INTERSTELLA 5555 – THE 5TORY OF THE 5ECRET 5TAR 5YSTEM ist die vollständige Film-Animation des Daft Punk-Albums Discovery (2001), mit dessen gewaltigem Erfolg an der Chartfront das französische House-Duo quasi über Nacht zu internationalem Starruhm gelangte. Daft Punk, bestehend aus Thomas Bangalter und Guy-Manuel de Homem-Christo, erfüllten sich mit INTERSTELLA 5555 einen Kindheitstraum und trugen die Produktionskosten von zirka vier Millionen Dollar aus eigener Tasche (was angesichts ihres damaligen musikalischen Mega-Erfolgs sicherlich auch keine größeren Probleme dargestellt haben dürfte). Es wird oft gesagt, dass die frühzeitige Single-Auskopplung „One More Time“ (November 2000), die alleine über 40 Millionen Mal verkauft wurde, auch den entscheidenden Beitrag zu dem filmischen Anime-Projekt geleistet hätte. Dies stimmt allerdings nur bedingt.
Fakt ist, dass Daft Punk zusammen mit ihrem Geschäftspartner und künstlerischen Kollaborateur Cédric Hervet das vollendete Discovery-Album im September 2000 nach Japan gebracht haben, um dort ihr Kindheitsidol, den Manga-Zeichner Leiji Matsumoto, zu treffen. Matsumoto war u.a. für die Manga und Anime CAPTAIN HARLOCK (1977-79), GALAXY EXPRESS 999 (1977-81), DIE KÖNIGIN DER TAUSEND JAHRE (Shin Taketori Monogatari, 1980-83) und ARCADIA OF MY YOUTH (Waga seishun no Arcadia, 1982) verantwortlich. Die Arbeit mit ihm kam nach einigen Monaten des wiederholten Kontaktversuchs schließlich zustande und stellte für das Duo eine Ehre dar. Als Regisseur wurde Kazuhisa Takenouchi, als Herstellungsleiter für die Zeichnungen Shinji Shimizu beauftragt. Matsumoto wirkte selbst als Architekt der gezeichneten Räume mit, ist also vorrangiger Konstrukteur der erzählten Welt von INTERSTELLA 5555. Sein Einfluss reicht darüberhinaus bis zur Gestaltung einzelner Charaktere.
Kapitel
Prolog
Der Manga-Virtuose und Designer von INTERSTELLA 5555, Leiji Matsumoto, ist in einem Interview zu sehen. Das Bild ist in schwarz/weiß und leicht verpixelt, parallel dazu laufen die Eröffnungstitel in schlichten, weißen Buchstaben. Er erzählt, dass er schon immer an die Macht der Musik geglaubt hat und beschreibt seine Erfahrung damit als leuchtendes, fließendes Licht. Links und rechts von ihm sind ganz kurz die zwei Mitglieder von Daft Punk mit ihren Roboterhelmen zu sehen, danach beginnt eine Tunnelfahrt in gleißenden Lichtstrahlen.
„One More Time“
Auf einem fernen Planeten tritt eine vierköpfige Band in einem Konzert auf. Die komplette Bevölkerung verfolgt den Auftritt live oder im Fernsehen und versinkt im Tanzfieber. Das Aussehen der Bevölkerung gleicht dem von Menschen, doch ihre Hautfarbe ist blau. In dem Trubel nähert sich unbemerkt ein Raumschiff und nimmt über dem Konzertsaal Position ein.
„Aerodynamic“
Aus dem Raumschiff dringen Vermummte in den Konzertsaal und die Sicherungsstationen des Planeten ein und betäuben alle Gäste, die Musiker und das Wachpersonal mit Gas. Als einziger leistet der Gitarrist der Band Widerstand und versucht zu flüchten. Nachdem auch er betäubt wurde, bringen die Vermummten die Musiker und ihre Instrumente an Bord des Raumschiffes und verschwinden. Das inzwischen erwachte Wachpersonal schlägt Alarm.
„Digital Love“
Der Raumfahrer Shep wird bei der Wartung seines gitarrenförmigen Raumschiffes gezeigt. Dabei singt er ein Lied der Band. Während er noch immer singt, begibt er sich in das Quartier seines Schiffes und beginnt, in Tagträumen die Bassistin der Band vor sich zu sehen, in die er verliebt zu sein scheint. Ein Alarm reißt ihn aus seiner Traumwelt. Er erfährt von der Entführung der Band und nimmt die Verfolgung des fremden Raumschiffes auf. Dabei folgt er ihm durch ein Wurmloch, eine Art Zeitportal. Beide Schiffe kommen am Ende des Wurmlochs an und landen auf der Erde; dabei wird Sheps Schiff beschädigt, als es in einer dichten Waldlandschaft aufkommt.
„Harder, Better, Faster, Stronger“
Die immer noch betäubte Band wird in eine Art Fabrik geschafft. In einem vollautomatisierten Prozess werden sie dort den Menschen ähnlich gemacht, indem ihre blaue Haut umgefärbt und ihre Kleidung ersetzt wird. Auch ihre Erinnerungen werden ausgetauscht. So werden z.B. Erinnerungen in denen der Gitarrist als Kind mit einem Hovercraft über eine Mondlandschaft fliegt durch ähnliche Erinnerungen mit menschlicher Haut, einem Dreirad und einer grünen Wiese ersetzt. Hinter den Sichtgläsern der Brillen, die ihnen aufgesetzt werden, befinden sich optische Kontrollgeräte, mit denen die Gedächtnisfunktionen der Entführten über ihre Augen kontrolliert werden können. Nach der Umgestaltung werden sie aufgeweckt und zu ihrem neuen Produzenten gebracht.
„Crescendolls“
Der Produzent bringt die Band, die nun Crescendolls genannt wird zu einem Verleger. Dieser ist total begeistert von der Band und nimmt sie sogleich unter Vertrag. Sie werden massiv beworben und es bricht auf der Erde der gleiche Hype um die Crescendolls aus wie auf ihrem Heimatplaneten. Auffällig ist jedoch die Emotionslosigkeit der Bandmitglieder.
„Nightvision“
Die Band ist nach dem Rummel um sich vollkommen entkräftet und antriebslos. Doch der Produzent zwingt sie, auch in ihren Pausen ununterbrochen Autogrammkarten zu signieren. Shep ist inzwischen in der Stadt angekommen und erkennt die Crescendolls wieder. Allerdings muss er sich im Verborgenen halten, da er immer noch wie ein Außerirdischer aussieht.
„Superheroes“
Der Hype um die Band geht weiter und der Produzent inszeniert ein riesiges Konzert. Im Laufe des Konzerts fliegt Shep mit einem Jetpack auf die Bühne und zerstört die Kontrollgeräte des Gitarristen, des Drummers und des Sängers. Als er die Bassistin retten will, kommt ihm allerdings der Produzent in die Quere. Die drei anderen sind inzwischen zu sich gekommen, wirken aber noch orientierungslos; sie können mit Shep flüchten. Bei einer anschließenden Verfolgungsjagd wird Shep von einem der Handlanger des Produzenten angeschossen, doch gelingt den Helden die Flucht. Die Handlanger des Produzenten, so stellt sich während der Verfolgung heraus, sind Roboter.
„High Life“
Der Produzent nutzt Stella, die Bassistin, weiterhin für seine Zwecke und besucht mit ihr Events der Schickeria, Modeschauen und die Verleihung der Goldenen Schallplatte, für die die Band nominiert wurde. Dabei fällt ihr eine Visitenkarte des Produzenten in die Hände. Die Crescendolls gewinnen die Goldene Schallplatte. Während der Produzent und Stella den Preis entgegennehmen, gelingt es dem Drummer, der sich hinter der Menge des Publikums getarnt hat, das Kontrollgerät seiner Bandpartnerin zu zerstören. Unbeachtet kann Stella von der Bühne verschwinden und beide entkommen.
„Something About Us“
Während sie sich in einer Lagerhalle verstecken, teilt Shep seinen Tagtraum mit Stella und erliegt seinen Verletzungen. Er träumt von einem gemeinsamen Wolkenspaziergang; am Ende des Traums scheint er weit nach oben, in den ewigen Himmel zu gleiten, während Stella wieder auf die Erde zurückkehrt. Nachdem Shep gestorben ist, schwebt in Stellas Hand ein Hologramm, das die Band darstellt und die Vergangenheit zeigt, an die sich die Mitglieder zunächst nicht mehr erinnern können. Es zeigt auch, welch großer Fan von der Band Shep war.
„Voyager“
Traurig und niedergeschlagen fährt die Band hinaus aus der Vorstadt und aufs Land. Sie begraben den treuen Shep unter einem Baum. Während sie Abschied nehmen steigt sein Geist aus dem Grab empor und verabschiedet sich von ihnen. Die vier beschließen, die Adresse auf der Visitenkarte zu besuchen.
„Veridis Quo“
Die Adresse stellt sich als Schloss heraus. Dort findet die Gruppe ein Buch, in dem steht, dass der Produzent der Sohn von Earl de Darkwood ist. Er musste mit ansehen, wie sein Vater vor Jahrhunderten beim Einschlag eines Kometen starb (dieser Komet war bereits nach dem Prolog des Films zu sehen). Im Laufe seines Lebens entdeckte er eine Möglichkeit, das Universum zu beherrschen. Er entführte Aliens von der anderen Seite des Portals und machte sie zu berühmten Musikern, die er kontrollierte (u.a. Mozart, den er hier noch als Jungen wieder aus dem Leben nahm). Dadurch gewann er Goldene Schallplatten. 5555 davon muss er sammeln, um seinen Vater wieder ins Leben zurückzuholen; die 5555. ist die der Crescendolls. Die Band wird von den Robotern entdeckt und zu dem Produzenten gebracht, welcher Stella opfern will, indem er (am 5. Mai 2005 um 05:55) die Schallplatten und Stella mit einer Apparatur verschmilzt. Im letzten Kampf stirbt der Produzent und Stella wird gerettet.
„Short Circuit“
Während des Kampfes bricht unter dem Schloss ein Vulkan aus. Die Band schafft es, zu entkommen und fährt zurück in die Stadt. Auf der Fahrt entdecken sie in dem Buch des Produzenten, was mit ihren Erinnerungen passiert ist und dass diese auf einer Art Diskette gespeichert worden sind. Der Sänger bricht in das Gebäude der Plattenfirma ein bringt die Diskette in seinen Besitz. Als er jedoch das Gebäude verlassen will, wird er von der Polizei gestellt. Bevor er erklären kann, warum er eingebrochen ist, wird er mit einem Elektroschocker niederstreckt. Der Verleger kommt dazu und erkennt den Sänger. Als er ihm helfen will, sieht er, wie der Sänger wieder sein ursprüngliches blaues Aussehen annimmt. Inzwischen wird der Rest der Band von der Polizei gestellt.
„Face to Face“
Der Verleger erkennt, dass die Band von einem anderen Planeten kommt und informiert die Öffentlichkeit. Die Mitglieder der Band erhalten ihr ursprüngliches Aussehen und ihre Erinnerungen zurück. Das Raumschiff von Shep wird repariert, damit sie wieder nach Hause können. Diese Ereignisse werden größtenteils in Nachrichtenbildern gezeigt.
„Too Long“
Als sich die Band mit dem Raumschiff zwischen den Portalen befindet, taucht noch einmal der Geist des Produzenten auf und versucht, sich zu rächen. Jedoch werden sie durch den Geist von Shep, der ebenfalls erscheint, beschützt und können so unbeschadet das Portal verlassen. Auf der Reise nach Hause denken alle noch einmal an Shep und bedanken sich bei ihm, indem sie für ihn spielen. Auf ihrem Heimatplaneten angekommen werden sie begeistert empfangen und geben sogleich ein Konzert, welches auch auf die Erde übertragen wird. Zu Ehren von Sheps Heldentum wird diesem ein Denkmal errichtet.
Epilog
Beim Auslaufen des letzten Titels wird ein kleiner Junge gezeigt, der vor seinem Plattenspieler eingeschlafen ist. Er kuschelt mit ein paar Crescendolls-Puppen. Im Zimmer verteilt liegen Daft Punk-Puppen, Daft Punk-Alben (alle bisher erschienenen zwei Studioalben, sowie das erste Live-Album von 2001; auch abgebildet ist die DVD-Zusammenstellung D.A.F.T. von 1999) sowie alle wichtigen Figuren des Films als Puppen.
Entstehung
„One More Time“ war die erste Singleauskopplung und gleichzeitig auch das erste Stück auf Discovery, weshalb es nicht verwundert, dass die Animation dieses Tracks auch als erste fertiggestellt wurde. Tatsächlich liefen alle ersten vier Lieder des Albums bereits ab Ende 2000 bzw. Anfang 2001 in den internationalen Videocharts; d.h. während in Japan die Produktion des Gesamtfilms noch auf Hochtouren lief und schließlich Anfang 2003 fertiggestellt wurde, konnte man den Anfang daraus bereits im Clip-Format im Fernsehen sehen. Neben MTV zeigte auch der Sender Cartoon Network die ersten vier Episoden des Films. Cartoon Network stellte die Tracks online im Rahmen ihres kurzlebigen Projekts Toonami Reactor (das später als Toonami Jetstream wiederbelebt wurde). Produktion und Veröffentlichung von INTERSTELLA 5555 gingen demnach eine ganze Zeit lang parallel voran, es wäre aber falsch zu behaupten, das Gesamtwerk sei erst nachträglich als Ergänzung zu den ersten Videoclips gedacht gewesen.
Bereits im Clipformat offenbarte sich dem internationalen (Fernseh-)Publikum das grundlegende inhaltliche Konzept von INTERSTELLA 55555. Die ersten vier Titel – nach „One More Time“ dann „Aerodynamic“, „Digital Love“ und „Harder, Better, Faster, Stronger“ – bauten im Narrativ jeweils aufeinander auf, also das Ende des ersten Clips ging adäquat in den Beginn des zweiten über usw. Mit INTERSTELLA 5555 erzählen Daft Punk nun die gesamte, abenteuerliche Geschichte einer intergalaktischen Musikband (die sinngemäße Übersetzung des japanischen Filmtitels lautet in etwa „die vier 5“), deren Mitglieder von ihrem Heimatplaneten entführt und zu musikproduktiven Zwecken auf der Erde in Menschen umgewandelt werden. Dort sollen sie ihre Hits performen und den Managern Geld einspielen. Die genaue Inhaltsverteilung entspricht in exakter Reihenfolge den Liedern des Discovery-Albums; auf zusätzliche Textpassagen wird dabei gänzlich verzichtet.
Im Folgenden eine kurze Auflistung der Kapitel, nun in Zusammenhang mit der stilistischen Hauptprägung durch die Musik, wodurch manche Stellen stärker als stimmungsvoller House-Soundtrack, ein paar eher als Fantasyspektakel mit Musikbegleitung und einige als cyberpunkartiger Großstadtkrimi mit relativ reifer, charakterorientierter Erzählstruktur wirken:
Soundtrack (Musik im Vordergrund)
- One More Time
- Digital Love
- Too Long
Sci-Fi-Abenteuer (Musik als dynamisches Erzählmittel, viel Action und Bewegung)
- Aerodynamic
- Digital Love
Cyberpunk-Vision (auf der Erde, Wechsel von Action, Spannung und dramatischen Elementen)
- Harder, Better, Faster, Stronger
- Nighvision
- Short Circuit
- Face to Face
Kritik an den Medien, insbesondere der Musikbranche / Unterhaltugsindustrie
- Harder, Better, Faster, Stronger
- Crescendolls
- Superheroes
- High Life
Fantasy (auf der Erde, jedoch mit auffällig phantastischen Elementen wie z.B. Träume, Visionen)
- Something About Us
- Veridis Quo
- Voyager
Produziert wurde INTERSTELLA 5555 wie bereits angemerkt in Japan, aber auch Frankreich, die USA und England schossen in verschiedenen Formen Vertriebsrechte hinzu. Das Studio, für das Matsumoto und Takenouchi die künstlerische Leitung übernahmen, war das berühmte Studio Toei, neben Hayao Miyazakis Studio Ghibli das bedeutendste seiner Art in Japan.
Mit einer gekonnten Verbindung aus Abenteuerfilm, Science-Fiction-Epos und Musical-Drama trafen Daft Punk und Toei genau den Nerv der damaligen Zeit, des beginnenden neuen Jahrtausends. Mit ihren Protagonisten schufen sie echte Helden, die gerade deshalb so bewundernswert sind, weil sie selbst dem ihnen durch die Menschen aufgedrängten Status der (Musik-)Ikonen – ein Track heißt „Superheroes“, ein weiterer Hit „Harder, Better, Faster, Stronger“ – wieder abschwören wollen. Die vier 5 von INTERSTELLA 5555 wollen einfach nur in Frieden ihre Musik spielen und bedauern die Entführung und Manipulation durch die Menschen zutiefst.
Hinter diesem sozialkritischen Thema verbirgt sich natürlich auch ein derber Seitenhieb auf die reale Musikwirtschaft und Daft Punks langjähriges Label Virgin, das dank des ruhmvollen Status’ der Formation in der Branche immer noch viel Geld verdient (für Virgin als Tochtergesellschaft von EMI standen Daft Punk noch bis Anfang 2013 unter Vertrag, bis sie ihr jüngstes Album Random Access Memories bei Sony/Columbia veröffentlichten). Visuell ist gerade deshalb bereits der Erstling „One More Time“ bemerkenswert, weil sich schon in den ersten fünf Minuten des Films die Initialbotschaft bzw. Systemkritik versteckt: Ein Invasor betrachtet mit Hilfe seiner Anlage die Kultur-Idole einer außerirdischen Rasse (Daft Punk sehen sich selbst auch als Außerirdische, als Roboter, die Musik machen) und nimmt sie als Geiseln für den erwünschten Eigenerfolg der profitgierigen Menschen. Dieser doppelte Boden durchzieht den gesamten Spielfilm und wird im Laufe der einzelnen Tracks noch weiter konkretisiert. INTERSTELLA 5555 ist demnach kein Kinderfilm, seine Thematik ist dafür viel zu komplex, jugendfrei gestaltet ist er dabei jedoch allemal.
Ähnlich wie Daft Punks eigene Alben, die fast durchgängig von kräftigen Beats und eindringlich-wummernden Tonfolgen zehren, ist dieser Film voller visueller Reize (und dabei nur selten mit zusätzlichen Toneffekten versehen), die die Musik untermalen und in dieser Kombination durchaus auch von nicht zu verachtender Intensität. Dazwischen gibt es auch die nötigen, ruhigen Momente zum durchatmen. Ein „animiertes House-Musical“ wie der Untertitel auf dem DVD-Cover besagt, gab es in dieser Form auch noch nicht, sodass das Alleinstellungsmerkmal sicherlich auch seinen sehgewohnheitlichen Disput fordert.
Durch den erfolgreichen Einfluss von Daft Punk als Musiker geschah etwas Bemerkenswertes hinsichtlich dieser medialen Verbindung: der Anime-Film wurde als Kulturform plötzlich einem Publikum zugänglich, das sich vorher noch nie damit auseinandergesetzt hatte. Anders als europäische Trickfilme oder auch „amerikanisierte Animes“ wie z.B. SABER RIDER AND THE STAR SHERIFFS, der einige Wildwest-Spezifika aufweist, sind authentische Anime visuell unvergleichlich, für den Betrachter, der dies nicht kennt, auch schon einmal sehr ungewöhnlich. Bei Anime wird häufig limited animation angewandt, sodass die Bewegungsabläufe teils unterbrochen erscheinen. Diese Art der Verzögerung bzw. visuellen Versetzung ist charakteristisch für das Medium. Dabei ist limited animation als Stilmittel fest etabliert und ist eben nicht vom aktuellsten Stand filmischer Techniken zusammen (gegenwärtige Verbindung von 3D und limited Animation sind an der Tagesordnung). Auch werden häufig Techniken in Anime vorgefunden – so auch hier bei INTERSTELLA 5555 – die für gewöhnlich dem Spielfilm-Kino zuzuordnen sind. Kinematographische Effekte sind hier z.B. Zoom, subjektive Kameraperspektive oder Panoramaaufnahmen; aber auch Tiefenschärfe oder Bewegungsunschärfe werden simuliert. In einigen Szenen herrscht eine rege Bildfrequenz, die erhöhte Montage wird hier genau wie beim Spielfilm zur Erzeugung von Dynamik eingesetzt. Ruhephasen entstehen – in INTERSTELLA 5555 geradezu beispielhaft bei Something About Us und Voyager – durch lange Einstellungen und poetische Zeitlupen (mit Panorama- und Nahaufnahmen im wohlbalancierten Verhältnis).
INTERSTELLA 5555 ist vor allem aufgrund seiner medienkulturellen Verbindung reizvoll. Der Film selbst ist japanischer Anime (im TV-Vollbildformat, 4:3 bzw. 1.33:1), der Sound französischer House mit klar erkennbaren amerikanischen und europäischen Popmusikeinflüssen. Dabei wirkte bereits das Audio-Album Discovery bemerkenswert kinematographisch geprägt, die Titel und wenigen Textstrukturen der House-Songs erscheinen auffällig erzählorientiert. Ähnlich wie vielleicht Pink Floyd mit ihrem legendären Doppel-Album The Wall (1979), sahen Daft Punk beim Erstellen ihres Werks die vollständige Geschichte bereits in Bildern vor sich:
„We think the music we made on Discovery has been done in a cinematic way in our minds. We were visually seeing the music and trying to find ideas that were appealing to people’s imagination. An animation fan would find this mixture of elements and story in our music.“[1]
Kritiker veranlasste diese Kombination größtenteils zu positiver Resonanz. Die BBC vergab vier von fünf Sternen und gab an, der Film sei ein „Seh- und Hörerlebnis von intergalaktischen Ausmaßen“; MovieMartyr.com meinte, das Werk sei nicht weniger als „der beste animierte Film 2003 und darüberhinaus ein Zeugnis über die künstlerische Vereinigung zweier sehr unterschiedlicher Medien“. Das britische Filmmagazin Empire bewertete den Film als Geschmackssache, als „durchaus sehenswert, wenn man die Band und ihr Album mag – für alle andern: einfach dämlich“ („just daft“; Daft Punk heißt übersetzt: dämlicher Punk).
INTERSTELLA 5555 erschien im selben Monat wie Daft Punks Remix-Album Daft Club, das etliche bekannte Stücke des Discovery-Albums in neuer Abmischung enthält und somit auch den Anime noch einmal mitbewarb. Auf der limitierten Version von Daft Punks Best-Of-Kompilation Musique Vol. 1 erschien sowohl Daft Club als Bonus-CD als auch INTERSTELLA als DVD im 3er-Set. Die Blu-ray-Edition des Films folgte 2011, weist aber kaum nennenswerte optische Verbesserungen zum DVD-Release auf. Auf beiden Videoformaten sind Biografien von Leiji Matsumoto und Daft Punk, Making-Ofs sowie Karaoke-Versionen der Stücke enthalten. In Japan erschien am 17. Dezember 2003 eine erste limitierte Auflage des Films, die ebenfalls Daft Club als Bonus enthielt; darüberhinaus enthält die japanische Version exklusive Minuten zusätzlichen Filmmaterials (drei Kapitel).
Daft Punk haben selbst einen kleinen Cameo-Auftritt in dem Film. Als gezeichnete Versionen ihrer robotischen Alter-Egos sind sie deutlich in einer Menschenmenge auszumachen, die die manipulierten Crescendolls auf der Erde bejubelt; dabei kommunizieren sie mithilfe der Displays auf ihren Helmen miteinander: Während der silberne Roboter jubilierende Formulierungen wie „Great“ oder „Happy“ trifft und sichtbar von der Performance der Vermenschlichten begeistert ist, erwidert der goldene Roboter die Meinung seines Partners kritisch, einmal mit einem simplen „?“ und zuletzt ganz konkret mit einem gebrochenen Herz-Emoticon, dass die Trauer über die Verfälschung seiner scheinbar früheren Lieblingsband zum Ausdruck bringt.
Hinter diesem gerade einmal wenige Sekunden umfassenden „Auftritt“ verbirgt sich weit mehr als nur eine unterhaltsame Selbstinszenierung, sondern eine Kritik an Daft Punks Persönlichkeiten selbst, die sie hier als duale Einheit mit dennoch verschiedener Meinung darstellt und zuletzt auch ein musikinterner Kommentar auf die (wenigen) negativen Kritiken an ihrem bis dato zweiten Album, welches einige Fans der ersten Stunde (Homework-Phase und noch davor, 1993-1998) als künstlerisches Zugeständnis an Virgin und die gesamte Popkultur verstanden. Der Kommentar des zweiten Roboters lässt diese Frage tatsächlich bewusst offen, man könnte ihn also durchaus auch als (inszenierte) Selbstkritik der Band verstehen. Da sich Daft Punk jedoch just seit diesem Zeitraum selbst nur noch als Roboter in der Öffentlichkeit präsentieren und als Menschen komplett anonym bleiben, dürfte man wohl eher von einer vollständigen künstlerischen Neuausrichtung der Band ausgehen, als von einer ernstzunehmenden Selbstkritik bzw. Festhängung an der Anfangszeit ihrer musikalischen Karriere. Ein Kompromiss stellt dieser Film jedenfalls nicht dar, sondern eine gänzlich eigene künstlerische Entscheidung.
Fazit
Mit INTERSTELLA 5555 gelang Daft Punk die virtuose Verwebung zweier Künste: Anime und House. Mittlerweile fast vergessen, schien der gut einstündige Film Anfang des Jahrtausends lediglich im Hype des international super-erfolgreichen Albums Discovery möglich gewesen. Dabei war die damalige Musik der Band bereits filmisch konzipiert und der Anime demnach der zweite gleichwertige Baustein der damaligen künstlerischen Ausdrucksform von Daft Punk. Durch seine erzählerische und gestalterische Kraft, die eine perfekte Symbiose mit der Musik eingeht, ist INTERSTELLA 5555 bis heute sehr sehenswert und definitiv eine (Wieder-)Entdeckung wert.
Quellen
[1] Daft Punk im Interview (2003)
Titel, Cast und Crew | Interstella 5555: The 5tory of the 5ecret 5tar 5ystem (2003) |
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Poster | |
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Regisseur | Daisuke Nishio Hirotoshi Rissen Kazuhisa Takenouchi Leiji Matsumoto |
Trailer | |
Art Department | Daisuke Nishio Kazuhisa Takenouchi |
Drehbuch | Thomas Bangalter Guy-Manuel de Homem-Christo Cédric Hervet |
Kamera | Fumio Hirokawa Haruhiko Ishikawa |
Schnitt | Olivier Gajan Shigeru Nishiyama |
Filmlänge | 68 Minuten |
FSK | ab 6 Jahren |