Die dunkle Zeit
HAGAZUSSA – DER HEXENFLUCH (2017) ist ein seltenes Beispiel von atmosphärisch und handwerklich überzeugendem (Genre-)Kino aus dem deutschsprachigen Raum. Das Spielfilmdebüt des österreichischen Regisseurs Lukas Feigelfeld erzählt vor dem Hintergrund einer früheren, ländlichen Zivilisation von einer jungen Frau, die von ihrer Mutter den Hexenfluch geerbt hat und sprichwörtlich in ihre Fußstapfen tritt – und nach dem kläglichen Sterben der Mutter fortan selbst als Andersartige von den übrigen Anwohnern beäugt und auch gefürchtet wird. Wir schreiben das 15. Jahrhundert, die Neuzeit ist noch nicht ganz angebrochen. Neben der durchdringenden Atmosphäre von HAGAZUSSA, komplett ohne künstliches Licht und an Originalschauplätzen in der (Vor-)Alpenregion um das Salzkammergut gedreht, überzeugt besonders die mythische Kraft des Films, der sich zu Beginn auf die besondere Zeit der Rauhnächte besinnt und deren Bedeutung anhand von Symbolen, Figuren und Ritualen rezitiert. Dies wird in mehrerlei Hinsicht deutlich. Atmosphärisch etwa, wenn die alten Schriftzüge des Vorspanns vom eisigen Weiß der Landschaft verschlungen werden und entsättigt-graue Weitwinkelaufnahmen gebirgiger Nadelwälder eine merklich düstere Stimmung verbreiten. Es sind Bilder, die uns Zuschauenden ohne Umschweife in die dunkle Seele des Films geleiten und eine bedrückende Schwere vermitteln; Bilder – entsprechend der natürlichen Lichtverhältnisse der Jahreszeit – in schier monochromer Ästhetik, fast jeglicher Farbe entbehrt. Eine Frau zieht einen Schlitten durch die verschneiten Hänge, mit ihr ein Mädchen, ihre Tochter. Als es immer dunkler wird, treffen die beiden im Wald auf einen der Älteren, der grüßt und merklich besorgt das baldige Heimkehren anmahnt: „Miaßt’s schaugn, daßt’s es hoam kimmts. Es wird scho ganz fins[t]a. Und a Rauhnacht is aa heit. Miaßt’s geh, da[ß] eng Pircha ned derwischt!“ (Ihr müsst zusehen, dass ihr heimkommt. Es wird schon ganz finster. Außerdem ist heute Rauhnacht. Ihr müsst los, sonst werdet ihr noch von der Perchta geschnappt!“).
Rauhnacht
Was der alte Sepp – so nennt ihn die Mutter, die seinen Hinweis vor dem Unheilvollen mit einem freundlichen Schulterklopfer abtut – meint, sind die bösen Geister, die in einem ganz bestimmten Zeitraum des Jahres durch die nächtlichen Lüfte jagen und Unvorsichtige zu sich holen. Die uns vertraute Zeit um Weihnachten und Silvester war in früheren Tagen unter anderem Namen bekannt und berüchtigt. Da in der Regel von zwölf Nächten – zwischen Weihnacht und Heilig Drei König – die Rede ist, werden diese Tage auch als Zwölfnächte (oder Zwölfte) bezeichnet, oder auch: Innernächte, Unternächte oder Glöckelnächte. Der gängigste Begriff für diese Zeit ist, wie der Sepp in HAGAZUSSA es nennt: Rauhnächte. Sie zählen zur Folklore und sind durch vorrangig mündliche Überlieferung (Oralität) von zahlreichen Unterschieden und auch Widersprüchen geprägt. So lässt sich „Perchta“, wovor der alte Sepp in HAGAZUSSA warnt, bereits unterschiedlich deuten, etwa als die Frau Percht(a) aus der kontinentalgermanischen bzw. slawischen Mythologie: sie bestraft Faulheit und Verstöße gegen das Festspeisegebot. Die Pein kann von Albträumen bis hin zum Aufschlitzen des Bauches reichen. Der Bauch des Opfers wird dann wahlweise noch mit Steinen gefüllt, um es in einem Brunnen zu versenken. Zudem kann Perchtas Atem töten oder blenden, was in HAGAZUSSA noch eine Rolle spielen wird. Die Namensverwandtschaft zu Knecht Ruprecht, dem Gehilfen des Heiligen Nikolaus, erklärt die Analogie zum Krampus, die in einigen Alpenregionen bis heute vorherrscht. Von Perchta ist auch verallgemeinernd Percht(en) abgeleitet, ein Sammelbegriff für Gestalten und Bräuche um die Zeit der Rauhnächte; Perchtenläufe etwa beschreiben Rituale der Menschen, um den Kampf zwischen guten und bösen Geistern nachzustellen und sind bis heute im Alpenraum sowie im Bayerischen Wald verbreitet (die genaue Anzahl von Masken und Choreografien ist schwer zu benennen).
Der Begriff Rauhnacht wird bis heute in der traditionellen Schreibweise mit „h“ geschrieben und es gibt mindestens vier verschiedene Quellen für die Namensherkunft, von denen zwei sehr weit verbreitet sind (im Folgenden zitiert nach Josef Probst[i]):
- Die „rauhe Nacht“, da es in diesen Nächten sehr rau und grob zugeht. Wer sich nach dem Abendläuten aus dem Haus traut, dem kann es schlecht ergehen, da hier Geister, Dämonen und der Teufel freien Lauf haben. Wer erwischt wird, dem ergeht es schlecht.
- Die Abstammung vom altgermanischen Wort „Ruch“, das so viel bedeutet wie Fell oder Haare. Es deutet auf die dämonischen Wesen hin, die in dieser Nacht ihr Unwesen treiben. Sie sollen alle mit Fell überzogen sein, wie Tiere.
- Abgeleitet von „raunen“, da die Rauhnächte auch Losnächte sind, in denen man in die Zukunft schauen kann. Es wird einem die Zukunft ins Ohr geraunt, daher Rauhnächte.
- Die letzte und häufig vertretene Meinung der Namensherkunft ist die Ableitung des Wortes Rauhnacht von „Rauchnacht“. Laut Probst u. a. waren für unsere heidnischen Vorfahren die Rauhnächte besondere Nächte, in denen sie zu ihren Göttern gebetet haben. Sie räucherten dabei, damit die Gebete und Wünsche mit dem Rauch zu den Göttern aufstiegen. Die Christen räucherten in dieser Zeit, um mit dem Weihrauch in den Rauhnächten das Böse vom Haus fernzuhalten oder es aus dem Haus zu vertreiben.
Der Zeitraum bzw. die Dauer der Rauhnächte variiert entlang dreier Indikatoren: erstens die Differenz zwischen Sonnen- und Mondjahr; zweitens der Zeitpunkt der Wintersonnenwende; und drittens die Abwandlung bzw. Vermischung früherer Rituale mit späteren Bräuchen. Die grundlegende Herleitung für die Zwölfnächte entstammt der damals starken Naturverbundenheit der Menschen, wonach das Mondjahr seither gut elf Tage kürzer ist als das Sonnenjahr und diese Zeitdauer als alljährliche Friedenszeit bzw. innere Einkehr verstanden wurde. In dieser Zwischenzeit natürlichen Ursprungs wurden Rituale durch die Menschen ins Leben gerufen, um der besonderen Phase etwas für sie Greifbares zu verleihen. Als wichtiges Vorbild der Rauhnächte gilt das nordisch-germanische Julfest (Mittwinterfest), mit dem das Wiedererstarken der Sonne begrüßt und die Vorfreude der Menschen auf die kommende Saat und Ernte zum Ausdruck gebracht wurde. Daraus resultierten im volkskundlichen Bereich auch Sagen über das Übernatürliche, wonach Dämonen und Geister auf „wilder Jagd“ durch die Lüfte zogen und die Menschen heimsuchten, wenn sie sich nicht an bestimmte Regeln hielten. Die Grenzen zwischen ursprünglichen, naturverbundenen Ritualen, angsterfülltem Aberglauben und heutigen (religiösen) Bräuchen sind fließend. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Einführung des gregorianischen Kalenders im Jahr 1582, um das weitere Auseinanderdriften von Kalender- und Sonnenjahr zu verhindern. Pro Jahrhundert entspräche diese Differenz etwa einem Tag, d. h. im 17. Jahrhundert wären es etwa zehn, im 19. Jahrhundert bereits zwölf Tage gewesen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Terminierung der Rauhnächte einschließlich Wintersonnenwende, Weihnachtsfest und Jahreswechsel wider. So war die längste Nacht des Jahres einst am 13. Dezember: die erste der großen Rauhnächte, auch genannt Luziennacht (oder Luziernacht). Entsprechend der Zeitenrechnung wurde sie im 13. oder 14. Jahrhundert begründet, denn heute fällt die Wintersonnenwende auf den 21. Dezember (die acht Tage Differenz erklären den 13. Dezember als kürzesten Tag über 200 Jahre vor Einführung des gregorianischen Kalenders). Folglich wurden die Rauhnächte ab 1582 nicht mehr vom 15. bis 27. Dezember, sondern genau zehn Tage versetzt, also vom 25. Dezember bis zum 6. Januar, begangen. Aus dem natürlichen Phänomen der Wintersonnenwende verschob sich nach Kalenderumstellung der Beginn der Rauhnächte auf das Datum des heutigen Weihnachtsfestes und die einstigen Bräuche gerieten immer mehr in Vergessenheit. Der 21. Dezember wird heute in christlich geprägten Regionen Süddeutschlands verstärkt als Thomasnacht gefeiert, entsprechend der Heiligenverehrung. Diese Nacht des 21. ist in manchen Regionen aber immer noch unter anderem Namen bekannt: die Nacht des blutigen Dammerl (Thamerl).
Luziernacht und Dammerlnacht bezeichnen dämonische Gestalten und haben ihren Ursprung weit vor den kirchlichen Traditionen. Beide stimmten, je nach Zeitrechnung, auf den Beginn der Rauhnächte als düsterste Zeit des Jahres ein. Der Dammerl (mit dem blutigen Hammer) ist eine Abwandlung des nordischen Donnergottes Thor. Die Luzier, auch Luz genannt, erscheint im Mythos der Rauhnächte als gespenstische Frau mit weitem Umhang, einem breiten Hut, der ihr Gesicht verdeckt sowie mit einem langem, blutverschmierten Messer. Den Geschichten nach sagte sie dabei mit grausig verstellter Stimme einen Spruch auf, der, aus dem Bayerischen ins Hochdeutsche übersetzt, wie folgt lautet: Eine Schüssel voll Darm – einen Topf voll Blut – Bauch aufschneiden, Bauch aufschneiden – Steine reinstecken, Steine reinstecken – wieder zunähen. In den Fluss reinwerfen und ersaufen lassen – da fischt ihn keiner mehr raus – da ist es für ihn aus.
Es ist nicht genau nachgewiesen, wird aber vermutet, dass der Name Luz von dem des keltischen Sonnengottes abstammt: Lugh. Josef Probst erklärt: „Der katholischen Kirche war es ein Dorn im Auge, dass die frisch bekehrten Christen immer noch an alten heidnischen Ritualen oder Feiertagen festhielten, so ersetzten sie den Sonnengott Lugh durch die heilige Luzia [von Syrakus; „Lichtbringerin“]. Um dann zu garantieren, dass die Menschen in dieser Nacht nicht doch noch an ihrem alten Glauben festhielten und feierten, wurde die bluadige Luz(ier) erfunden, die in dieser Nacht umgeht und den Menschen nach dem Leben trachtet.“ Hier ergeben sich sogleich wieder Parallelen zur Frau Percht(a) zu Beginn des Films HAGAZUSSA.
In den Rauhnächten spiegelt sich ein Übergang von alten Ritualen rund um Naturerscheinungen, die eigene Sterblichkeit und dämonische Gestalten als Resultat der menschlichen Ängste und Schwächen. In HAGAZUSSA wird dies eingangs deutlich aufgegriffen. Dabei ist bezeichnend, dass der Film wie bereits erwähnt im 15. Jahrhundert spielt: die späte Phase des Mittelalters ist spürbar, die neue Zeitrechnung steht erst noch bevor. Der Film vermittelt ernsthaft und stilistisch überzeugend den damals vorherrschenden Aberglauben an Hexen bzw. damit assoziierte Rituale in Verbindung mit der Anpassung an eine bevorstehende Zeit. Beides ist unmittelbar Teil der Rauhnächte. Die spezifische Naturverbundenheit von HAGAZUSSA samt ikonografisch bedeutenden Motiven (u. a. germanische Runenschrift) schafft zudem eine starke spirituelle und symbolische Verbindung zu jenen kulturellen Ursprüngen, wie sie durch die volkstümlichen Bräuche der Rauhnächte in Teilen wiederbelebt wurden.
Die Zaunreiterin: HAGAZUSSA im Kontext
HAGAZUSSA begegnet uns in strenger Vier-Akt-Struktur, die Kapitel betitelt sowohl in altgermanischer Runenschrift als auch in hochdeutschen Lettern (während der Filmtitel in althochdeutscher Schrift erscheint). Sie allesamt sind kurz, singulär, und bezeichnen natürliche Elemente, auf deren Grundlage die vier Teile des Films ausformuliert und inszeniert werden. Die vier Kapitel lauten: Schatten – Horn – Blut – Feuer.
Im kargen Tageslicht der Winterzeit streift ein Mutter (Claudia Martini) mit ihrer jungen Tochter Albrun (Celina Peter) durch dichten Wald und wird von einem der Älteren vor den bevorstehenden Gefahren der Rauhnacht gewarnt. Nachts erblickt sie Perchten-Gestalten vor ihrer Hütte, deren Lärmen und geisterhafte Stimmen sie bis in ihr Haus und ihre Träume verfolgen. Die Mutter leidet fortan unter einem Hexenfluch und stirbt bald. Zuvor nähert sie sich noch zunehmend entfremdet ihrer Tochter und beschnuppert ihren Körper mit animalischem Gebaren. Anflüge von Vampirismus prägen die Szene; die Tochter lässt ihre kranke Mutter allein im Bett zurück und versteckt sich. In den übrigen Szenen des ersten Kapitels sehen wir die junge Albrun, wie sie im winterlichen Gebirgswald Gehölz für die heimische Feuerstelle sammelt und ihrer geschwächten Mutter Essen koch. Nach einem Zeitsprung ist Albrun (Aleksandra Cwen) selbst Mutter und lebt mit ihrem Baby das abseitige Leben weiter, dass sie als Mädchen mit ihrer Mutter führte. Die Nachbarn des entfernten Dorfes beäugen sie argwöhnisch und bezeichnen sie auch als Hexe, da sie sich merklich anders gibt und sehr schweigsam bzw. schüchtern ist. Albrun hütet ein paar Ziegen, deren Milch ihren Broterwerb sichert, aber auch von zwei Jungen beispielhaft als „verseuchte Milch“ abgetan wird, die niemand haben will. Nach ein paar Kontakten zur scheinbar freundlichen Nachbarin Swinda (Tanja Petrovsky), die sie zum Dorfpriester vermittelt, führt Albrun weiterhin ihr stilles Leben. Sie spürt langsam und immer stärker, dass der Hexenfluch ihrer Mutter, derer Seele sie in morbiden Ritualen ehrt, auch auf ihr lastet. Die Ausgest0ßenheit und Verachtung, die Albrun von den Übrigen zuteilwird, kulminiert in einer Vergewaltigung durch Swinda und einen Bauern auf offener Alm, wobei sie von Swinda ob ihres „ekelhaften, verpesteten Gestanks“ bezichtigt wird. Im Folgenden zieht sich Albrun vollständig in die Wildnis zurück, bis der Hexenfluch zuletzt auch zwischen ihr und ihrem eigenen Fleisch und Blut steht.
Im Folgenden soll HAGAZUSSA noch ein wenig im Kontext traditioneller Riten und mythischer Symbolik sowie unter dem Aspekt des Frauenbilds beleuchtet werden. Als Grundlage hierfür dient neben den Rauhnacht-Überlieferungen auch der wunderbare, atmosphärische Text „Die Zaunreiterinnen“[ii] von Marcus Stiglegger, der zunächst als Teil des Booklets der deutschen Special Edition von HAGAZUSSA erschien und daraufhin im drittem Band von des Autors Grenztrilogie, „Jenseits der Grenze“, in Buchform veröffentlicht wurde. Stiglegger bezieht sich auf Hans Peter Duerr und dessen 1978 erschienenen kulturanthropologischen Bestseller „Traumzeit. Über die Grenzen von Wildnis und Zivilisation“.
Nimmt man die elementare Bildsprache von HAGAZUSSA, wenn wiederholt natürliche Elemente wie Holz, Wasser, Feuer, generell die Naturregion des (Vor-)Alpengebiets, dazu tierische Bestandteile wie Fell, Horn und Knochen fokussiert werden, ist die Parallele zu den Gestalten der Rauhnächte unübersehbar. Die Perchten, wie eingangs erwähnt, versammeln als Begriff verschiedene dämonische Gestalten hinter Masken, die zumeist mit Hörnern und dichtem Fellkleid an hybride Fabelwesen aus Mensch und Tier erinnern. Drei solcher Gestalten erblickt die Mutter zu Beginn des Films, wenn außerhalb ihrer Hütte das Böse zu lauern scheint und zunächst geisterhaft verzerrte Stimmen aus der Waldluft zu vernehmen sind. Jenes Gebot der Rauhnächte, nach Anbruch der Dunkelheit – spätestens jedoch nach dem Abendgeläut bei völliger Finsternis – nicht mehr ins Freie zu gehen, bricht die Mutter, wenn sie ihre Neugier obsiegen lässt. Sie öffnet die schwere Holztür, und damit die unmittelbare Grenze zwischen Behausung und Wildnis, und erblickt drei Perchtengestalten wenige Meter vor ihrer Hütte. Die Verkleideten stehen Wache, um die dunklen Kräfte der Nacht abzuwehren, doch es bleibt anzunehmen, dass sie bereits gescheitert sind. Das Fehlverhalten der Mutter wird bestraft, vermutlich durch den Atem der Dämonen, der durch die Lüfte getragen wird, wenn sie später erblindet und auch stirbt. Durch den verbotenen Blick auf die „wilde Jagd“ während der Rauhnacht, quasi als Projektion (unterbewusster) menschlicher Angst, wird ihr Schicksal besiegelt. Noch nachdem die Tür wieder verschlossen wurde, wird draußen ein akustisches Gefecht aus Hämmern und Glockensturm entfacht und die unheilvolle Stimmung von HAGAZUSSA, wenngleich dem Auge verborgen, erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt. Durch den unsichtbaren, doch spürbaren Kontakt mit dem Gespenstischen der Nacht wird die Mutter mit dem Hexenfluch belegt. Die Warnung des alten Sepp hatte sie anfangs noch leichtfällig abgetan, später jedoch ist sie von Verderben nur so durchsetzt. Regisseur Lukas Feigelfeld gelingt ein Übergang vom ihm persönlich bekannten Brauchtum der Rauhnächte (siehe Interview) zum mystischen Bild der Hexe, was im Laufe der Erzählung verstärkt in Richtung der Bedeutung des Filmtitels ausgearbeitet wird. Zwei Formen der Folklore, beide genährt aus der Menschen Angst vor dem Unbegreiflichen, prallen stimmungsvoll aufeinander.
Hagazussa (auch: Hagzissa) ist althochdeutsch für Hexe. Die genaue Wortbedeutung ist ungeklärt, doch häufig wird für Hexe auf das im Neuenglischen verkürzte „hag“ verwiesen, was im Althochdeutschen so viel bedeutete wie „Zaun“, „Hecke“ oder „Gehege“. Daher ergibt sich auch der Begriff „Zaunreiterin“, den Stiglegger nach Duerr anwendet.
„In diesem umfassend recherchierten Buch untersucht Duerr das Phänomen der ‚Hagazussa‘, der Zaunreiterin, eines halbdämonischen Wesens, das laut mittelalterlicher Folklore auf dem Hag, der Hecke, die das Dorf umgab, saß. Diese Zaunreiterin war mit einem Bein innerhalb, mit dem anderen außerhalb der heimischen Kultur und Lebenswirklichkeit verortet. Man wollte sie verjagen, doch immer wieder erwachte sie innerhalb der Gemeinschaft und suchte diese heim. Sie wurde als Hexe gefürchtet und zugleich verehrt – man begegnete der Hagazussa mit Ambivalenz […]“
Hier wird die etymologische Bedeutung des Wortes Hexe zielführend mit der Figurengestaltung von Feigelfelds Film in Zusammenhang gebracht. Albrun ist eine Außenseiterin, die abseits des Dorfes und an der Grenze zur Wildnis lebt. Wie die Zaunreiterin, die in gleichen Teilen innerhalb wie außerhalb der Zivilisation verweilt. Sie wird von den übrigen Bewohnern zunehmend als Ausgestoßene und Andersartige betrachtet und auch so behandelt, bis sie vollständig in ihrer Menschenwürde verletzt wird. Als Rückzugsort bleibt ihr die Natur, mit der sie sich immer stärker verbunden fühlt. Die Rhythmen des Waldes und der Bergwässer bestimmen ihr fortan ihr weiteres Leben. Im Schlussbild geht ihre letzte Verbindung zur Zivilisation in Flammen auf. Ihr glasiger Hexenblick bestätigt: fortan wird sie immerzu am Scheideweg zwischen Leben und Tod stehen, gemäß der Zaunreiterin oder auch den dämonischen Gestalten der Rauhnacht, die des Nachts an Grenzwegen erschienen und den Menschen ihr Schicksal offenbarten.
Interview mit Regisseur Lukas Feigelfeld
Bereits im vergangenen Frühjahr stand mir der Filmemacher Lukas Feigelfeld für ein paar Fragen zu Verfügung. Anlass war das baldige Release seines Films über das renommierte britische Label Arrow Video. Das Interview besteht aus drei weiterführenden Fragen und Antworten, die als Ergänzung zu seinen bisherigen Aussagen (u. a. im Audiokommentar zum Film) gesehen werden dürfen.
SJ: Hallo Lukas, schön, dass Du Dir kurz Zeit für uns nimmst. Welchen persönlichen, tiefergehenden Bezug hast Du zur Region, in der Dein Film HAGAZUSSA angesiedelt ist? Da Du sehr stark über (Landschafts-)Bilder erzählst, wäre hier ein weitergehender Kommentar von Dir toll.
LF: Ich bin teilweise in der Gegend des Films aufgewachsen, da ein Teil meiner Familie aus dem Salzkammergut stammt. Die Zeit dort war sicherlich prägend für mich als Kind und ich erinnere mich an die dunklen Wälder und wie sie auf mich wirkten, nachdem ich Sagen von Hexen, Krampus und Unholden vorgelesen bekommen habe. In der Region gibt es durch die festen Traditionen und Bräuche immer noch einen starken Bezug zu diesen alten heidnischen Mythen. Ebenfalls ist durch die Verbundenheit zur Natur ein gewisses unbewusstes Gefühl zu Magie und dem „Unheimlichen“ vorhanden. Das hat mich sehr beeindruckt, auch da es so ein realer Bestandteil des Lebens ist und nicht nur von Märchenfilmen oder Kinderbüchern herrührt. Zudem beeindruckt mich die Schönheit der Region, im Licht, sowie im Dunkeln. Natürlich kennt jeder die Milka-Alpenästhetik, aber darunter liegt diese schöne Finsternis. Es liegt immer irgendwie etwas Dunkles im Verbogenen in Österreich. Aber genau daher rührt eine einzigartige Schönheit. Wie ein Märchen ist es am Tage die schönste und fröhlichste Berglandschaft, die dann, sobald das Licht verschwunden, in eine unerbittliche Finsternis gehüllt wird, die immer schon als Spielplatz für Unholde und Geister verstanden wurde.
SJ: Wie weit reicht Deine Recherche bzw. Deine persönliche Auseinandersetzung mit (Hexen)Mythen und Ritualen zurück und welche Zusammenhänge zur Gesellschaft der letzten 200-300 Jahre siehst Du darin? Welche Rolle spielt soziale Angst und Isolation in diesem Zusammenhang für Dich und die Art, wie Du Geschichten erzählst?
LF: Ich habe lange recherchiert, während ich am Buch zu HAGAZUSSA gearbeitet habe. Mir ging es hauptsächlich darum, herauszufinden, wo die Realität in den Mythen und Geschichten verwurzelt ist. Woher stammen diese schrecklichen Erzählungen? Was wurde vom Christentum, was vom Heidentum formuliert? Und schlussendlich: Wie hätte das reale Leben einer sogenannten Hexe in den Alpen aussehen können? Mein Ausgangspunkt für die Furcht vor der Sagen-Hexe war seit meiner Kindheit die „Kinder-fressende Frau“, etwas, das Aufzeichnungen nach wirklich Bestandteil einiger Rituale und dergleichen war. So habe ich mir die Frage gestellt, was eine Frau dazu bringen könnte, schließlich ihr eigenes Baby zu verspeisen. Hier hat sich für mich der Schreibprozess in Richtung Psychose, Trauma, Isolation und Frauenverachtung eröffnet. Es ging mir darum ein empathisches Bild dieser leidenden Frau zu zeichnen, hierbei mit klassischen Hexen-Symbolen, wie Feuer, Schlange, Ziege, etc. zu arbeiten, diese aber in einen realistischen Kontext zu setzen. Quasi, als wären die heutigen Hexen-Mythen nach Jahrhunderten von Hörensagen eigentlich basierend auf der Leidensgeschichte von Albrun.
SJ: HAGAZUSSA wird in diesem Jahr auch über das renommierte britische Label Arrow Video veröffentlicht, allgemein wird er immer stärker international wahrgenommen. Wo siehst Du Deine Zukunft als Filmemacher, wo liegen Deine Hoffnungen und Wünsche, was den Spielfilm als integralen Bestandteil unserer Kultur betrifft?
LF: Ehrlich gesagt hatten wir den internationalen Erfolg von HAGAZUSSA keineswegs erwartet, auch da der Film nicht für ein breites Publikum zugeschnitten ist. Er ist zugegebenermaßen schwer verdaulich, was aber genau das Leiden von Albrun auszeichnet. Wir freuen uns sehr über den kommenden UK-Blu-ray Release von Arrow Video! Ich arbeite derzeit an verschiedenen Projekten und Ideen. Zwar hat HAGAZUSSA einige Türen geöffnet, jedoch ist es, gerade mit dem zweiten Spielfilm, nie leicht durch die richtige Tür mit dem richtigen Projekt zu gehen.
Nachwort
Das Konzept dieses Artikels reifte im April 2020: im ersten Einkehren aller Menschen in ihr Zuhause, als die Corona-Pandemie die erste große Welle schlug – ein Einkehren, wie es jährlich in den Rauhnächten stattfindet, wo nicht gearbeitet, der Frieden gewahrt und nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr das Haus verlassen wird. Bezeichnenderweise ist die Fertigstellung dieses Artikels über HAGAZUSSA und die Rauhnächte genau im zweiten Einkehren der Menschheit entstanden, als sich Rauhnacht und Pandemie Ende Dezember überlagerten. Eine Zeit übrigens, besonders zur großen Rauhnacht an Silvester, wo man sich ähnlich der Zaunreiterin gerade so am Rande des (eigenen) Grundstücks bewegte und möglicherweise erfolgreich eine Geistervertreibung vornahm.
Weiterführendes
zu HAGAZUSSA und den Rauhnächten in Literatur
- Marcus Stiglegger (2019): Jenseits der Grenze, Berlin: Martin Schmitz. Link
- Josef Probst (2016): Rauhnächte im Bayerischen Wald, Grafenau: Ohetaler Verlag. Link
- Simon Haller (2002): Rauhnacht-Sagen, Grafenau: Morsak Verlag. Link
- Richard Billinger (1931): Rauhnacht, Drama (Theaterstück), Uraufführung: 10. Oktober 1931 in München.
Verfilmungen
- RAUHNACHT (1984), TV-Film, Regie und Buch: Jo Baier. Mit: Raymund Angerer, Karin Baumann, Josef Kramhöller u. a.
- RAUHNACHT (1985), nach Richard Billingers Theaterstück, Regie und Buch: Klaus Weise. Mit: Michael Greiling, Michael Rastl, Luise Deschauer u. a.
- RAUHNACHT (2014), Kurzfilm, Regie und Buch: Kathrin Anna Stahl. Mit: Butz Ulrich Buse, Paul Lohmann, Kathrin Anna Stahl YouTube.
- HAGAZUSSA (2017) als deutsche Special Edition von Indeed Film Link, sowie als Special Edition Blu-ray von Arrow Video mit teilweise neuen Extras Link.
Quellen
- [i] Josef Probst (2016): Rauhnächte im Bayerischen Wald. Mythen, Orakel, Sagen und Brauchtum. Grafenau: Ohetaler Verlag, S. 13.
- [ii] Marcus Stiglegger (2019): Die Zaunreiterinnen. Hagazussa (2017) von Lukas Feigelfeld, in: Ders. Jenseits der Grenze. Im Abseits der Filmgeschichte. Berlin: Martin Schmitz Verlag, S. 188-195.