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John Murphy – Filmkomponist | Portrait & Interview

„Murphy´s Weg – Eine Reise ins Herz von Hollywood und wieder zurück“

Prolog

Seine rockige Trance-Hymne In the House – In a Heartbeat aus 28 DAYS LATER läutete die medienweite Wiedergeburt der Untoten ein. Sein Adagio in D Moll aus SUNSHINE begleitete unzählige Trailer und Werbespots. Mit seinen pulsierenden Beats und elegischen Melodiebögen schuf er den perfekten Soundtrack für die neue „New Wave of British Cinema“ der frühen 2000er Jahre. Die enge Zusammenarbeit mit Danny Boyle und Guy Ritchie führte John Murphy schnell in die erste Reihe Hollywoods. Für den musikalischen Autodidakten ein faszinierender Schritt. Doch die Stadt der Engel wurde immer mehr zur Alptraumfabrik. Ihre einmal in Gang gesetzte Maschine kostete ihn fast das Leben und beendete eine große Freundschaft. Um nicht auch noch seine Familie zu verlieren, fällte er eine radikale Entscheidung.

Erste Schritte

Er war nie der klassische Komponist mit Partitur und Taktstock. Wenn Ennio Morricone „Maestro“ und John Williams „The Living Legend“ genannt werden, würde sich John Murphy „The Noisy One“ nennen. Mit „laut“ und „unruhig“ kann man auch seinen musikalischen Werdegang beschreiben. In einer Punkband folgt er als Bassist und Songschreiber zunächst dem rohen Freigeist der frühen Beatles.

„In Liverpool wächst man in der Regel nicht mit klassischer Musik auf. Hier dreht sich alles um Songs. Ich kreiere zwar immer wieder orchestrale Elemente für meine Musik, aber ich komponiere keine klassische Musik. Da ist oft erst ein Riff, vielleicht ein cooler Akkord oder ein interessanter Rhythmus. Auch wenn ich meine Stücke am Klavier weiterentwickle, entstehen sie erst einmal am Bass und am Schlagzeug. So hat alles begonnen und so funktioniert es für mich. Ich würde nie vorgeben, was ich nicht bin. Ich bin kein klassischer Musiker. Ich bin ein einfacher Bassist aus einer Punk Band. Das ist ziemlich cool. Und darauf bin ich stolz.“

Nach musikalischen Engagements bei der deutschen Synth-Pop-Band Propaganda und der britischen New Wave Band The Lotus Eaters, kommt es für John Murphy Anfang der 90er zu einer wegweisenden Begegnung. Er trifft auf zwei idealistische Filmemacher. Sie fragen ihn, ob er für ihren zukünftigen Film ein paar Songs schreiben könne. Davon ausgehend, dass die beiden das Projekt ohnehin niemals realisieren würden, sagt er spontan zu. Etwas später melden sie sich wieder bei ihm. Ihr Film sei fertig und warte nur noch auf die passende Musik. Ohne bisher auch nur einen Ton geschrieben zu haben, sagt er aus Verlegenheit dann auch gleich noch für den vakanten Score – für lau – zu. Da er und sein musikalischer Partner David Hughes überhaupt keine Ahnung haben, wie man Filmmusik schreibt, besorgen sie sich in der nächsten Buchhandlung ein Fachbuch zu dem Thema. Doch statt es intensiv zu studieren, beschäftigen sie sich ausgiebig mit ihren Lieblingsfilmen und deren Musik. Mit diesem autodidaktischen Ansatz besinnen sie sich schließlich auf ihre Erfahrung als Songwriter. So schreiben sie am Ende mehrere Songs, lassen bei einigen einfach den Text weg und hoffen, dass sie damit durchkommen. Völlig überraschend sind die Produzenten ob ihres „innovativen Ansatzes“ begeistert. So entsteht mit dem mehrfach ausgezeichneten LEON THE PIG FARMER (GB, 1992, Regie: Vadim Jean, Gary Sinyor) nicht nur die erste Filmmusik von John Murphy, sondern auch seine musikalische Visitenkarte für weitere Projekte. Das Fachbuch hat er bis heute nicht gelesen.

Guy Ritchie

Direkt mit ihrem zweiten Score arbeiten er und Hughes mit einem der aufstrebenden Talente des britischen Kinos zusammen. Für Guy Ritchie treffen sie in LOCK, STOCK & TWO SMOKING BARRELS (BUBE, DAME, KÖNIG, GRAS, 1998) und SNATCH (2000) genau den dreckigen und backbeat-verspielten Britpop-Geist, den dieser sich für seine rohen Gangsterballaden wünscht. Mit ihrer Erfahrung als Punk- und Rockmusiker schaffen sie eine perfekte Verbindung zu den ausgewählten Songs des Soundtracks.

Harte Gitarrenriffs, trockene Beats und tranceartige Elektrosounds öffnen Murphy dann schnell die Türen für weitere Projekte. Sein unverkrampfter Umgang, sich über Populärmusik und die Adaption bestehender Stücke einen eigenen Zugang zu klassischer Filmmusik zu erarbeiten, lässt auch Hollywood aufhorchen.

Obwohl er nie Noten lesen gelernt hat, bewegt sich John Murphy mit seinen eher leisen, melancholischen Arbeiten zu Stephen Frears historischem Sozialdrama LIAM (2000) und dem Cop-Thriller CITY BY THE SEA (Michael Caton Jones, 2002) bereits melodisch selbstbewusst zwischen Dave Grusin und Ennio Morricone. Der „Noisy One“ kann nicht nur laut.

Danny Boyle

Im gleichen Jahr kommt es mit 28 DAYS LATER zur ersten Zusammenarbeit mit Danny Boyle. Sie ringen gemeinsamen um den richtigen Klang für die verstörende Zombiedystopie. Dieses Ringen wird sie bei ihren weiteren, gemeinsamen Filmen begleiten.

„Danny ist großartig! Er ist sehr leidenschaftlich und klug in der Suche nach der richtigen Musik für seine Filme. Dabei muss er noch nicht einmal genau wissen, welche Art von Musik es sein soll. Er weiß aber immer, was der Zuschauer an einer bestimmten Stelle mit der Musik erleben, was er fühlen soll. Dabei vertraut er Dir als Künstler und drängt Dich nicht in eine bestimmte Richtung. Danny wurde darüber hinaus zu einem guten Freund. Immer wenn es möglich war, haben wir uns in L.A. getroffen. Wir lieben Fußball und haben die gleiche rockige Attitude. Und: ich habe meine Frau durch ihn kennen gelernt.“

Doch die enge Freundschaft zwischen den beiden Freigeistern aus Liverpool wird mit der Zeit auf eine harte Probe gestellt.

Tretmühle Hollywood

Murphy jagt nun rastlos von Projekt zu Projekt. Da er nicht „Nein“ sagen kann, jongliert er zwischenzeitlich mit drei Projekten gleichzeitig. Seine Arbeit wird immer mehr zur selbstzerstörerischen Droge, sein Studio zu einem endlosen Tunnel ohne Tageslicht. Darunter leidet nicht nur seine Inspiration. Denn nicht jede Aufgabe bietet ihm die kreative Freiheit, die er von Boyle gewohnt ist. Einschränkende Vorgaben und der immense Zeitdruck rauben ihm die Kraft, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren.

Michael Mann

Highlights wie die Arbeit mit Michael Mann an MIAMI VICE lassen ihn die drohende Katastrophe nicht erkennen. Der Mitentwickler der gleichnamigen TV-Serie, auf der ihr gemeinsames Projekt basiert, gilt im Umgang mit Tonkünstlern als schwierig. Da er viel mit bereits bestehenden Songs und Instrumentalstücken arbeitet, entsteht der Eindruck, dass er seinen Komponisten nicht vertraut. Doch Murphy ist als Rockmusiker genau dieses collagenartige Arbeiten gewohnt. Er liebt die Herausforderung, sich auf die Vision eines Regisseurs einzulassen. Dabei muss er seinen eigenen Anspruch oft zurückstellen.

„Auch wenn du ihn nicht immer verstehst und nicht immer seiner Meinung bist, kannst du ihm vertrauen. Hey, es ist Michael Mann. Schau dir seine Filme an. Er ist ein Genie!“

Es bleibt die einzige Zusammenarbeit zwischen den beiden. Doch John Murphy hat kein Problem damit. Außer Elliot Goldenthal hat kein Komponist zweimal für Michael Mann gearbeitet.

„Elliot ist einer der am schnellsten arbeitenden Komponisten in Hollywood. Als ich zum ersten Mal sein ALIEN 3 gehört habe, konnte ich es nicht glauben. Oh, mein Gott! Es hat mich weggeblasen. Dieser Reichtum an Texturen für ein komplettes Orchester! Wenn ich meine Seele verkaufen könnte, hätte ich gerne dieses Können. Er ist der Größte aller modernen Komponisten!“

Murphys Bewunderung für das musikalische Genie des klassisch ausgebildeten Musikers beweist seine bescheidene Selbsteinschätzung. Gleichzeitig steht er dabei aber auch selbstbewusst zu seinen eigenen Fähigkeiten. Er weiß, was er kann und wie er es erreicht. Er möchte keinem Vorbild oder bestimmten Stil folgen. Genau daran kranke auch der aktuelle Trend im amerikanischen Film.

John Murphy
Foto: Almut Elhardt im Rahmen der Soundtrack Cologne 2019

Er hat seinen Weg gefunden. Statt sich stundenlang vor leeren Notenblättern oder virtuellen Timelines zu quälen, geht er lieber raus oder kocht sich einen Tee. Doch diese natürliche Achtsamkeit ist nur mit Abstand möglich. Abstand zur Arbeit, Abstand zu sich selbst. Den hat er als gehetzter Workaholic zwischenzeitlich verloren. Darunter leiden besonders seine Kinder.

„Meine Kinder haben mir schließlich kleine Briefe unter meiner stets verschlossenen Studiotür hindurch geschoben, auf denen sie mich fragten, ob ich sie noch liebhabe.“

Erst später wird John Murphy erkennen, dass ihm seine Kinder wichtiger sind als zermürbende Fließband-Scores, die er seinem inspirationslosen Körper mühsam abringen muss. Doch wie so oft braucht es mehr als einen Auslöser, um zu erkennen, dass der eingeschlagene Weg direkt ins Verderben führt.

Während seiner Arbeit zu SUNSHINE bricht er zusammen.

„Ich hatte eine doppelte Lungenentzündung. Beide Flügel funktionierten nur noch zu 50 %. Ich war also ernsthaft krank. Doch statt zum Arzt zu gehen, habe ich mein Studio zur Quarantänestation umfunktioniert, so lange es ging, um den Score fertigzustellen. Schließlich bin ich kollabiert und musste ins Krankenhaus. In ein Krankenhaus, was es so nur in Hollywood geben kann. Lustige Geschichte: Als der Arzt mich dort sah, wollte er mich natürlich gleich dabehalten. Als ich ihm aber sagte, dass das nicht ginge, da ich am neuen Danny-Boyle-Film arbeite, pumpte er mich mit Medikamenten voll und schickte mich tatsächlich wieder nach Hause. (lacht)“

Doch sein riskanter Einsatz hat einen zu hohen Preis. Der ständige Druck macht ihn unsensibel. Seine körperliche Erschöpfung lässt keinen Raum mehr für andere und ihre Probleme. Dieser fehlende Raum lässt ihn und Danny Boyle während ihrer gemeinsamen Arbeit zu hart aneinanderstoßen. Daran ist ihre Freundschaft bis heute zerbrochen.

„Der Bruch mit Danny ist das, was ich in meinem Leben am meisten bedauere. Wir sind beide daran nicht unschuldig. Ich habe in der Zeit verkannt unter welchem immensen Produktionsdruck Danny stand. Und er wusste nicht wie krank ich war. Ich habe härter für Danny gearbeitet als jeder andere. Wäre ich gesund gewesen, hätte ich aus heutiger Sicht anders reagieren sollen. Doch am Ende haben wir beide Dinge gesagt, die wir nicht hätten sagen sollen. Einfach zwei große Arschlöcher.“

Seitdem gibt es auch das Regie-Komponisten-Duo nicht mehr. Für 28 WEEKS LATER waren beide zwar an Bord, aber Danny Boyle nur noch als Produzent. Doch der Verlust des Freundes wiegt schwerer als gemeinsame Filmprojekte. Murphys Versuche auf eine Aussöhnung, blieben bisher ungehört.

„Das ist Danny! (lacht) Doch nur für die Akten: Ich liebe ihn immer noch und würde sofort wieder mit ihm arbeiten. Für mich ist er der beste Regisseur. Wenn er jetzt hier wäre, würde ich ihn umarmen.“

Es folgen noch einige Projekte, die dann mit dem fulminanten KICK-ASS (2010) ihren Abschluss in der Welt der bewegten Bilder finden. Hier ist er zusammen mit Henry Jackman, Ilan Eshkeri und Marius de Vries Teil einer Art Komponisten-Band. In gewisser Weise eine Rückbesinnung auf seine Anfänge als Musiker. Jeder bringt seine Stärken in das Projekt mit ein. John Murphy lässt hier zum letzten Mal seine typischen Punkrocksound erklingen. Hier hören wir auch noch einmal sein In the House – In a Heartbeat. So schließt er in gewisser Weise selbst den Kreis seiner erfolgreichen Arbeit. Mehr kann und will er nicht mehr geben.

Rückzug

Er hört von jetzt auf gleich auf und zieht sich komplett ins Privatleben zurück. Zusammen mit seiner Familie geht er zurück nach England und wird zum Hauslehrer seiner Kinder. Hier findet er langsam wieder zu sich selbst zurück. Mit dieser neuen Freiheit hat er Zeit sein eigenes Studio zu bauen. Dort kann wieder aus reinem Spaß an kleinen, persönlichen Trip-Hop-Projekten arbeiten.

Das Comeback

Mit dem Soundtrack zur BBC Serie LES MISÉRABLES kehrt er nun nach seinem selbsttherapeutischen Sabbatical zurück. Auf Wunsch der Produzenten und anders als man es von dem historischen Stoff erwarten würde, klingt die Musik im Film in Teilen nach John Murphys musikalischen Anfängen. Hier verbindet sich sein rockiger Sound vergangener Tage mit neuen, experimentellen Folk-Streichern. In Stücken wie SCAVENGERS oder LA CHAUMIÈRE hören wir die Lust an seiner wieder genesenen Kreativität. Die Mischung aus stimmig gesetzter Elektronik und einer alten, leicht verstimmt klingenden, keltischen Geige lassen seinen alten Punkgeist wiedererkennen. Ergänzt um stille Pianoklänge, scheint „The Noisy One“ seinen Weg wieder gefunden zu haben. Er hat wieder Lust auf Film.

Epilog

John Murphy´s Weg ist ein Beispiel für die Vielseitigkeit von Filmmusik und wie sie entstehen kann. Nirgendwo sonst treffen Klassik, Jazz, Rock, Elektronik, Folklore und Neue Musik so kreativ auf- und ineinander wie bei der dramatischen Untermalung eines Films. Leider kommt es dann schnell zu Misstönen zwischen klassischer Musikerziehung und natürliche Musikalität. Doch genau diese sollten sich durch das Medium Film eigentlich in harmonischer Kreativität auflösen. Denn vor allen stilistischen Entscheidungen steht immer erst die Story und die Botschaft hinter den musikalisch zu unterstützenden Bildern.

Sein Weg ist auch eine Mahnung. Eine Mahnung an alle, die glauben nur durch völlige Selbstaufgabe die eigene Kreativität immer wieder aufs Neue erzwingen zu können. John Murphy hat gezeigt, dass es auch anders geht. Willkommen zurück!

John Murphy
Andreas mit John Murphy

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel der kommenden Ausgabe des Filmmusik-Magazins CINEMA MUSICA.

© Andreas Ullrich

Fotos: Almut Elhardt, Andreas Ullrich im Rahmen der Soundtrack Cologne 2019

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