Es gibt da diesen absurden Witz, der sich ungefähr so erzählen lässt:
Der letzte Mensch auf Erden sitzt zufrieden beim Abendessen am Tisch seines gemütlichen Endzeithauses und genießt die Ruhe. Plötzlich klopft es….
So ähnlich ließe sich auch I AM MOTHER, das Langfilmdebut der Australier Grant Sputore (Regie) und Michael Lloyd Green (Drehbuch) als Kurzinfo zusammenfassen. Nur dass bei diesem postapokalyptischen Science-Fiction-Film noch ein „weiblicher“ Roboter mit im Haus wohnt, der durch das unerwartete „Horch was kommt von draußen rein“ wenig begeistert reagiert. Genau bis zu diesem ersten Plot Point sehen wir ein philosophisch und atmosphärisch dichtes Kammerspiel zwischen einem Menschen und einer Maschine.
Die Handlung
Der Film beginnt in einem unterirdischen, nostromoähnlichen* Gang. An der Erdoberfläche scheint gerade Schlimmes zu geschehen. Leichte Erschütterungen und von der Decke rieselnder Staub unterstreichen bildlich den prologartigen Schriftzug auf der Leinwand. Nach einer nicht näher beschriebenen Apokalypse ist die komplette Menschheit vernichtet worden. Die aktuelle menschliche Population auf Erden wird mit „0“ beziffert. Doch es wurden Vorkehrungen getroffen.
Die Kamera betritt einen größeren Raum, in dem nach und nach ein menschenähnlicher Roboter erwacht. Sein/ihr Gesicht ist auf die wesentlichen Merkmale menschlicher Regungen reduziert. Ein runder leuchtender Kreis steht für ein stets waches Auge und zwei kleinere Punkte imitieren durch unterschiedliche Abstände zueinander ein Lächeln, oder eine eher skeptische Mundhaltung. Irgendwie müssen wir dabei spontan an EVE, den weiblichen Roboter aus WALL-E denken. Auch dort wird ein kompletter Charakter aus einer rudimentären Lichtquellenmimik erschaffen. Nun erhebt sich „Mutter“ und erinnert vom Körperdesign ein wenig an CHAPPIE, den Polizeiroboter aus Neil Bloemkamps gleichnamigen Anti-Arpatheid-Sc-iFi-Thriller von 2015.
Der weibliche Roboter folgt von jetzt an einem vorgeschriebenen, ständig dazulernen Algorithmus, um eine neue Menschheit schaffen. Sogleich beginnt sie mit der Weiterentwicklung eines Fötus in einer künstlichen, glasähnlichen Gebärmutter. In mehreren zeitlichen Abschnitten verfolgen wir die unterschiedlichen Stadien eines heranwachsenden Mädchens. Dabei erleben wir die künstliche Intelligenz auf zwei Beinen als liebevoll agierendes Wesen. Durch die Auswahl eines bestimmten Musikstücks wiegt sie „ihr“ Kind den Schlaf, erklärt ihr spielerisch die Welt, kocht für sie „neugierig “ immer neue Gerichte und lässt sie sich behutsam zu einer jungen, ballettliebenden jungen Frau (Clara Ruggard) entwickeln. Dabei scheint das Mädchen ihre eingeschränkte Quarantänewelt wie selbstverständlich anzunehmen.
„Mutter“ ist in dieser Welt im Ton (Stimme im Original von Rose Byrne) immer verständnisvoll und ohne störende Nebenemotionen geduldig nur auf ein Ziel hin fokussiert: die erfolgreiche Erfüllung einer ersten programmierten Testphase, der sie und ihre „Tochter“ sich bald stellen müssen. Erst dann wird sie weitere Kinder zur Welt bringen dürfen. Doch bevor es zu dieser entscheidenden Prüfung kommen kann, entwickelt das Mädchen eine stetig wachsende Neugier auf ihre direkte Umgebung und die Welt jenseits des unterirdischen Bunkers. Auf eigene Faust erkundet sie ihr abgeschottetes Reich und trifft auf erste Anzeichen für einen wachsenden Zweifel, ob die Welt da draußen wirklich unbewohnbar geworden ist. Es kommt zu ersten Konflikten mit „Mutter“, die so gar nichts von der sich immer kritischer entwickelnden Neugier ihrer „Tochter“ hält. Als schließlich eine verwundete Frau (Hilary Swank) an die Außentore des Hochsicherheitsbunkers klopft, versucht das Mädchen dies vor ihrer Schöpferin geheim zu halten. Das Klopfen von draußen wird ab jetzt alles verändern – oder doch nicht?
Der weitere – spoilerfrei – Verlauf
Ab dieser Stelle entscheidet sich I AM MOTHER für eine Richtung, die sich nach und nach durch genretypische Wendungen schlängelt und auf einigen logischen Stolpersteinen leicht ins Trudeln gerät. Dabei wird gerade die „Frau von draußen“ zu einer nicht immer ganz überzeugenden, fast störenden Nebenfigur. Dadurch verliert der Film ein wenig seine sonst so souveräne Grundstimmung. Doch insgesamt ist I AM MOTHER stark genug, sein spannendes und visuell durchgängig hochwertig umgesetztes Grundthema auf der Zielgeraden sehr stimmig zu Ende zu führen. Darüber hinaus sehen wir einen Film, der mit einer rein weiblichen Besetzung einen bewusst anderen Blickwinkel in eine Welt nach dem großen Knall öffnet.
Die Themen von I AM MOTHER
Künstliche Intelligenz und Kindererziehung. Dieses auf den ersten Blick unvereinbare Phänomen wird zu einem humanistisch hoch anspruchsvollen Dialog zwischen Natur und Technik. Wenn Programme und Maschinen heute bereits dazu fähig sind, Autos fahren zu lassen, dass Menschen, ohne das Haus zu verlassen den richtigen Partner fürs Leben finden können oder bereits große Teile von Bauernhöfen komplett menschenfrei bestellt und Tiere versorgt werden können, dann ist es vielleicht auch gar nicht mehr so abwegig ein Kind in die Obhut von Codes und Schaltkreisen zu geben. Durch die heranwachsende Tochter und den stets dazulernenden Roboter erhält dieser Dialog zwei repräsentativ starke Sprecher. Eine emotionslose A.I., die Gefühle imitiert, um einem programmierten Plan zu folgen und ein fühlendes Wesen, was mithilfe reiner Logik versucht sein eigenes Überleben zu sichern.
Dabei wird die Emotion zu einer Art Waffe um die Vorherrschaft einer Spezies. Kann die Maschine Gefühle so steuern, dass tatsächlich eine bessere Welt entstehen kann? Ist ein Programm am Ende sogar vielleicht der alles richtende Gott, den wir Menschen uns seit jeher so ersehnen? Ist dieser Gott dann schließlich, wie ein Computerprogramm, nur eine Erfindung des Menschen, um die Hoffnung auf eine bessere Welt aufrecht zu erhalten? Wenn wir Menschen durch unsere eigene Fehlbarkeit nicht in der Lage sind unsere Welt zu einem besseren Ort zu machen, ist es dann nicht logisch, diesen Schritt dorthin einer höheren Macht oder einem auf Logik basierenden Programm zu überlassen? Sind dann ethische Phänomene wie Genozid und selektive Lebenserhaltung am Ende keine Verbrechen, sondern die einzigen richtigen Schritte hin zum Paradies? Und wie passen Angst, Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Nächstenliebe in diese Gleichung?
Diesen hoch kontroversen Fragen geht I AM MOTHER durch einige sehr kluge Dialoge zwischen „Mutter“ und „Tochter“ immer handlungsdienlich nach. Er lässt sogar Raum für die Frage, ob das rational logisch operierende Programm am Ende vielleicht nicht mehr menschlichen Ursprungs, sondern eine eigenständige Weiterentwicklung des Programms aus sich selbst heraus ist, weil es gelernt hat, menschliche Emotionen zu überwinden.
Muss der Roboter sich sogar über die im Film subtil anklingenden Drei Gesetze der Robotik von Isaac Asimovs hinwegsetzen?
- Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen.
- Ein Roboter muss den Befehlen eines Menschen gehorchen, es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zum ersten Gesetz.
- Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht dem Ersten oder Zweiten Gesetz widerspricht.
Oder entspricht er ihnen nur auf schmerzhaft korrekte Weise?
Für diese Fragen und Gedanken schaffen Drehbuch und Regie einige sehr überzeugende Szenen, in der wir die Welt durch glaubhafte Augen eines jungen und unschuldigen Mädchens betrachten. Hier reichen sich 2001 von Stanley Kurbrick und TERMINATOR von James Cameron einige Male, auch visuell, zitierend die Hand.
Der Stil
Die Optik des Films hat viel von ALIEN (R: Ridley Scott) und seinem berühmten Raumschiff *Nostromo. Aber auch MOON (R: Duncan Jones) und WESTWORLD (TV-Serie) kann man bei der Gestaltung der klaustrophobisch, technischen Räume als Vorbild erkennen. Der Look ist also insgesamt eher bekannt, als überraschend und schafft so eine fast schon heimelige Bunkeratmosphäre. Das mag den ein oder anderen dazu bewegen, I AM MOTHER als optisch weniger originell zu bezeichnen. Im Anbetracht der Storydienlichkeit wäre das aber fast schon kleinlich, denn das visuelle Highlight ist ein anderes.
Effekte und Robotik
Der Schwerpunkt der Ausstattung liegt eindeutig auf dem Production Design und der realen technischen Umsetzung von „Mutter“. Ihre Haptik, ihre auf das Wesentliche reduzierte mechanische Mimik, sowie ihre Bewegungen sind in jedem Augenblick glaubhaft spürbar. Weta Workshop (HERR DER RINGE) hat hier in Sachen Special Effects und Kostümdesign eindrucksvolle Hand-in-Hand-Arbeit geleistet. Die Design- und Effekt-Spezialisten Christian Pearce und Luke Hawker (zugleich auch Darsteller im Roboterkostüm) haben mit jeder Schraube, jedem Schaltkreis und jedem Kolben das Äußere, wie auch das Innere dieser künstlichen Figur meisterhaft konzipiert und umgesetzt. In ihrer Körperlichkeit ist „Mutter“ ihrem Vorgänger aus I AM ROBOT (R: Alex Proyas) dadurch mindestens eine Entwicklungsstufe voraus. So entstand, zusammen mit der liebevollen und ausdrucksstarken Stimme von Rose Byrne, ein wahrhaftig vielseitiger und auch schrullig humorvoller Charakter, sowie ein ebenbürtiger Spielpartner für ihre „Tochter“.
Die Darsteller
Mindestens genauso beeindruckend wie die Belebung von „Mutter“ ist die 21-jährige, dänische Schauspielerin Clara Ruggard als jugendliche Tochter. Ihr Spiel ist größtenteils eine souveräne Solodarbietung mit sich selbst, oder der Kostüm-Stimme Symbiose von „Mutter“. Ihr makellos, unschuldig strahlendes Gesicht transportiert mikroskopisch kleinste Regungen über ein vollkommen reines Erleben einer menschenleeren Welt. Wie sie durch ihr Spiel ihrer Figur eine naiv neugierige Würde verleiht, zeugt von großem mimischem Talent. Auch in den Szenen mit der plötzlichen Besucherin, in Gestalt von Hilary Swank, kann sie ihren Leading-Lady-Status beibehalten. Leider würde ein näheres Eingehen auf die Darbietung der zweifachen Oscarpreisträgerin (BOYS DON´T CRY, MILLION DOLLAR BABY) zu viel vom eigenständigen Erleben dieses Films vorwegnehmen. Vielleicht nur so viel: Hilary Swanks Charakter, trotz allem was sie erlebt zu haben scheint, ist kein wirklicher Sympathieträger und macht ein Mitfühlen von Seiten der Zuschauer äußerst schwer. Auch fragt man sich die ganze Zeit wie ein Mensch aus einer zerstörten, entzivilisierten Welt so makellos weiße Zähne haben kann.
Die Regie
Mit seinem Debut macht Regisseur Grant Sputore sehr vieles richtig. Es gelingt ihm, dass wir immer auf Augenhöhe mit der Hauptfigur bleiben und sogar zu einer künstlichen Intelligenz eine emotionale Beziehung aufbauen können. Mit einem weitestgehend guten Gespür für erzählerisches Timing schafft er ein lebendiges Gleichgewicht zwischen mitfühlendem Familiendrama und unterhaltsamer Thriller-Action. Dass er dieses Niveau nicht durchgehend halten kann, liegt vielleicht auch an dem nicht vollkommen belebten Drehbuch, dem auf die Länge von 114 Minuten ein wenig die Luft ausgeht. Trotz den philosophisch und ethisch hoch relevanten Aspekten der Geschichte fehlt I AM MOTHER eine wirkliche, eigenständige Seele, die wir uns vollkommen zu eigen machen wollen. Dafür gehen die meisten Szenen einfach nicht tief genug an innere Schmerzgrenzen, die uns wirklich erfahren lassen, was es heißt vollkommen ohne weitere „lebendige“ Menschen aufzuwachsen. Vieles bleibt dadurch auf der reinen Beobachtungsebene und lässt einen dadurch den Ablauf der Geschehnisse relativ emotionslos erleben. Dennoch gelingen ihm atmosphärisch starke Bilder, sowie schauspielerisch beseelte Szenen, welche die ethische Grundidee des Films auf einer professionell hochwertig gestalteten Oberfläche erkennen lassen.
Fazit
Zusammengehalten von einer, elektronisch schwebenden, Richtung Sound-Design klingenden Filmmusik, der noch weitestgehend unbekannten Komponisten Dan Luscombe und Antony Partos, sehen wir ein unterhaltsam intelligentes, nicht zu anspruchsvolles, vor allem aber visuell überdurchschnittliches Sci-Fi-Kammerspiel aus den Händen junger, engagierter Filmemacher mit einer vielversprechenden Jungdarstellerin am Beginn einer hoffentlich längeren Karriere. Mit dieser Produktion hat sich Netflix in den USA einen insgesamt sehenswerten Film ins immer größer werdende Vertriebssystem geholt. Der Untergang der (Film)-Welt wird so sicher noch einige Jahre aufgeschoben.
Titel, Cast und Crew | I Am Mother (2019) |
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Poster | |
Release | ab dem 22.08.2019 im Kino |
Regisseur | Grant Sputore |
Trailer | |
Besetzung | Luke Hawker (Mutter) Rose Byrne (Stimme von Mutter) Clara Rugaard (Tochter) Hilary Swank (fremde Frau) Tahlia Sturzaker (Kind) |
Drehbuch | Michael Lloyd Green |
Kamera | Steve Annis |
Musik | Dan Luscombe Antony Partos |
Schnitt | Sean Lahiff |
Filmlänge | 114 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |
Winnetou, Erol Flynn und Harold Lloyd sind die Helden seiner Kindheit / Weint leidenschaftlich bei E.T. / Will seit er 10 ist, Filmregisseur werden / Liebt komplexe Filmmusik und hält überhaupt nichts von kommerziellen Soundtracks mit Popsongs, die im Film gar nicht vorkommen / Würde gerne mit Agent Cooper im Double R Diner einen Kaffee-Marathon bestreiten / Das beste Auto der Welt: ein DeLoreon natürlich