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Filmjahr 2020 | 2021 (Lexikon des Internationalen Films) – Buchreview

Standardwerk

Über Film und Kino zu lesen, das steht in meiner Autoren-Minibeschreibung, ist für mich genauso wichtig wie das Filmeschauen selbst. Film als selbstreflexives Medium zu begreifen, als Text selbst, setzt eine Bereitschaft voraus, sich mit dessen (inter-)textuellen Bezügen auseinanderzusetzen. Euch lieben Leser*innen brauchen wir das nicht zu sagen, es ist ja gewissermaßen preaching to the converted. Heute ist es wieder an der Zeit, über eines der Standardwerke der Filmpublizistik im deutschsprachigen Raum nachzudenken: die jährliche Ausgabe vom „Filmjahr“, dem Lexikon des Internationalen Films (Schüren-Verlag) unter Leitung der Redaktion vom katholischen Filmdienst, der seit ein paar Jahren als Onlineportal filmdienst.de weitergeführt wird. Kernredaktion der Website sowie dieser Printpublikation: Jörg Gerle, Felicitas Kleiner, Josef Lederle und Marius Nobach. Das Filmjahr erscheint wie erwähnt jährlich und ist unter Berücksichtigung des Titels selbstredend aufarbeitend zu denken, bietet Chroniken, Analysen und Berichte des vergangenen Jahres: das aktuelle Filmjahr 2020|2021 lässt also vor allem 2020 – das Pandemie-Jahr – Revue passieren und wagt einen Ausblick auf das kommende (in unserem Fall das bereits auf Hochtouren laufende und beinahe schon wieder vor dem Abschluss stehende 2021). Seit jeher darf das Jahrbuch des Lexikons des Internationalen Films dabei als zuverlässiges Nachschlagewerk gelten, in der aktuellen Ausgabe mit nahezu 1.400 Besprechungen. Zahlreiche renommierte Autor*innen kommen zu Wort. Dieses Buch betitelt sich auf dem Backcover völlig zu Recht mittlerweile als den „Klassiker zum Lesen, Stöbern, Nachschlagen, für Cineasten, Filmschaffende und Lehrende“. Wer noch nicht oder schon länger nicht mehr einen Jahrgang in der Hand hatte, dem sei neben der unbedingten Empfehlung sogleich ein Überblick dargeboten.

Überblick

Das Filmjahr bietet das komplette Kinoangebot und das Wichtigste aus Fernsehen und Heimkino, mit Kurzkritiken und zahlreichen Abbildungen. Das Kompendium versteht sich als Zusammenführung und Erweiterungen der Film- und Themenbesprechungen, die im Laufe des Jahres auf dem Portal filmdienst.de entstanden sind, doch es gibt auch exklusive Beiträge, die nur für das Printwerk verfasst wurden. Aufgrund der Fülle der Beiträge kann eine detaillierte Beschreibung bzw. individuelle Differenzierung hier nicht vorgenommen werden. Doch die potenziellen Leser*innen können versichert sein: beim Verfassen und Zusammenstellen der Beiträge wurde mit großer redaktioneller Sorgfalt gearbeitet. Bevor die Kapitel im Folgenden gegliedert und kompakt vorgestellt werden, noch ein kleiner Hinweis: hier und da werden auch wir sachliche Kritik vornehmen, es gibt zumindest drei Punkte, bei der auch wir als (wenngleich unbedeutendere) Redaktion noch Verbesserungsbedarf sehen. Dies auch für unsere Leser*innen, damit sie sich ein möglichst differenziertes Bild auch von diesem (Standard-)Werk machen können. Doch Anlass zu grundlegender Kritik gibt es bei diesem Buch nicht: es erfüllt die Erwartungen und stellt in den thematischen Bereichen eine qualitative Konstante, wenn nicht sogar Verbesserung zu den ohnehin bemerkenswerten Vorgängerbänden anno 2018 und 2019 dar.

Das Buch thematisch im Überblick (9+4* Kapitel):

* nummeriert sind im Buch explizit 1. bis 9. als thematisch differenzierte Kapitel auf den ersten 225 Seiten; das Nachschlagewerk umfasst aber 542 Seiten, demzufolge habe ich mit Beginn des Filmlexikons 2020, das mit 250 Seiten allein den Hauptteil des Buches ausmacht, 4 eigene Kapitelnummern zur besseren Übersicht hinzugefügt

  1. Vorwort und thematische Hinführung mit ausführlicher Chronik zum Pandemie-Jahr 2020: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst!“ (S. 8–41)
  2. Die 20 besten Kinofilme des Jahres 2020 (S. 42–74)
  3. 15 bemerkenswerte Serien 2020 (S. 75–101)
  4. Filmbranche & Filmkultur (S. 102–115)
  5. Themen & Motive (S. 116–138)
  6. Filmschaffende im Porträt (S. 139–175)
  7. Deutsches Kino – Interviews (S. 176–189)
  8. Internationales Kino – Interviews (S. 190–203)
  9. In memoriam – Nachrufe (S. 204–225)
  10. Kinotipps des katholischen Filmkritik inkl. „Sehenswert“ und „Diskussionswert“ 2020 als Hinführung zum Filmlexikon (S. 226–229) sowie das umfangreiche Filmlexikon selbst (S. 230–479)
  11. Silberlinge 2020 – Herausragende Blu-ray und 4K-UHD-Editionen
  12. Preise 2020 (u. a. Deutscher Filmpreis, Europäischer Filmpreis, Preis der deutschen Filmkritik, Festivalpreise…)
  13. Register (Regisseur*innen, S. 520–535, sowie Originaltitel, S. 536–542)

Thematische/inhaltliche Highlights

Einem wohlkuratierten Nachschlagewerk über Kino und Film möchte man keines der abgedruckten Kapitel absprechen bzw. als weniger wertvoll als andere bezeichnen. Bei der Auswahl der Filme, Themen und Autor*innen beweist die Redaktion einmal mehr ein sehr gutes Händchen. Natürlich steht alles unter dem ebenso herausfordernden wie spannenden Stern des Pandemie-Jahres, das zahlreiche Einschränkungen – bis zum ersten vollständigen Kino-Stillstand über Monate hinweg seit Erfindung des Mediums – und spürbare Rückschläge zu verzeichnen hatte. Doch machte sich Kino als Sehnsuchtsort gerade in dieser Zeit immer stärker bemerkbar, worauf auch gelungen im Vorwort eingegangen wird: eine Streaming-Müdigkeit war in einem Bruchteil der Zeit zu verzeichnen, wo Jahrzehnte des Kinos eher Weiterentwicklung und Vergrößerung mit sich brachten. Soll heißen: die Koexistenz zwischen dem von Medien nur noch so durchzogenen privaten und dem „echten“ kulturellen öffentlichen Raum sind nur zusammen denkbar – das gilt aber stets auch in Richtung pro Kino und öffentliche Filmkultur. Die Menschen brauchen einander und das Kino. Ein Publikum lässt sich nicht gelungen simulieren. Betreiber*innen von Filmfestivals sehen ihre eigenen innovativen Online- bzw. Hybrid-Lösungen selbst als Versionen des Übergangs. (Bereits in diesem nur leicht erholten Jahr 2021 drängte alles sogleich forciert nach außen, wenngleich noch lange nicht in der öffentlichen Form wie wir sie zuvor erlebt hatten).

 

QUEEN & SLIM // © 2019 Universal Pictures

Das Highlight der Themenartikel (Kapitel 5) ist ohne jeden Zweifel Sofia Glasls berauschender Text zum gegenwärtigen New Black Cinema mit dem schlagfertigen Titel „Das Herz ist ein Muskel in der Größe einer Faust“. Mit beachtlichem Fachwissen, viel Verve und einem unbeirrbaren roten Faden zieht die Autorin einen gründlichen Querschnitt durch die aktuelle filmische Strömung. Werke wie THE HATE U GIVE (2019, R: George Tilman Jr.), MONSTERS AND MEN (2018, R: Reinaldo Marcus Green), NÄCHSTER HALT: FRUITVALE STATION (2018, R: Ryan Coogler, der daraufhin BLACK PANTHER machen durfte), BEALE STREET (2018, R: Barry Jenkins), das berauschende Debüt QUEEN & SLIM (2019, R: Melina Matsoukas) sowie Spike Lees DA 5 BLOOD (2018) werden hier fachkundig beleuchtet und flüssig in einen Kontext eingebettet, dass es nur so eine Freude ist. Natürlich kommen auch Fans von Jordan Peele voll auf ihre Kosten. Am Ende gibt die Autorin ganz richtig einen Ausblick: „Der Paradigmenwechsel im US-amerikanischen Kino ist angeschoben, aber noch nicht vollzogen. Der Begriff der ‚critical whiteness‘ […] kommt in der öffentlichen Diskussion langsam an. Er zeigt blinde Flecken in der Wahrnehmung der weißen Bevölkerung auf und macht auf Missverständnisse und Irrglauben aufmerksam.“ Ähnlich wie Glasls Text machte auf mich noch der Themenartikel über „Sterbehilfe im Film“ von Rainer Gansera Eindruck. Auch dieser ist als hochaktuelle Kontextualisierung zwischen Kunst und Gesellschaft zu sehen.

Für mich als ausdrücklichen Unterstützer – sowohl als Autor als auch als Käufer – von haptischen Heimmedien von Film, also Blu-ray- und mittlerweile auch 4K-UHD-Editionen, ist das Kapitel „Silberlinge“ über die herausragenden Heimkino-Editionen des Jahres stets das erste was ich aufschlage. Im Vergleich zum Vorjahr ist hier eine deutliche Verbesserung in Bezug auf die Diversität der anbietenden Labels festzustellen. Sorgfältig werden die besten Heimkino-Veröffentlichungen besprochen, wie üblich bestehend aus Kurzkritik zum Films selbst und daraufhin mit einer Chronologie der bisherigen (deutschsprachigen) Fassungen, mit dem Fokus auf die prämierte(n) aktuelle(n) Veröffentlichung(en) eines jeden Titels. Das Bonusmaterial wird dabei fast immer vollständig genannt, lediglich bei der Nennung der Autor*innen der Booklet-Texte bzw. hinsichtlich einzelner (vergessener) Special Features könnte man noch das letztgültige Maß Sorgfalt walten lassen. Kurz zur Quote: die Spitzenreiter unter den Labels sind Koch Films (13 Titel, davon einer in Kooperation mit Capelight, die auf 4 Zähler kommen), Studiocanal/Arthaus (9), Turbine (5) und Universal (4). Die acht übrigen Labels kommen insgesamt auf neun Titel, wobei Columbia ein viele Filme umspannendes Box-Set im Angebot hat. Ergibt eine Verteilungsquote von 13:44, also 13 Labels und 44 Releases gesamt. Zum Vergleich: diese lag im Vorjahr bei 8:34, bot also deutlich weniger Auswahl bzw. Repräsentation unseres doch sehr diversen Heimkinomarkts.

Einer der Silberlinge 2020: FLASH GORDON von Studiocanal

Drei Kritikpunkte

Kurz und kompakt möchte ich drei Kritikpunkte anbringen:

1. Der Themenkomplex „Filmbranche & Filmkultur“ (Kapitel 4) ist vor dem Hintergrund des wohl gravierendsten Einschnitts des Kinos durch Corona mit vier Texten von drei Autoren deutlich zu klein und auch etwas monoton ausgefallen. Die vorhandenen Texte sind zunächst allesamt sehr lesenswert, tiefgründig, teils gar philosophisch. Zwei davon entstammen der Feder des renommierten Filmkritikers und Journalisten Rüdiger Suchsland, einmal ein Interview mit dem nicht weniger renommierten Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen Lars Henrik Gass (der selbst bereits zwei Bücher über „Film und Kunst nach dem Kino“ publizierte). Suchslands Beiträge sind sehr gut, das steht außer Frage, aber, auch in Zusammenhang mit Gass, da die beiden durchweg im Dialog stehen und viel gemeinsam publizieren, setzt sich im direkten Vergleich mit dem Vorjahresband eine gewisse Monotonie fort: auch dort entstanden drei von fünf Artikeln aus deren Feder, 60%. Betrachtet man das aktuelle Interview als einen ausführlichen (Doppel-)Text von zwei Personen im Dialog, kommen Suchsland und Gass auch in diesem Band auf exakt dieselbe Quote. Wie gesagt: Ihre Texte sind sehr gut und wichtig für den hiesigen filmpolitischen Diskurs. Aber allein der Abwechslung halber – und Themen gäbe es genug – sollte man sich für den nächsten Band wieder an Verteilung und Umfang der Ausgabe „2018“ orientieren: hier stellten fünf Autor*innen sechs Texte. Was mir hier inmitten der nachvollziehbar „offenen Fragen“ und dem Ohnmachtsgefühl anno 2020 letztlich noch fehlt, ist eine Abbildung der Schlagfertigkeit und den Widrigkeiten trotzenden (Klein-)Unternehmern selbst, die Kino machten, wo es kaum möglich war. Ein Beispiel: unzählige Autokinos sprossen im Pandemie-Jahr wie Pilze aus dem Boden bzw. aus dem Asphalt und boten in Zeiten der Dunkelheit einige kleine, aber umso heller leuchtende Sterne am Firmament des Kino-Himmels. Ganze Festivals wandelten sich kurzzeitig zu sympathischen Drive-ins. Von diesem situationsbedingten Fieber ist hier so gut wie nichts zu lesen geschweige denn zu spüren. Hier wären ein, zwei Interviews mit Autokino-Machern spannend und zielführend gewesen, hätten ein realistisches und praxisnahes Abbild der Situation vermittelt. Über das Phänomen Autokino hatten 2020 unzählige Zeitungen, Zeitschriften und Radiostationen berichtet (ich selbst war beim österreichischen Radio FM4 zu Gast, ebenso live vor Ort als Gesprächspartner bei den Heimat Europa Filmfestspielen im Hunsrück). Auf filmdienst.de habe ich sogar einen passenden Artikel über Autokino gefunden; schade, dass man diesen nicht ins Buch übernommen hat.

2. Allgemein gefällt mir die Auswahl der Texte bei Kapitel 5, „Themen und Motive“, recht gut, aber auch hier könnte man sich inhaltlich noch mehr trauen. Nun ist der Filmdienst als katholisches Filmmagazin nicht unbedingt der Vorreiter für abseitige oder gar grenzüberschreitende Themen, schon gar nicht in Verbindung von Sex und Gewalt, doch hat sich in den vergangenen Jahren hier Einiges getan. Man geht definitiv mit der Zeit, allzu konservative Kritiken bilden eher die Ausnahme. Doch bietet der Dreiseiter über „Horror heute“ doch eher einen arg verknappten Überblick als die erhoffte tiefgehende thematische Beschäftigung, zumal die neue Welle des transgressiven (Körper-)Horrors mit keiner Silbe erwähnt wird und ausgerechnet mit VHS: VIRAL und UNKNOWN USER zwei Beispiele aus dem Jahr 2014 thematisch stärker bemüht werden, um den bildschirmflächigen Internet-Horror noch einmal aufzuwärmen, der bereits vor zwanzig Jahren mit PULSE u. a. begann (auch dieser wird explizit genannt). Heute, im Hier und Jetzt, könnte und sollte bald mit POSSESSOR und TITANE noch einmal eine Lücke hin zum gegenwärtigen, körperlich so starken Kino geschlossen werden. Und auch das Internet sollte spätestens nach den explodierten Shitstorms von und über Künstler*innen in den „sozialen“ Medien gegenwärtig aktueller aufgearbeitet werden, also auch wieder filmkulturell bzw. -politisch, also in Kapitel 4. Es würde mich überraschen, wenn in der nächsten Edition tatsächlich jemand anderes als Rüdiger Suchsland über dieses Thema schreiben würde.

3. Auch wenn die Label-Diversität bei den Silberlingen bzw. besonderen Heimkino-Editionen (die sich vereinzelt auch inmitten der 250 Seiten Filmlexikon finden) im Vergleich zu den Vorjahren deutlich zugenommen hat, fehlen hier immer noch mindestens zwei, drei der kleineren Labels, die im Vergleich zu ihrer Bekanntheit hervorragende Arbeit leisten in Bezug auf Präsentation/Restaurierung des Hauptfilms, Ausstattung in Form von teils hochqualitativem, eigens produziertem Bonusmaterial sowie der haptischen Qualität der Editionen, die mitunter die schönsten Booklets (Text sowie Layout) enthalten: die Sprache ist hier vor allem von der vorbildlichen Arbeit der Labels Subkultur-Entertainment, Wicked Vision und Camera Obscura, wobei man in einzelnen Fällen auch noch die Arbeit von weiteren spezielleren Labels würdigen könnte. Ich sag es ganz klar: ich erwarte im nächsten Band vom „Filmjahr“ jeweils einen Titel der soeben genannten Labels, da diese in 2021 filmhistorisch wichtige Mediabooks und Collector’s Editions auf den Markt gebracht haben, die ihresgleichen suchen (u. a. DEADLOCK Ultimate Edition, DER NACHTPORTIER und MICHAEL HANEKE-Trilogie).

Fazit

Für alle ernsthaft Interessierten Filmliebhaber*innen ist dieses Nachschlagewerk als jährliches Update unbedingt zu empfehlen! Film verstehen heißt hier wie dort: Film lesen. Auch wenn kleinere Makel bei der einzelnen Titelauswahl und -bewertung sowie bei der thematischen Gestaltung bzw. Schwerpunktsetzung erkennbar sind, ist der übergreifende Eindruck gewohnt zuverlässig und äußerst informativ. Die bewährte Chronik + Filmlexikon „Filmjahr“ des Lexikons des Internationalen Films sollte gerade auch für das pandemische Jahr 2020|2021 als Ergänzung Eingang in das heimische Regal finden. Schneller und gebündelter lässt sich keine Information für den aktuellen Gebrauch von Film und (Heim-)Kino finden – auch nicht im Internet.

© Stefan Jung

  • Filmjahr 2020|2021
  • Schüren Verlag
  • Mit Texten von Jörg Gerle, Felicitas Kleiner, Josef Lederle, Marius Nobach, Rainer Gansera, Sofia Glasl, Patrick Holzapfel, Thomas Klein, Margret Köhler, Rüdiger Suchsland
  • 544 Seiten
  • 28,– €
  • ISBN 978-3-7410-0371-4
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