nachhaltigen Momenten.

© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.

Wie bereits ASPHALT-COWBOY oder später DER FALKE UND DER SCHNEEMANN (THE FALCON AND THE SNOWMAN, 1985) schöpft auch dieser Film seine besondere Kraft aus den Figuren und deren ganz persönlicher Geschichte und nicht aus einem störenden Drumherum. Über eine telefonische Information der von beiden in Anspruch genommenen Agentur zur Partnervermittlung wissen sowohl Dr. Hirsh als auch Alex über die Leidenschaft des jeweils anderen zu Bob. Im „Finale“ des Films wird es auch keine unpassende, reaktionäre Läuterung geben. Alex und Dr. Hirsh begegnen sich zwar zuletzt noch persönlich und ungeplant, sind dabei jedoch höchst aufrichtig und freundlich zueinander, vielmehr noch: sie strahlen aus ihrem Inneren eine stille Zufriedenheit aus, wohl wissend, dass beide für den selben Menschen Liebe empfinden und die eigenen, anfänglichen Qualen der Eifersucht merklich überwunden zu haben. In diesem sehr persönlichen Spannungsfeld zwischen intimer Zweisamkeit, zwischen Abgrenzung, wenn Bob zu einem Zeitpunkt immer nur bei einem von beiden sein kann und der jeweils andere genau dies spürt, sowie dem damit einhergehenden Kampf um innere Verletzlichkeit bewegt sich dieser wunderbare Film.

© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.

John Schlesinger lässt sich niemals von Irrwegen eines möglicherweise skandalösen Stoffes ablenken (auch wenn einige Darsteller zunächst für die Rollen absagten, da sie den Film mit Pornografie verbanden). Stattdessen richtet er seinen Blick unbeirrt auf persönliche, innere Vorgänge: auf die Hoffnungen und Wünsche, aber auch auf die zwangsläufigen Zweifel der von allen Darstellern brillant gespielten Figuren. Der Film endet schön und einzig richtig auf der Bejahung zur Liebe, für wen auch immer man diese empfindet, und auf der Bejahung zum Leben selbst, egal wie „anders“ das eigene Leben nun erscheinen mag. SUNDAY BLOODY SUNDAY ist trotz seines ernst(haft)en Themas, das sich wie Schlesingers übrige Erzählungen vielfach in bestimmten, exakt zugewiesenen Räumen entfaltet, auch ein heller Film. Wo Schatten ist, ist auch Licht, anders geht es nicht. SUNDAY BLOODY SUNDAY ist ein filmisches Paradebeispiel zur Wechselwirkung von innen und außen, von dunkel und hell, von verborgen und frei. Gleichwohl manifestiert er das auch in Schlesingers übrigen Filmen beständig vorkommende Schlüsselmotiv der zwischenmenschlichen Kommunikation.

© Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.

DER MARATHON-MANN (MARATHON MAN, 1976)

Schmerzvolle Wahrheit

Auch DER MARATHON-MANN (MARATHON MAN, 1976), für den John Schlesinger wieder Dustin Hoffman für die Hauptrolle gewann, blickt durchgängig auf dunkle, unscheinbare Ecken des Individuums und der Gesellschaft. Nach ASPHALT-COWBOY (US$ 258 Mio.) der bis heute kommerziell erfolgreichste Spielfilm des Regisseurs (US$ 117 Mio.), bewegt sich DER MARATHON-MANN zunächst entlang eines bewährten Thriller-Schemas um Paranoia und drohende Gewalt. Im Verborgenen findet der Zuschauer im Laufe weitere Hinweise auf die (systematische) Zerstörung der menschlichen Seele. Auch hier stellen Mut und Integrität Schlüsselmotive dar. Eingefangen in Hoffmans perfektem mimischem und körperlichem Spiel wird der Zuschauer zusammen mit der Hauptfigur Zeuge einer Verschwörung, wie bereits der deutsche Titel zum Mittelteil von Alan J. Pakulas „Paranoia“-Trilogie zwei Jahre zuvor lautete.

© Paramount Pictures

Eine erzähltechnische wie auch grafische Steigerung führt gegen Ende des Films zu einer deutlichen Spürbarkeit der zunächst wiederholt angedeuteten Gefahr: die gedankliche Furcht des Protagonisten materialisiert sich zu einer realen, unabwendbaren Kraft der Gegenseite. Die Qual, die sichtbare Gewalt an der von Hoffman gespielten Figur am Ende des Films mag etwas zu offensichtlich, zu eindeutig und somit im Bruch mit der zuvor so sorgfältig entwickelten, komplexen Spannungslage des Narrativs wirken; gleichwohl betont sie John Schlesingers Konsequenz, auch in zutiefst schmerzlichen Momenten nicht wegzuschauen, nicht auszublenden, sondern unverfälscht und schonungslos das Tatsächliche zu zeigen – auch wenn es sich hier nach wie vor um filmische Ausdrucksformen des „Tatsächlichen“ handelt.

© Paramount Pictures

All diese Filme Schlesingers – und ich möchte möglichst alle Werke des Machers entdecken dürfen – entfalten in ihrem Verlauf eine unverstellte Sicht auf eine zunächst problematische, komplexe Wahrheit. Der Regisseur beherrscht einerseits den Umgang mit Fakten, mit klaren (Bild-)Informationen, beweist darüber hinaus aber auch große Sensibilität bei der Darstellung menschlicher Emotionen. Wenngleich stets inszeniert und in die Form des Unterhaltungsfilms gegossen, vermögen es Schlesingers Erzählungen durchaus, der westlichen Gesellschaft samt ihrer Normen und (oftmals falschen) Werte einen Spiegel vorzuhalten. Diese Spiegel sollen uns Betrachter nicht blenden sondern unmissverständlich, wenn auch oftmals unangenehm im Effekt, einen freien Blick ermöglichen. Schlesingers Schattenwelten sind keine Visionen im Sinne spektakulärer, überwältigender Bilder, sondern sie sind faszinierende Reflexionen seelischer Zustände. Seine Filme berühren uns Zuschauer durch den Sehnerv, intensiv, bis in die Tiefen unserer Herzen. Und sie lassen uns nicht mehr los.

© Paramount Pictures

© Stefan Jung

Quelle:

[i]     Aus: Asphalt-Cowboy. VideoWoche 02/1999.

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