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Grenzüberschreitungen: Exkursionen in den Abgrund der Filmgeschichte – Buchvorstellung

„Grenzerfahrungen“

Marcus Stiglegger: GRENZÜBERSCHREITUNGEN. Exkursionen in den Abgrund der Filmgeschichte. Der Horrorfilm

„Der Film ist eine Kunst der Grenzüberschreitungen. Und jenseits der Grenze lauert der Abgrund. Film als Spiegel unseres Begehrens macht uns nicht nur mit der Lust am Schönen vertraut, sondern auch mit der eigenen Finsternis, und je tiefer wir in diesen Abgrund blicken, umso mehr erkennen wir – unser monströses Selbst.“ – aus dem Rückentext zum Buch

Prof. Dr. Marcus Stiglegger (*1971) gilt als Rockstar unter den deutschsprachigen Filmpublizisten und das ist selbstverständlich positiv gemeint. Mit seinen mittlerweile 28 Büchern über Filmästhetik und -theorie sowie Bonusfeatures für über 130 DVD- und Blu-ray-Veröffentlichungen (Audiokommentare/Videofeatures/Booklettexte) widmet sich Stiglegger bewusst dem Abseitigen, dem Subkulturellen, dem Grenzwertigen. Grenze(n) bildet den kurativen roten Faden seiner aktuellen Monografie-Reihe, der „Grenztrilogie“, deren zweiter Band seit Herbst 2018 in gedruckter Form vorliegt.

Erschienen im erfrischenden, jenseits der Konventionen arbeitenden Martin Schmitz Verlag (Berlin), versammelt GRENZÜBERSCHREITUNGEN – EXKURSIONEN IN DEN ABGRUND DER FILMGESCHICHTE: DER HORRORFILM sehr persönliche Texte des Autors zum Genre. Thematisch ähnlich gelagert wie Christian Keßlers kürzlich von mir besprochener Band ENDSTATION GÄNSEHAUT, hebt sich Stigleggers Buch doch klar in Struktur und Synthese ab. War des Autors erster Teil der „Grenztrilogie“, GRENZKONTAKTE (2016), ein wirkungsvoller Vorgeschmack, ein prophezeiender literarischer Akt über das anmutig-abseitige Potenzial des Mediums Film, dann taucht GRENZÜBERSCHREITUNGEN vollends in die „eigene Finsternis“ des Zuschauers ein:

„Von kinematographischen Alpträumen ist hier die Rede, vom Abjekten und Erschreckenden. Von der Macht des fiktionalen Grauens…“

Das Grauen

Das Grauen, literarisch wie filmisch, lässt sich oft nur schwer (be)greifen. Die fiktionale Angst, die uns Rezipienten ereilt, krallt sich wie ein kleines Greiftier in unser Bewusstsein – und verändert etwas tief in uns. Hier knüpft GRENZÜBERSCHREITUNGEN direkt an die zentrale These des Vorgängerbandes an, die im Kern um jene besonderen Filme kreiste, „die sich schlicht ereignen“ und etwas ganz Besonderes in unserem Innersten bewirken. Auch bereits Horrorkino (etwa Argentos SUSPIRIA oder Mondo-Filme) als Thema, kamen dort aber verstärkt randseitige Perlen von Abel Ferrara, Michael Mann oder etwa Andrzej Zulawski intensiv zur Sprache. Nun widmet sich Stiglegger konsequent dem Horrorfilm in all seinen Facetten, jenem Genre, das er immer wieder in repräsentativen Einzeltexten beschrieben hat, das er hier jedoch erstmals in gebündelter Form vorstellt. Hier eine eigens formulierte, kompakte Übersicht der Subgenres, Themen und Titel, die in insgesamt 18 Kapiteln aufgeteilt sind:

  • Howard Phillips Lovecraft
  • Mumien
  • Die Geister (der Toten) / Schwarze Romantik
  • Hexen(jäger)
  • Backwood-Horror (THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE)
  • DAS OMEN
  • Brian De Palma (zwei Kapitel, CARRIE im Kontext sowie DRESSED TO KILL als Global Giallo)
  • George A. Romeros Zombies
  • Werwölfe (THE HOWLING)
  • „Die Hütte im Wald“ (TANZ DER TEUFEL)
  • Lucio Fulci
  • Tierhorror (Umweltverschmutzung, Mutation, Schwärme…)
  • Buddy Giovinazzos COMBAT SHOCK
  • MISERY
  • Transgressives Kino von Mitch Davis und Karim Hussain
  • Japan-Horror (im Westen)
  • Nazi-Zombie-Filme

Neben einem sehr lesenswerten Vorwort von Kultregisseur Buddy Giovinazzo, mit dem Stiglegger auch eine persönliche Freundschaft verbindet, führen des Autors Einleitung und vor allem das niedergeschriebene Gespräch zwischen ihm und Dr. Kai Naumann bestens in die zu lesende Materie ein. Da ich mich selbst aktuell mit einigen der hier besprochenen Regisseure und zudem mit den literarischen Einflüssen à la Edgar Allan Poe, Howard Phillips Lovecraft u.a. beschäftige, bewerte ich den zu lesenden Dialog Naumann/Stiglegger als eine mustergültige Einführung in die Mythen des Horrors. Sprachlich bereits absolut auf den Punkt, wirkt dieser Beginn der literarischen Exkursion auch erfrischend offen und zeugt von einer ergiebigen, gegenseitigen Bereicherung der beiden Filmwissenschaftler. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die beiden Herren bereits einige Audiokommentare zu zweit eingesprochen haben, die unbedingt zu empfehlen sind (u.a. Dario Argentos OPERA oder Dan O’Bannons THE RESURRECTED).

Fiktionaler und realer Schrecken

Letztens wagte ich mich an die deutsch-englische Koproduktion HEXEN BIS AUFS BLUT GEQUÄLT / MARK OF THE DEVIL (1970) – der Film war gefühlt schon immer verboten, seit einiger Zeit aber FSK-freigegeben ab 18 – und da interessierte mich vor allem das Kapitel „Burn the Witch! Die Vorläufer und das Erbe des Hexenjägers“ (im Buch S. 53-67). Auf 14 Seiten zieht Stiglegger eine gelungene Verbindung zwischen der realen Geschichte der Inquisition bzw. der Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit und den künstlerischen Aufarbeitungen dieser Thematik. Um eine Zeile aus dem abschließenden Absatz des Kapitels sogleich vorwegzunehmen: für Hollywood-Hokuspokus und bezaubernd-charmante Hexen ist hier kein Platz. Den seriösen Bemühungen des (internationalen) Kinos sind diese Seiten gewidmet.

Zentral ist die Verknüpfung mit der literarischen Aufarbeitung des Hexenbegriffs. Jules Michelets „Die Hexe“ (1862) etwa wird in seiner damaligen Aussage als revolutionär beschrieben: „[Michelet] bezeichnet die Verfolgung der Hexen als deutlichsten Ausdruck für die jahrhundertelange Unterdrückung der Frau“, reflektiert Stiglegger jene nicht von der Hand zu weisenden, menschenverachtenden „Verbrechen einer sich selbst als zivilisiert definierenden Gesellschaft“. So wird im Folgenden eine filmhistorisch akkurate Linie gezeichnet, die bei Benjamin Christensens HÄXAN (1920) beginnt und nach weiteren Vorläufern in Michael Reeves’ DER HEXENJÄGER (THE WITCHFINDER GENERAL, 1968) seinen künstlerischen Höhepunkt findet, welcher im direkten Anschluss auch jenes grausam-exploitative Kino hervorbrachte, zu dem mein zuvor benannter Beitrag zählt. In filmhistorisch bewusster Selbstverständlichkeit werden auf fünf weiteren Seiten globale Beiträge des Hexenfilms genannt und thematisch eingeordnet, mögen sie aus Japan, Hongkong oder den mediterranen Staaten Europas kommen. Ehe man sich versieht, hat man schon wieder ein dutzend Filme auf der persönlichen Watchlist.

Persönliche Ein- und Rückblicke

Einige der Texte wurden vormals in teils alternativer Form als Booklet-Texte vom Autor veröffentlicht; (nicht nur) bei diesen Texten ist auch ein Hinweis am Ende mit Info zum Label zu finden, das den jeweiligen Film im hiesigen Markt veröffentlichte. So befand ich mich selbst in der Lage, Stigleggers „Global Giallo“-These im Booklet zu DRESSED TO KILL via Filmconfect oder „Das Biest bricht durch“ im Mediabook zu Joe Dantes DAS TIER (THE HOWLING) gelesen zu haben (bei Letzterem verbindet uns beide gar das gemeinsame persönliche Treffen mit Dante und unsere Zusammenarbeit beim mit von mir herausgegebenen Sammelband über den Regisseur. Doch darf man unterscheiden: so zog Stiglegger etwa seinen Text zu TANZ DER TEUFEL vor Veröffentlichung der erstmals FSK-freigegebenen Neuauflage zurück und ließ ihn erstmals in diesem Buch und kürzlich als Leseprobe im Filmmagazin Deadline abdrucken. Nimmt man diesen Titel inhaltlich zur Besprechung, schließt sich einerseits der Kreis zum anfangs genannten Gespräch mit Naumann samt dem Einfluss von Lovecrafts Mythen-Schöpfung sowie dem persönlichen Bezug zum Film. Stiglegger beschreibt stimmungsvoll, wie dieser Kultfilm erstmals Einzug in sein Bewusstsein gehalten hat und benutzt etwa die optisch-haptische Qualität der grieseligen, ersten Videokassette, um das besondere Gefühl dieses Low-Budget-Films auf den Betrachter zu reflektieren:

„Das erste Mal Tanz der Teufel. Verrauschter Ton, Störstreifen im Bild, unsicherer Bildstand, Aussetzer. Und doch schien alles zu stimmen. Wir sahen das erste VCL-Tape, das den Film weitgehend ungekürzt reproduzierte. Ich denke noch heute, es war gerade diese miese Qualität, die dem Film gut bekam, ihm quasi einen zusätzlichen Appeal des Geheimnisvollen bescherte…“

Andere kultverdächtige Filme, die zur gleichen Zeit entstanden, waren wie erwähnt Brian De Palmas DRESSED TO KILL (S. 133-144) und Joe Dantes THE HOWLING (S. 112-132). Es war die Zeit der Video-Ära, die frühen Achtzigerjahre, die maßgeblich zur filmischen Sozialisation des Autors beigetragen haben. Bevor Stiglegger auch beruflich epochenübergreifend analysierte, hing und hängt sein Herz(blut) bis heute besonders in dieser Epoche des Kinos, den 1970ern und 1980ern, deren düster-funkelnde Meisterstücke er hautnah miterlebt hat. Ich betone dies, weil es mir, obwohl ungleich jünger, ebenso ergeht und meine Liebe zum Kino sich rückwirkend auf ebenjenen Dekaden begründet. Das war schon eine verdammt mutige und auch rohe Zeit, in der Filmemacher ihre Visionen oftmals ungehindert ausleben konnten. Auch von diesen künstlerischen Eigenheiten, von den gezielten Auslotungen der Möglichkeiten handelt GRENZÜBERSCHREITUNGEN.

Eigensinn und Originalität

Zu den besonders Eigensinnigen, die teils immer noch verkannt und missachtet werden, zählen in diesem Band die Transgressiven Mitch Davis und Karim Hussain sowie der Godfather of gore Lucio Fulci. Wie Letzterer, bei hartgesottenen Fans durchaus beliebt, erst im Laufe seiner Karriere zu einem „viszeralen Kino“ fand und grenzüberschreitende (Eingeweide-)Bilder präsentierte, das analysiert Stiglegger sorgfältig und höchst fundiert. Das Fulci-Kapitel ist Pflichttext, und zwar nicht nur für alle Hardliner unter uns, die wir zwar ehrfürchtig dem Horrorkino huldigen, das gesamte Ausmaß deren Macher und Wirkung aber (noch) nicht gänzlich wahrgenommen haben. Gerade Fulcis Œuvre – von seinen Anfänge im Zeichen der Komödie bis zu seinem oft verkannten Spätwerk – bietet so viel mehr als blanken Horror. Wobei auch seine populärsten (Zombie-)Filme durchgängig ganz eigene Visionen des Grauens darstellen, die eine reine Körperlichkeit weit übersteigen. An dieser Stelle möchte ich einfach und direkt zwei Filme des Maestros empfehlen, die auch explizit in diesem Buch zur Sprache kommen: VERDAMMT ZU LEBEN, VERDAMMT ZU STERBEN (I QUATTRO DELL’APOCALISSE, 1975) als geradezu dystopischer Western und ÜBER DEM JENSEITS (…E tu vivrai nel terrore! L’aldilà, 1981) als Fulcis Höhepunkt seiner Gates of Hell-Trilogie.

Lucio Fulci

Indem Stiglegger bewusst solchen häufig unbeliebten Einzelkämpfern eine professionelle Abhandlung zuspricht, gewährleistet er in einer Vorreiterrolle deren publizistisch-wissenschaftliche Relevanz. Die Künste sind bekanntermaßen ein weites Feld, doch selten wird dem wirklich Abseitigen ein Platz innerhalb zentraler Diskussionen gewährt. Stiglegger jedoch tut dies: im zu befürwortenden Eigensinn, sich von Kanon der hiesigen Filmwissenschaft merklich abzusetzen, zudem aber auch in der höchst respektvollen Achtung vor der abseitigen Filmkunst und ihrer Macher, die sonst kaum – oder gar keine – anspruchsvolle Plattform erhalten würden. Der Autor benötigt für seine entscheidenden Thesen auch keine verkomplizierte Sprache. Klar und zugänglich sind dessen Worte, bestens geeignet für eine eingängige und spannende Lektüre. Vom Titel des Professors braucht sich der Filmfan nie abschrecken lassen (Stiglegger verzichtet bei Publikationen häufig auf den akademischen Grad in der ersten Nennung), denn der Autor ist seiner Leserschaft, wie auch sich selbst, über die Jahre immer treu geblieben.

Abseitige Perlen fischt der Autor aus den Untiefen des kinematographischen Ozeans, bringt uns Schätze in besonderer Aufbereitung. Wenn wir Filmfans, wir Autoren und Sammler jene bereits erprobten Seeleute sind, dann ist Stiglegger unser Käpt’n Ahab, der konsequent den Weg in abseitige Gefilde weist – auf Kollisionskurs mit dem Monströsen, das den schwarzen Wässern entspringt. GRENZÜBERSCHREITUNGEN ist neben aller inhaltlichen und thematischen Relevanz gerade dies: eine Huldigung an das abseitige Kino und sein treues Publikum. Und gerade deshalb ist dieses Buch ausnahmslos zu empfehlen.

  • Marcus Stiglegger 
  • Grenzüberschreitungen 
  • Exkursionen in den Abgrund der Filmgeschichte 
  • Mit einem Vorwort des Filmemachers Buddy Giovinazzo 
  • 240 Seiten, farbige Abbildungen 
  • ISBN 978-3-927795-80-8 
  • Euro 17.80
  • Martin Schmitz Verlag

 

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