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Inside (2023) – Filmkritik

„Robinson Christo“

Damals eine Überraschung und vielleicht Ideengeber für diesen Film: Marc Pitzke schrieb am 31.01.2016 auf Spiegel-Online über Manhattan als Geisterstadt. Luxuswohnungen in New York werden immer mehr zur Geldanlage für reiche Investoren. Jedes dritte Apartment steht nach der Aussage des Artikels mindestens 10 Monate im Jahr leer. Es lässt sich leicht vorstellen, dass neben den Investoren auch reiche Immobilienbesitzer nicht das ganze Jahr in ihren Multimillionen-Dollar-Wohnungen leben. Das Strandhaus in Malibu, die europäische Stadtwohnung und die Ski-Villa in Aspen wollen auch besucht werden. Unmengen an hochpreisigen Quadratmetern stehen im urbanen Raum meistens leer, verbrauchen Energie und sind voll mit Designermöbeln und Kunstwerken. INSIDE von Vasilis Katsoupis sperrt einen Kunstdieb in ein solches Edel-Penthouse mitten in der Skyline New Yorks ein. Klingt auf den ersten Moment unerheblich, wird aber schnell zum Überlebenskampf und zur Parabel der Menschheit in Zeiten des gierigen Kapitalismus.

© SquareOne/Steve Annis

Handlung

Es sollte ein leichter Coup sein. Ein Luxus-Penthouse hoch oben über New York ist voll von Kunstwerken. Profidieb Nemo (Willem Dafoe) nutzt die Abwesenheit des Besitzers, um drei handliche Gemälde zu stehlen, die Millionen wert sind. Mit dem unbemerkten Einbrechen gelingt es tadellos, jedoch nicht wieder mit dem Ausbrechen. Der Alarm ertönt, ein Systemfehler lässt die smarte Immobilie digital crashen und Nemo sitzt in der Falle. Die Kommunikation nach draußen ist lahmgelegt und keiner bekommt davon etwas mit. Das königliche Leben in diesen Räumen könnte ein Leichtes sein, jedoch gibt der Kühlschrank kaum Essbares her, das Wasser ist abgestellt und außerdem hat die Lüftung eine Fehlfunktion. Die Temperaturen klettern stetig Richtung 40 Grad und darüber hinaus.

© SquareOne/Steve Annis

Räume

Ein Kammerspiel ist der korrekte Genrebegriff, aber die Räumlichkeiten werden der Definition „Kammer“ nicht gerecht. Es ist eher ein tödliches Spiel in einer Kathedrale aus kaltem Sichtbeton, schnittigen Räumen und dunklen Farbtönen, das Man Cave eines Supereichen mit Faible für zeitgenössische Kunst. Genauso gern man den Protagonisten kennenlernen will, so sehr will man auch den wahren Bewohner kennenlernen – man muss jedoch genau hinschauen. Ein Selbstportrait zeigt ihn vor seiner Couchlandschaft mit Abstand zu seinem Hund und noch viel mehr Abstand zur unglücklich dreinschauenden Tochter. „The Owner“ wird wie ein Geist über Nemo wachen, der versucht auf den Hunderten von Quadratmetern zu überleben. Schnell wird klar, wenn man mehrere Tage in einem Käfig verbringt, möge er noch so teuer und großräumig sein, ohne Wasser, Essen und Gesellschaft, dann ist der Tod nur eine Frage der Zeit.

© SquareOne/Steve Annis

Hauptdarsteller

Das Schauspiel von Willem Dafoe braucht kaum noch Lobeshymnen, aber auch mit INSIDE geht er an die Substanz seiner Schauspielerei und seines Publikums. Betont physisch, zeigt Dafoe einen Nemo, der schwitzt, kämpft, heult und schei… . Gegen seine Darstellerkunst treten die Kunstwerke im Raum an wie Drucke, Zeichnungen, Fotografien, Videoinstallationen und Skulpturen. Manche werden zu Handwerksmitteln, zerstört oder praktisch genutzt. Gegen einige strebt Nemo reinen Vandalismus an, was INSIDE zu Beginn noch zu einem anarchischen Vergnügen eines Polterabends verwandelt. Einige Werke bleiben aber länger im Kopf und sind metaphorisch aufgeladen. Markant dafür ist Adrian Pacis „Centre of temporary permanence“ (Filmstill, 2007) zu sehen. Auf der großformatigen Fotografie steht eine Menge Menschen dicht gedrängt auf einem leeren Flugfeld ausschließlich auf einem Gateway. Ohne ein Flugzeug warten sie wie die Lemminge auf etwas, ohne zu wissen, dass sie bereits verloren sind.

© SquareOne/Steve Annis

Zukunftsvision

INSIDE zeigt zuallererst, welche große Kluft zwischen den oberen 1 % Prozent und dem Rest der Welt klafft. Während anderswo Menschen kilometerweit bis zum nächsten Brunnen laufen müssen, bekommen Palmen in Hunderten Metern Höhe automatische Wasserzufuhr. Stühle an Esstischen sind so viel wert wie ein Großteil auf diesem Planet nicht einmal im Jahr verdient. Und Willem Dafoe zerstört es, um sein eigenes Kunstwerk zu erschaffen. Er erbaut eine Art Turm aus Trümmerteilen der Dekadenz, die ihm die Flucht zum Oberlicht ermöglichen soll. Doch es wird ein langer qualvoller Prozess.

Vielmehr ist INSIDE ein Statement, ein Fingerzeig in die vernichtende Richtung auf die die Menschheit zusteuert. Eine Materialschlacht für überteuerte Statussymbole, die ohne Leben sind. Was nutzt Wohlstand, wenn Wasser und Essen fehlt? Was nutzt die cleverste Technik, wenn man sie nicht reparieren kann und davon abhängig ist? Was nutzt eine Wohnung in den Wolken, wenn der Kühlschrank leer ist?

Die Kunst hinter der Kunst hinter dem Künstler

Der Film ist neben seinem Psychothriller-Survival-Filmcharakter auch eine audiovisuelle Tour durch eine Kunstausstellung. Regisseur Vasilis Katsoupis arbeitete mit Kunstkurator Leonardo Bigazzi zusammen und beide sammelten Werke, die entweder den Charakter des Penthouse-Eigentümers darstellen oder die Situation des „Vogels im goldenen Käfig“ beschreiben. Manche Werke wurden extra in Auftrag gegeben, wie zum Beispiel das Selbstportrait des Eigentümers. Jeder kennt das Gefühl, wenn man zum ersten Mal bei jemand anderem Zuhause ist. Man entdeckt Objekte, die vielleicht die Persönlichkeit unterstreichen oder völlig neue Perspektiven aufzeigen. Im Falle von INSIDE entwickelt sich die Wohnungsdurchsuchung zu einem Pharaonengrab, was in dem geheimen Raum hinter dem Kleiderschrank noch auf die Spitze getrieben wird. Manche Kunstobjekte dienen als Lichtblick in diesem dunklen Psychotrip, manche unterstreichen aber auch die Sinnlosigkeit von Kunst im Angesicht des Überlebenskampfes.

© SquareOne/Steve Annis

Zur Weltuntergangs-Metapher hinterfragt INSIDE noch viel mehr das Wesen von Kunst als solches. Was macht Kunst aus? Muss es Wert haben oder aus etwas Wertigem bestehen? Oder reicht es, wenn die Nachfrage ausreichend hoch ist, damit der Wert in die Höhe schnellt? Einbrecher Nemo ist ebenfalls künstlerisch veranlagt und gelangt sogar in einen spirituellen Strudel, dem er sein Überleben anvertraut – nicht ohne psychischen Dachschaden davonzutragen. In den endlosen Tagen der Gefangenschaft ohne Kommunikation wird Nemo selbst zum Künstler. Er zeichnet in seinem Notizbuch, hinterlässt Bilder auf den kahlen Wänden und philosophiert über die Frage, welche drei Gegenstände er aus seiner Wohnung retten würde, wenn sie brennen sollte.

Fazit

Ein enorm starkes Regiedebüt für den Regisseur, was er auch seinem Hauptdarsteller zu verdanken hat. INSIDE lässt sich von einer Vielzahl von Standpunkten betrachten und weist starke interpretative Substanz auf. Jedoch verliert das letzte Drittel sämtliche Verbindungen zum Leben an sich und wird zu einem nihilistischen, steifen Kunstwerk, was die Hauptfigur eigentlich die ganze Zeit verteufelt. Nachdem noch die These, dass Schöpfung nur aus Zerstörung entstehen kann, einem um die Ohren gehauen wird, ertönen schon die deprimierenden Klänge der Band Radiohead zum Abspann. INSIDE ist spätestens dann selbst zu einem Kunstwerk geworden, was in Privatbesitz gesperrt wurde und nie wieder von der Öffentlichkeit bereitwillig wahrgenommen werden will.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewInside (2023)
Poster
RegieVasilis Katsoupis
ReleaseKinostart: 16.03.2023
Trailer
BesetzungWillem Dafoe (Nemo)
Gene Bervoets (Besitzer)
Eliza Stuyck (Jasmine)
DrehbuchBen Hopkins
KameraSteve Annis
MusikFrederik Van de Moortel
SchnittLambis Haralambidis
Filmlänge105 Minuten
FSKAb 12 Jahren

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