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Guillermo del Toros Pinocchio (2022) – Filmkritik

„Düsteres Puppenspiel“

„Die Abenteuer des Pinocchio“ von Carlo Collodi wurden schon vielfach verfilmt. Zuletzt von Robert Zemeckis in PINOCCHIO (2022) als Mischung aus Realfilm und Computeranimationen mit Tom Hanks in der Hauptrolle. Es ist eine eher genügsame Verfilmung mit allerlei Tierchen, gutem Glauben und Wohlfühlmomenten. GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO (2022) ist wie der böse Zwilling dieser Verfilmung. Dieser Stop-Motion-Animationsfilm könnte eher aus der Feder von Edgar Allan Poe stammen als eine Vorlage für einen Disney-Film zu sein. Eine solch gegenteilige Perspektive liegt am Regisseur und Botschafter für dunkle Monster und Fabelwesen: Guillermo del Toro. In seinen Filmen setzt er sich stets mit dem Unbekannten und den Ängsten auseinander. Leben und Tod werden philosophisch verhandelt, sowie menschliche Vorurteile und Rassismus gegenüber allem Andersartigen. Die Geschichte Pinocchios ist dafür wie geschaffen und wurde in den letzten Inszenierungen viel zu familientauglich glattgebügelt. Dabei ist es die Tragödie eines Vaters, der seinen Jungen verliert, eine lebendige Puppe als Ersatz erhält und diese so gar nicht seine Ansprüche erfüllt. Mit diesem naiven, hölzernen Wesen entdecken wir die düsteren Seiten unseren Existenz. Ihr merkt also, GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO (2022) ist von einem Kinderfilm weit entfernt.

Netflix © 2022

Handlung

Vater Gepetto (gesprochen von David Bradley) ist der vertrauensvolle Holzhandwerker in einem kleinen italienischen Dorf. Mit seinem Sohn Carlo (Gregory Mann) lebt er allein etwas abseits der Einwohner. Der Sohn ist fröhlich und gut erzogen. Als beide zusammen ein großes Kruzifix für die Kirche im Ort anfertigen, werden Fliegerbomben auf das Dorf fallen gelassen. Eine davon schlägt in das Dach der Kirche ein, Carlo wird dabei getötet und Gepetto kommt mit dem Leben davon. Viele Jahre der Trauer vergehen. In einer gewittrigen Nacht voller Kummer und starkem Wein baut Gepetto sich eine Holzpuppe als Ersatz zusammen. Die Blaue Fee (Tilda Swinton) hat Mitleid mit ihm und haucht der Holzfigur Leben ein. Gepetto traut seinen Augen nicht: ein wilder ungezügelter Jungen, dessen Nase beim Lügen immer größer wird. Aber auch die Dorfbewohner, vor allem der faschistische Offizier Podestà (Ron Perlman), sehen anfangs nicht viel in dem Jungen. Als sie jedoch nach einem Autounfall, bei dem Pinocchio überfahren wird, entdecken, dass der Junge unsterblich zu sein scheint, sieht Podestà in ihm den perfekten jungen Soldaten für Mussolini. Die Abenteuer zwischen Gut und Böse beginnen.

Netflix © 2022

Produktion

Die Projektentwicklung von GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO war ein jahrelanger Prozess. Bereits 2008 beschloss del Toro eine Verfilmung von Pinocchio, jedoch mit Fokus auf dem Kinderbuch von Gris Grimly von 2002, welches wesentlich düsterer illustriert und erzählt ist. Der Einfluss von Regisseur Tim Burton ist unverkennbar. In den Jahren ging es mit der Entwicklung auf und ab. Del Toro wollte unbedingt einen Stop-Motion-Film, der verhältnismäßig teuer gegenüber einem Animationsfilm ist. Zudem ist seine Sicht auf die Geschichte wesentlich unzugänglicher und somit für Produzenten unrentabel. Doch die Hartnäckigkeit und der Oscar 2018 für del Toros SHAPE OF WATER (2017) weckte bei den Geldgebern wieder Interesse. Der Streamingdienst Netflix übernahm die Produktion und konnte sich mit einem kurzen Kinostart für die Oscarverleihung 2023 anmelden und mit dem Streamingstart im Dezember 2022 genau in der richtigen Jahreszeit mit einem erwachsenen Märchen auftrumpfen. Ironischerweise lief im Jahr 2022 ebenfalls Robert Zemeckis PINOCCHIO kurz in den Kinos und wurde recht schnell nach schwachen Besucherzahlen bei Disney+ angeboten. Beide Filme könnten nicht unterschiedlicher sein. Die Regie für GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO teilt sich del Toro allerdings mit dem Animator Mark Gustafson.

Der Regisseur am Set © Jason Schmidt / NETFLIX

Die Themen

In der Filmografie von Guillermo del Toro sind wiederkehrende Motive zu entdecken, die den Künstler beschäftigen: Leben und Tod, Vorurteile und Rassismus, Außenseiter und Gesellschaft. Somit wundert es nicht, dass sich GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO ebenfalls auf diese Themen fokussiert. Das unendliche Leben Pinocchios kann zu einer Last werden, wenn alle Familienmitglieder und Freunde ein endliches Leben haben. Das wird besonders schön erzählt in der Jenseitswelt mit dem Tod, wenn er auf das Ablaufen von Sanduhren warten muss, um wieder lebendig zu werden. Ein Junge soll lernen, was es ein endliches Leben bedeutet, aber so etwas begreifen nicht einmal die Erwachsenen. Man kennt es selbst, in der Jugend fühlt man sich unsterblich und das Alter bzw. Lebensende ist noch in weiter Ferne.

Netflix © 2022

Die Geschichte spielt in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und ist im faschistischen Italien verortet, regiert von Mussolini, der nach dem perfekten Soldaten sucht. Pinocchio landet in dieser Welt mit einem anfänglichen Kriegsspiel, in dem er mit dem Jungen Candlewick (Finn Wolfhard) zur Erkenntnis gelangt, es können auch einfach beide Teams gewinnen. In den Szenen, wo der Faschismus thematisiert wird, erinnert der Animationsfilm stark an PANS LABYRINTH (2006).

Netflix © 2022

Das Grundthema von GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO ist jedoch die Beziehung zwischen Vater und Sohn, welche in unterschiedlichen Figuren Einzug findet. Zuallererst Geppetto und Pinocchio, ein leidender Vater, der mit einem energiegeladenen, naiven Jungen zurechtkommen muss. Die Beziehung zerbricht, als Pinocchio glaubt, er sei nur eine Last für seinen Vater. Eine weitere Vater-Sohn-Beziehung ist die des Offiziers Podestà zu seinem Sohn. Der Vater stellt hohe Ansprüche an sein Kind und schickt es in den Krieg. Das Unschuldige wird in dieser Beziehung zerdrückt. Eine etwas seltsame Art von Vater-Sohn-Beziehung findet sich im Karnevalsdirektor Graf Volpe (Christoph Waltz) und Spazzatura (Cate Blanchett). Für Volpe zählt nur der Gewinn und nicht sein einäugiger Primat, der über Gebärdensprache verfügt. Der tierische Puppenspieler und die junge Hauptattraktion Pinocchio sind erst Konkurrenten, werden aber dann Freunde und Spazzatura nabelt sich von seinem Herrn ab. In allen drei Beziehungen manifestiert sich das emotionale Rückgrat des Films: Die Befreiung eines Sohns von seinem Vater und wie der Sohn zwischen Gut und Böse seinen Weg im Leben finden muss.

Netflix © 2022

Das Erlebnis

Die Stop-Motion-Animationen sind zauberhaft düster. Eine Verniedlichung findet nicht statt, die Herstellung des Holzjungen von Gepetto bei Gewitter erinnert an FRANKENSTEIN. Der Figur werden schiefe Nägel in den Rücken getrieben und der Oberkörper hat ein Loch anstelle eines Herzens. Darin wohnt übrigens die Grille Sebastian (Ewan McGregor), die uns als Erzähler wunderbar durch diese Geschichte führt. Die Handlung bewegt sich großartig abseits der bekannten Pfade, aber die Figur Pinocchios ist ausgelassen überdreht und drückt ziemlich auf die Nerven. Zum Glück kann man sich mit dem detaillierten Produktionsdesign ablenken, sich an den vielen kleines Easter-Eggs aus del Toros Filmografie erfreuen wie auch der stimmigen Beleuchtung. Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, aber die Songs in der Geschichte haben keinerlei Handlungsrelevants. So richtig ins Ohr wollen sie uns auch nicht gehen, auch wenn sie leidenschaftlich vorgetragen werden. Sie wirken stets etwas fremd. Wundervoll ist die aufwändige Anreicherung mit Fabeln, Symbolen und Mythen. Die kartenspielenden Hasen im Jenseits, die Lichtgeister in den Wäldern und das urzeitliche Monster aus dem Meer lassen einen in die Ideenwelt und Vision des Filmemachers abtauchen. Mit dem ein oder anderen Witz, auch auf Kosten einer Möwe, gelingt es GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO sich immer wieder seiner melancholischen Stimmung zu entreißen. Jedoch fehlt etwas der rote Faden in der Geschichte, was aber auf die verschiedenen Kapitel in der Literaturvorlage zurückzuführen ist.

Am Ende trifft auf das Publikum zwar ein rundes Ende, jedoch wird man mit der Moral der Geschichte allein gelassen. Fast schon lethargisch werden einem die Wörter wie „was passiert, passiert eben und am Ende müssen wir alle gehen“ vor die Füße geworfen. Hier wünscht man sich etwas mehr Bedeutung, so dass der Film auch inhaltlich etwas länger im Gedächtnis haften bleibt.

Netflix © 2022

Fazit

Es ist eine Freude, dass Netflix die Produktion dieser Herzensangelegenheit Guillermos übernommen hat. Die teils anstrengenden Songs und das inhaltsleere Ende trüben etwas das erstklassige, beispiellose Stop-Motion-Erlebnis, welches einen neuen Blickwinkel auf die Geschichte des hölzernen Jungen wirft. GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO ist nicht del Toros bester Film, aber die beste Verfilmung Pinocchios allemal.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewGuillermo Del Toros Pinocchio (2022)
Poster
RegieGuillermo del Toro
Mark Gustafson
ReleaseKinostart: 24.11.2022

Ab dem 09.12.2022 auf Netflix im Stream
Trailer
StimmenEwan McGregor (Grille Sebastian)
David Bradley (Geppetto)
Gregory Mann (Pinocchio / Carlo)
Burn Gorman (Priester)
Ron Perlman (Podesta)
John Turturro (Dottore)
Finn Wolfhard (Candlewick)
Cate Blanchett (Spazzatura)
Tim Blake Nelson (Schwarze Hasen)
Christoph Waltz (Graf Volpe)
Tilda Swinton (Waldgeist / Tod)
Tom Kenny (Mussolini)
DrehbuchGuillermo del Toro
Patrick McHale
VorlageBasiert auf "Die Abenteuer von Pinocchio" von Carlo Collodi
KameraFrank Passingham
MusikAlexandre Desplat
SchnittHolly Klein
Ken Schretzmann
Filmlänge117 Minuten
FSKAb 12 Jahren

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