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High Life (2018) – Filmkritik

„Im Weltall hört Dich niemand masturbieren“

Es ist in vielerlei Hinsicht ein erstes Mal für Claire Denis: Der erste englischsprachige Film, der erste Film im Weltall, der erste Film mit Robert Pattinson. Das macht sich aber nicht sonderlich bemerkbar. HIGH LIFE fügt der sowieso schon außergewöhnlich großartigen Filmografie der Regisseurin ein weiteres, atemberaubendes Ausrufezeichen hinzu.

© A24

HIGH LIFE startet mit dem Tod und beginnt mit dem Leben. Monte (Robert Pattinson) ist der letzte Überlebende auf einem Raumschiff, das unaufhaltsam auf ein schwarzes Loch zusteuert. Einsam streift er durch die verlassenen, in Neon-Primärfarben beleuchteten Gänge, nur noch kameradschaftet von Baby Willow (Scarlett Lindsey), die in den ersten Filmminuten durch ihr Geschrei den Untergang des Raumschiffs einläutet. „Oblivion awaits“, so die Tagline. So richtig bedauerlich ist dieses Verschwinden nicht. Monte war Teil einer Crew aus jugendlichen Straftätern, die in dieser obskuren Weltraummission ihre Freiheit erkaufen konnten. Im endlosen Nichts sehen sie sich jedoch konfrontiert mit den wahnsinnigen Experimenten der Reproduktionsforscherin Dr. Dibs (Juliette Binoche), die mithilfe jener ‚Misfits‘ ihrem Traum des Homunculus einen entscheidenden Schritt näher kommen wollte.

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Das Kino der Claire Denis ist in erster Linie ein Abtasten von Körpern. Körper beim Tanzen (US GO HOME), beim Trainieren (BEAU TRAVAIL) oder bei ihrer Zerstörung (TROUBLE EVERY DAY). Und ein Kino des Sexes. So auch in HIGH LIFE. Auf dem Raumschiff existiert eine „Fuck Chamber“, in der sich die Crew technisiert-klinisch selbstbefriedigt. Sperma ist die dominante Flüssigkeit dieses cineastischen Wunderwerkes, später wird Blut hinzukommen.

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Wie jeder ihrer Filme ist auch HIGH LIFE ein extrem visuelles Erlebnis. Kontext erschließt sich durch das genaue Absuchen der Bilder, nicht durch die (spärlich gesetzten) Dialoge. Das Raumschiff wabert dabei als wundersamer Nichtort durch den Raum. Auf die technisierte Neonbeleuchtung trifft unvermittelt ein paradiesischer Biotop, der liebevoll von Crewmitglied Tcherny (André Benjamin) umsorgt wird, so etwas wie Montes einziger Freund. Ein eigentlich aussichtsloses Unterfangen, rückt das Schiff doch immer näher an das Schwarze Loch heran. Es ist das übergreifende Thema von HIGH LIFE: Die wundersame Gabe der Menschen, selbst in den aussichtslosesten Situationen noch so etwas wie Hoffnung empfinden zu können. Und irgendwo steht das Raumschiff ja auch für das Kino an sich.

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Die Stimmen, die von seinem Ende, jedenfalls in Form des klassischen Lichtspielhauses predigen, wurden in Zeiten der allgegenwärtigen Streaming-Dienste beständig lauter. Auf den großen Leinwänden laufen die immergleichen, visionsbefreiten Superhelden-Fließband-Waren. Multiplexe schließen. Man kann dies mit Trauer und Untergangsstimmung betrachten oder sich darauf freuen, wie diese Entwicklung weitergehen wird, so auch Claire Denis. Ihr Film endet zwar mit der Vernichtung, aber auch mit der Einsicht, dass aus jedem Tod auch wieder Leben entsteht. So gesehen ist der ganze Film eine einzige Schwangerschaftsmetapher. 2018 wurden in 120 BPM Staubpartikel zu alles umwabernden Aidsviren. Denis macht 2019 aus einem Sonnensystem eine Eizelle und das Raumschiff zum Spermium, am Ende blickt man durch einen vulvaesquen Spalt einem grünen Licht entgegen (wir erinnern uns an unseren Oberstufen-Englischkurs zum GREAT GATSBY: grün = Hoffnung!). Wenn dann die Tindersticks mit dem Titelsong „Willow erklingen, ist das wahrlich ein lähmender, zum verharren auffordernder Moment.

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Personifiziert wird die Wiedergeburtsmetapher ja auch durch Hauptdarsteller Robert Pattinson. Zunächst verschrien als Edward in den TWILIGHT-Filmen, arbeitete er sich durch Partizipationen mit Regisseuren wie David Cronenberg (COSMOPOLIS) oder den Safdi Brüdern (GOOD TIME) zum ernstzunehmenden (Achtung! Unwort) Arthouse-Schauspieler empor. Unnötig zu erwähnen, dass er hier ganz und gar wunderbar (und ziemlich gut anzuschauen) ist. Obwohl ihm von Binoche fasst die Show gestohlen wird. Wie sie die manische Wissenschaftlerin verkörpert und in der vielleicht besten Szene des Filmes die „Fuck Chamber“ betritt, muss man einfach gesehen haben.

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Wer unbedingt diesen Vergleich ziehen möchte (und Vergleiche machen sich ja gut auf dem Kinoplakat): HIGH LIFE ist vielleicht wirklich das SOLARIS unseres Jahrhunderts, bis jetzt. Auf jeden Fall zeigt Claire Denis uninspirierten Regiehandwerkern wie Christopher Nolan, welch wundersame Dinge man doch im Rahmen des Weltalls anstellen kann. Man sieht Bilder von solch schmerzhafter Schönheit und Komponist Stuart Stables zaubert transzendentale Klänge auf die Tonspur.

Es gibt sie selten, Filme, die bei der ersten Sichtung sofort von Meisterwerk sprechen lassen und im Diskurs bleiben. HIGH LIFE ist so einer, ein resignierter Zuschauer-Mutmach-Film, ein Meisterwerk.

© Fynn

Titel, Cast und CrewHigh Life (2018)
Poster
Releaseab dem 30.05.2019 im Kino
ab dem 04.11.2019 auf DVD
Bei Amazon bestellen:
RegisseurClaire Denis
Trailer
BesetzungRobert Pattinson (Monte)
Juliette Binoche (Dibs)
André Benjamin (Tcherny)
Mia Goth (Boyse)
Agata Buzek (Nansen)
Lars Eidinger (Chandra)
Claire Tran (Mink)

DrehbuchClaire Denis
Jean-Pol Fargeau
Geoff Cox
KameraYorick Le Saux
Tomasz Naumiuk
MusikStuart Staples
Tindersticks
SchnittMartin Bernfeld
Filmlänge113 Minuten
FSKab 16 Jahren

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