„Im Westen was Neues“
Edward Bergers Neu-Interpretation von Erich Maria Remarques weltberühmtem Roman Im Westen nichts Neues (1928) geht eigene Wege und macht meiner bescheidenen Meinung nach sehr Vieles richtig. Wer hier auf eine vorlagengetreue Verfilmung hofft, wird enttäuscht werden – aber das müssen Filme ja gar nicht, sich also en Detail an den Urtext klammern und hoffen, es den Puristen recht zu machen. Interessant ist doch die Form der eigenen Interpretation, und wie bzw. in welcher Weise diese als gelungen bezeichnet werden kann. Wenn man Bergers Film gesehen und vielleicht zudem noch den nun verfügbaren Audiokommentar des Regisseurs gehört hat, so darf man festhalten: Die Macher haben sich intensiv mit dem zugrundeliegenden Stoff beschäftigt. Sie präsentieren eine neue, aber im Geiste sehr der Vorlage verbundene Version des Kriegsschreckens an der Westfront. Nun kurz zur Ästhetik des Films selbst.
IM WESTEN NICHTS NEUES (2022) beginnt – nach zwei mythischen Naturbildern, eines davon zeigt mittels kurzem, gelungenem Einsatz von CGI das familiäre Innere eines Fuchsbaus, wohlig und geschützt vor dem Grauen da draußen – wie ein Gemälde. Wir erblicken ein Tableau, auffällig zweidimensional eröffnet sich für uns ein Stillleben des Krieges, wenn aus totaler Vogelperspektive (mittels Kamerakran) langsam auf den toten Boden gezoomt wird. Zunächst nur als dunkle, monochrome Masse wahrnehmbar, deutet sich an, was der als junger Mann im Ersten Weltkrieg kämpfende Otto Dix später mit „Flandern“ (1934-1936) gemalt hatte: Die Überbleibsel von Menschen und Material sind mit der ebenso zerstörten Natur zu einer einzigen abgestorbenen Menge verschmolzen. Hier herrscht anfangs völlige Stille in Bergers Film, der bedächtige Zoom auf das allmählich zu Erkennende verstärkt nachhaltig die Unausweichlichkeit der gezeigten Situation. In Nähe des Bodens reißen plötzlich Bild- und Toneffekte diese statische Flächigkeit auseinander. Durch die Einschüsse, die nun auf die bereits toten Körper prasseln, durch den Lärm der Maschinengewehre, der die angespannte Ruhe in der Luft brutal zerreißt, wird das Bild auf gewaltsame Weise lebendig, plastisch, räumlich, und schließlich hebt auch die Kamera kurz vor Boden ihren Blick und schaut zusammen mit uns auf das (erneut) bevorstehende Grauen. Der Kampf zwischen den Schützengräben an der Front geht in die nächste Runde. Im Westen nichts Neues.
Die folgende durchgestaltete Plansequenz zeigt einmal in aller Wirkung, worauf Regisseur Edward Berger und sein Team bei dieser Neuverfilmung besonders Wert gelegt haben: Das unausweichliche Grauen, diese abermals zu wiederholenden Manöver in diesem, dem intensivsten Stellungskrieg der Geschichte über die Rezeption am Körper der Zuschauer geradezu schmerzhaft spürbar zu machen. Dieser Film ist hart, beanspruchend, die Bilder sollen wehtun, und in den folgenden über zwei Stunden wird dies immer und immer wieder durchgespielt, bis die Figuren (der Österreicher Felix Kammerer in der Rolle seines noch jungen Lebens) am Ende nur noch als entleerte Zombies umherwandeln, willenlos den Befehlen der Obrigkeit folgend, bis sich der Boden der Champagne noch mit dem letzten Tropfen menschlichen Blutes vollgesaugt hat. Die darauffolgende Plansequenz zeigt aber auch, wie präzise Berger & Co. den Begriff vom „Menschenmaterial“ verstanden haben, der schon Remarques Roman prägte, und der in der Zeit um seine Entstehung von Walter Benjamin oder Immanuel Kant diskutiert wurde, die sich u. a. kritisch mit dem Wesen und der Ästhetik des Krieges auseinandersetzten. Bereits die erste Verfilmung (1930) verdeutlichte dies eindrücklich, als die Filmtechnik die Kriegstechnik in eindrücklichen Bildern einfing und auf künstlerische Weise verstärkte. Die filmischen Produktivkräfte wurden mobilisiert, um die Mobilisierung der kriegerischen Produktivkräfte darzustellen.
Der Mann, der menschliche Kriegskörper, er verkommt zum Material, wird de-personifiziert, als reine Waffe missbraucht. Die ihn begleitende und umgebende Technik – konsequent inszeniert der neue Film Flammenwerfer, Gas und Panzer als barbarische Werkzeuge eines nun hochtechnisierten Krieges – sind in ihrer Funktion bedeutsamer als der einzelne Mensch. „Es geht nie um den Einzelnen, sondern immer nur ums Ganze“ zementiert ein Zitat im neuen Film diese fatale Gewissheit. Anstatt mittels der damals revolutionären Technik Gutes zu tun, Boden nachhaltig fruchtbar zu machen, Gesundheit und Wohlstand zu fördern, wird diese eingesetzt, um zu zerstören. Spätestens ab diesem Punkt war der Mensch der Maschinerie für ewig Untertan. Und wenn Berger noch zu Beginn eindrücklich den kompletten Kreislauf der Soldatenbekleidung inszeniert, wird die Bedeutung des Menschen als Material in immer wieder verwertbaren Hüllen umso klarer. Am Ende wird, wie bereits erwähnt, der menschliche Körper selbst zur Hülle.
„Der imperialistische Krieg ist ein Aufstand der Technik, die am ‚Menschenmaterial‘ die Ansprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches Material entzogen hat.“
– Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), Nachwort „Ästhetik des Krieges“, S. 468
All dies, die schnelle Rekrutierung des Paul Bäumer (Kammerer) mit Kameraden, deren systematischer Gang ins Gefecht, dann – der Großteil der Erzählung – das blanke Ausharren und Überleben im Schützengraben, wird in der Folge als schonungslos ehrliches Kriegsepos ohne Pathos, stattdessen voller Ernüchterung vorangetrieben. Der Brite James Friend führt die Kamera souverän in den actionreichen wie ruhigen Sequenzen, der atmosphärische Ambient-Score von Volker Bertelmann „zerstört“ manch unschuldiges Bild, wie der Regisseur im Audiokommentar anmerkt und schafft im Gesamten eine durchweg beklemmende Klangebene, die vom perfekten Tondesign (reduzierte MG-Salven als Klang von Nähmaschinen) stets unterstützt wird. „Das Sounddesign ist wie der gesamte Film eine bewusste Zumutung und bietet dem Zuschauer und Zuhörer kaum eine Ruhepause“, so Produzent Malte Grunter („Ein Ergebnis kollektiver Arbeit“, in: BlickpunktFilm, 25.1.2023).
Dann das Make-up, das sich über den ganzen Film und die zutiefst körperlichen Sequenzen in immer neue Ausmaße stürzt; dann die sorgfältige Kostümgestaltung, für gefühlt jedes Stadium der Versehrtheit in eigener Ausführung; zuletzt wird die gesamte Bilderwelt dank der hervorragenden Montage von Sven Budelmann in einen überzeugenden Guss gebracht. Wer nun zynisch anmerken möchte, die Schauspieler würden ja ähnlich dem Menschenmaterial im Krieg zum Zwecke einer großen (Film-)Maschinerie missbraucht, der irrt. Wenn der gesamte Film bereits aktiv am arbeiten ist, so hauchen erst die pointierten menschlichen Momente der Erzählung das nötige Leben ein: die trügerische Motivation zu Beginn, etliche kürzere und längere Abschiede, schicksalhafte Lausbubenstreiche als Metapher für universale Hilflosigkeit, und selbst das etwas steif inszenierte Treffen der Führungskräfte, das im Hintergrund auch den Ansatz für die spätere „Dolchstoßlegende“ legt, mit einem gewohnt souverän aufspielenden Daniel Brühl als politischen Funktionär, der feine Nuancen von Menschlichkeit und Demut inmitten des allgemeinen Wahnsinns durchscheinen lässt.
Obwohl von/für Netflix produziert, lief der Film – im hackesche höfe Kino Berlin zuletzt gar exklusiv von 35mm – in ausgewählten Lichtspielhäusern. Er wurde seit seiner ersten Ankündigung als großer Film behandelt und entsprechend vermarktet, und das tut, seien wir ehrlich, einfach mal verdammt gut, anstatt dass er beliebig im Algorithmus des selbstgewählten Streaming-Portals versauert, ohne seine wahre Kraft entfalten zu können. Der Verleih capelight bringt ihn nun auch in den Vereinigten Staaten in die Kinos, bei den Oscars hat er von 9 Nominierungen ganze 4 Preise geholt. In dieser Dimension ein Novum für einen deutschen Film, selbst ähnlich große Erfolge, die weltweit das Feuilleton beherrschten, gab es bisher ein-, höchstens zweimal pro Dekade. Daniel Brühl bezeichnet IM WESTEN NICHTS NEUES im Making-of ohne falsche Bescheidenheit als „großartiges Geschenk“ für den deutschen Film, und man ist geneigt, ihm bedingungslos Recht zu geben.
Das Mediabook von capelight pictures
Wenn der Film nun bereits in den Kinos läuft, kommt noch die erfolgreiche Verwertung als physisches Heimkino-Medium obendrauf. Der Verleih capelight spendiert nach ihrem imposanten Box-Set zum Original von 1930 nun auch Bergers Neuverfilmung ein hochwertiges Mediabook mit UHD und Blu-ray. Insbesondere die UHD wird dem technischen Standard dieser kochkarätigen Produktion gerecht, wenn das Bild in allen Nuancen der Dunkelheit und Abstufungen des Kriegsmaterials „erstrahlt“ und Score und Tondesign als überwältigende Einheit in DTS Master Audio durch die Boxen und das Wohnzimmer strömen, sodass man wirklich glaubt, sich mitten im Feuergefecht zu befinden. Die technischen Komponenten sind also über die Dinge erhaben, nur Kino ist natürlich besser.
Sehr schön auch, dass am Bonusmaterial nicht gespart wurde, welches für Manche sicherlich noch ausführlicher hätte ausfallen können, in seiner Gesamtheit aber wunderbar die Möglichkeiten des Mediums Mediabook aufzeigt. Eigens für diese Edition hat Regisseur Edward Berger einen – seinen ersten – Audiokommentar eingesprochen, und zwar auf Englisch, der dann wahlweise auf Deutsch untertitelt werden kann. In 140 Minuten erzählt er szenenspezifisch und motivisch viel Wissenswertes über seine Produktion, von der Idee bis zur Umsetzung in allen Facetten. Natürlich ist dieser Audiokommentar (eines Machers) bisweilen etwas technisch, doch immer auch mit dem Blick auf den Film als Kunstwerk, wenn Berger nach einigen Monaten Abstand, wie er sagt, den Film selbst wiedersieht und reflektiert bzw. Szenen analysiert. Ein gelungener Kommentar, der den Spagat zwischen technischen Aspekten und erzählerischer Wirkung gut meistert und kaum Fragen offenlässt. In einem 20-minütigen Making-of kommen schließlich etliche Beteiligte der verschiedenen Departments zu Wort, beschreiben ihre Arbeit zu Vorproduktion, Location, Set-Design, Maske, Kostüme, Musik, Kamera und nicht zuletzt die Arbeit der/mit den Schauspielern. Das umfassende und dennoch kompakte Videofeature gibt spannende Einblicke in die gesamte Produktion, ist auf den Punkt montiert und durchweg mit faszinierendem Bildmaterial unterlegt.
Hinzu kommen zwei Texte im 24-seitigen Booklet, die ebenfalls als zielführend zu bewerten sind. Beide in Interview-Form, kommt zunächst noch einmal Edward Berger zu Wort, der zunächst den Kriegsbegriff bzw. Kriegsbilder generell reflektiert, dann auf Drehbuch, Dreharbeiten und zuletzt die Arbeit mit den Schauspielern, insbesondere mit Felix Kammerer, eingeht. Der zweite Text stellt ein transkribiertes Gespräch mit dem Geschichtsprofessor Dr. Daniel Schönpflug (FU Berlin) dar, der dezidiert über die Inhalte und die Bedeutung von Remarques Buchvorlage spricht, sodass auch für Käufer, die bei der Erstverfilmung (noch) gepasst haben, dieser essenzielle Bezug zwischen Literatur/Geschichte und Film ansprechend kontextualisiert wird. Einzig der überwältigende Soundtrack auf CD wäre noch die Kirsche auf der Sahne gewesen, diesen kann man bald zunächst separat auf Vinyl erwerben.
Fazit
Mit dem hochwertigen Mediabook zu Edward Bergers imposanter Neuverfilmung IM WESTEN NICHTS NEUES legt der Verleih eine mehr als willkommene Variante zum sonst nur per Streaming-Abo verfügbaren Werk vor. Der sensationell vierfach oscarprämierte deutsche Film, zudem eine der besten hiesigen Produktionen der letzten Jahre, ist nun in bestmöglicher Qualität für Zuhause erlebbar, gelungenes Bonusmaterial unterstreicht die Kaufempfehlung für Sammler. Somit hat der Film entlang seiner Veröffentlichung bereits in mehrfacher Hinsicht einen Standard gesetzt, an dem sich zukünftige Produktionen messen lassen müssen. Volle Flux-Punktezahl.
Titel, Cast und Crew | Im Westen nichts Neues (2022) |
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Poster | |
Release | Kinostart: 28.10.2022 seit dem 31.03.2023 im Mediabook (UHD + Blu-ray) erhältlich Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: Direkt bei Capelight Pictures bestellen >>> |
Regisseur | Edward Berger |
Trailer | |
Besetzung | Felix Kammerer (Paul Bäumer) Albrecht Schuch (Stanislaus Katczinsky) Aaron Hilmer (Albert Kropp) Daniel Brühl (Matthias Erzberger) Moritz Klaus (Frantz Müller) Edin Hasanović (Tjaden Stackfleet) Devid Striesow (General Friedrich) Thibault de Montalembert (Marschall Foch) Andreas Döhler (Leutnant Hoppe) |
Drehbuch | Lesley Paterson Edward Berger Ian Stokell |
Kamera | James Friend |
Musik | Volker Bertelmann |
Schnitt | Sven Budelmann |
Filmlänge | 148 Minuten |
FSK | ab 16 Jahren |
Liebt Filme und die Bücher dazu / Liest, erzählt und schreibt gern / Schaltet oft sein Handy aus, nicht nur im Kino / Träumt vom neuen Wohnzimmer / Und davon, mal am Meer zu wohnen