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Film als Medium der Verführung – Buchrezension

Marcus Stiglegger ist nachweislich einer der bekanntesten deutschsprachigen Film- und Kulturwissenschaftler der letzten 25 Jahre. Ganz sicher ist er dabei auch der produktivste – unzählige Essays, Analysen sowie Radio- und Podcastbeiträge sprechen für sich, vor allem aber seine in ungebrochener Regelmäßigkeit erscheinenden Buchbeiträge. Seine aktuelle Monografie, FILM ALS MEDIUM DER VERFÜHRUNG (Springer VS, 2023), ist, bezieht man seine (Mit-)Herausgeberschaften mit ein, sein mittlerweile 38. Buch. In einer Zeit, in der Print schon länger totgesagt und analytische Filmwissenschaft gerade hierzulande schmerzlich marginalisiert wird, ist dies nicht weniger als eine lebenslange Agenda für die Wertschätzung am Medium selbst. Wer Stigleggers Arbeit auch nur ausschnittsweise kennt, der weiß, dass sich der „verführende“ bzw. „seduktive“ Aspekt der filmischen Sprache wie ein roter Faden durch seine Texte zieht. Von FILM ALS MEDIUM DER VERFÜHRUNG darf man somit nicht weniger als eine karriereübergreifende Schrift erwarten, eine systematische Bündelung umfassender Beobachtungen. Dieses Buch ist eine Weiterentwicklung und Verdichtung, spätestens seit Stigleggers 2006 im Bertz + Fischer Verlag publizierter Habilitation Ritual und Verführung.

Hinführung/Verführung

Zum Einstieg, für sowohl neue Leser als auch mit dem Autor wohlbekannte, ist Stigleggers Einleitung („Prolegomena“, S. 1-3) selbst zu empfehlen, die im originalen Wortlaut bereits am treffendsten die Idee einer über Dekaden gereiften Theorie beschreibt:

„Film ist Verführung. Von dieser Prämisse bin ich als Filmwissenschaftler schon immer ausgegangen – als ein vom Film Verführter, aber auch als zum Film Verführender. Denn auch Filmtheorie ist in einem gewissen Sinne Verführung. Das vorliegende Buch definiert eine Theorie und zugleich einen methodischen Ansatz der Filmanalyse. Es baut auf meiner Habilitation auf, die unter dem Titel Ritual und Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film (2006) erschienen ist, und entwickelt die Ansätze mit Blick auf jüngere Entwicklungen weiter. Als Hochschullehrer in filmtheoretischen und filmpraktischen Studiengängen hatte ich die Möglichkeit, die Seduktionstheorie des Films umfassend zu erproben und zu diskutieren. All diese Erfahrungen wurden im vorliegenden Buch berücksichtigt. Zugleich hat sich die Seduktionstheorie als fruchtbarer Ansatz im analytischen Umgang mit narrativen audiovisuellen Medien bewährt.“ (S. 1)

In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass dieser neu vorliegende Band, anders als die Habilitationsschrift, auch als ein Lehrbuch zur hermeneutisch basierten Filmanalyse dient. Dies sei für die filmtheoretische Beschäftigung konstruktiv, da die Seduktionstheorie dezidiert auf klassischen Modellen der Filmanalyse aufbaue (vgl. ebd.). Diese werden in den folgenden Kapiteln an zahlreichen Beispielen erläutert und kontextualisiert. Hierzu werden höchst unterschiedliche filmische Werke in den Blick genommen. So kommen u. a. klassische Western von John Ford (Kap. 2), Darren Aronofskys BLACK SWAN (2010) und Choreografien bei Akira Kurosawa und Takashi Miike (Kap. 3), CAPOTE (2005) und MARRIAGE STORY (2019) (Kap. 4), Jonathan Glazers UNDER THE SKIN (2013) und Tom Fords NOCTURNAL ANIMALS (2016) (Kap. 5), Werke von Lars von Trier und Nicolas Winding Refn (Kap. 6) sowie Todd Philipps’ JOKER (2019) (Kap. 7) intensiv zur Sprache. Auf das Potenzial einer breiten Applikation der Seduktionstheorie auf Filme unterschiedlichster Formen bzw. Genres weist der Autor selbst hin; der Vorzug bestehe genau darin, „eine nicht-normative Betrachtung unterschiedlichster Filme zu begünstigen […] und so an einer Überwindung des Kanon-Denkens zu arbeiten.“ (S. 5)

© 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics / Photo Credit: Niko Tavernise

Im Kern beruft sich das Verführende des Mediums auf zwei Aspekte, wonach zunächst Film selbst Verführung sei, im Sinne, dass der Zuschauende beim Sehen vom Film verführt wird, und Film zudem stets „phantomhaftes Medium“ bleibe, das sich einem materiellen Zugang entzieht (vgl. S. 3).

Das erste Kapitel, die Einleitung mit fünf Unterkapiteln auf insgesamt 18 Seiten, ist hierbei das Wichtigste, sozusagen der Fahrplan, um sich im Weiteren tiefergehend und beispielhaft filmtheoretisch verführen zu lassen. Zentral ist der philosophische Ansatz bzw. Begriff der séduction außerhalb der stark sexuell konnotierten Lesart des deutschen Begriffs (auch zu finden bei Sören Kierkegaard, 1843). Fester Bestandteil ist zudem die Psychoanalyse – beispielhaft in der psychoanalytisch basierten Filmtheorie bei Andreas Hamburger u. a. – sowie die Genreforschung und auch die Analyse interaktiver Medien (vgl. S. 3). Wir treffen in einem Absatz der Einleitung auf fundamentale Inspirationen durch Freud, Lacan, Deleuze, Bataille, Kracauer, Balázs und Vertov, deren Gedanken in den Folgekapiteln immer wieder aufgegriffen bzw. herangezogen werden. Ist man hier einmal durch und verinnerlicht sich gern auch beim nochmaligen Lesen einzelner Absätze den theoretischen und philosophischen Nährboden, dann hat man eine wertvolle und fruchtbare Basis, um im Folgenden die tieferen Ebenen der filmischen Seduktion kennenzulernen. Tatsächlich macht es Sinn, die folgenden acht Kapitel (Kap. 2-9) auf je ca. 20 Seiten – mit Ausnahme der letzten beiden Kapitel von je ca. 10 Seiten – etappenweise zu lesen und die entsprechenden filmischen Beispiele als kleine Blöcke passend dazu zu sichten. Ein systematisches Lehrbuch, wie erwähnt.

Drei Stufen der Seduktion lassen sich demnach beim Film nachweisen, sinngemäß und leicht gekürzt wiedergegeben entsprechend der Originalgliederung

  1. Im ersten Schritt verführt der Film zu sich selbst, um letztlich das Interesse des potenziellen Zuschauers zu wecken.
  2. Auf der zweiten Ebene der Seduktion kann der Film eine spezifische Aussage propagieren. Die Favorisierung einer spezifischen Aussage, die dem Zuschauer nahegelegt wird, steht hier im Zentrum.
  3. Auf der (komplexeren) dritten Ebene der Seduktion verführt der Film zu einem verdeckten Ziel, das auf der Metaebene liegt: „Hier werden subtile Aspekte wie spezifische Begehrensstrukturen deutlich, die Schlüsse auf ideologische Subtexte zulassen.“ (S. 4)

Insbesondere die dritte Ebene charakterisiert die filmische Seduktion, sie bezieht sich auf Jean Baudrillards „verdeckte Verführung“ (1983) und hat zum Ziel, den Zuschauer „gegen seine vermeintlich gefestigte Position vom vertrauten Weg abzubringen.“ (S. 5)

Die filmischen Mittel der Seduktion liegen dabei nach Stiglegger auf drei verschiedenen Ebenen, die in den folgenden Kapiteln namentlich weiter ausgearbeitet werden: Performanz (Bewegung, Körper, Sinnlichkeit, Kampf, Choreografie), Narration (epische Erzählung, verdeckte Mythologie) und die ethische Ebene (z. B. ein Ambivalenz-Erlebnis, dem der Zuschauer ausgesetzt wird).

© Focus Features, LLC. & Universal Pictures

Ethik, Genre, Mythos

Jedes Kapitel bietet einen eigenen, durchkonzipierten Ansatz und bedient sich vorbildlich filmischer Szenen und Ausschnitte (insgesamt über 60 Screenshots in Farbe und s/w), um das Theoretische bildlich zu untermauern. Die drei aufeinanderfolgenden Kapitel 4-6 sollen im Rahmen dieser Rezension beispielhaft ausschnittsweise hervorgehoben werden, um sowohl die breite Anwendbarkeit der im Buch (weiter-)entwickelten Seduktionstheorie zu veranschaulichen als auch die ästhetische und philosophische Tiefe erkennbar werden zu lassen, die ihr innewohnt.

Von der Konzentration von „Körper, Kino und Performanz“, so das vorangehende Kapitel 3, und der dort beleuchteten Nutzbarkeit filmischer Konstruktionen bzw. Ästhetisierungen der Choreografie von Körpern (Proxemik) für innere Konflikte geht das folgende Kapitel 4 konsequent in eine ethische Dimension. „[G]erade in der ethischen Herausforderung findet sich ein großes Potenzial filmischer Attraktivität. Film kann uns herausfordern, Position zu beziehen, das inszenierte Geschehen mit den eigenen Werten abzugleichen und zugleich die universale ‚Richtigkeit‘ zu hinterfragen.“ (S. 55) Stiglegger bezieht sich folglich auch auf Siegfried Kracauer, der in seiner Theorie des Kinos (1960) das Kino auch über dessen Funktion als Spiegel der Gesellschaft hinaus für solche Dinge empfänglich charakterisierte, die in der Realität als kaum erträglich erscheinen. „Dem schwer erträglichen ins Antlitz zu blicken wird zur größten ethischen Herausforderung, die uns das narrative Kino zu bieten hat.“ (ebd.) Daraufhin folgt ein Abriss über das ‚Gute‘ und ‚Böse‘ im Kino, aber (noch) nicht in Mustern eines metaphorischen Genrekinos, vom Dämonischen, vom Horror, sondern von fehlgeleiteten menschlichen Seelen im Alltäglichen, vom psychosozialen Schrecken, wie er zunächst auch die Dramaturgie von ROSEMARY’S BABY (1968) oder FUNNY GAMES (1997) bestimmt, bevor diese eine radikale Zuspitzung erfahren. Die Seduktion im ethischen Bereich des Films lässt sich kaum verwunderlich in Dramen finden, die Figuren voller Ambivalenz zeigen und keine klare Identifikation zulassen, sondern die Zuschauer genau dieser Herausforderung aussetzen, ähnlich den Figuren einen geeigneten Weg zu finden (der aber nicht immer gefunden werden will).

Unter der seduktiven Oberfläche lauert der bürgerliche Abgrund. Die in Kapitel 4 besprochenen Werke beinhalten nach einer kurzen Hinführung mit den (frühen) Filmen Paul Verhoevens zunächst den Film WIJ (2018) von René Eller, der von den sinnlos eskalierenden Akten einer Gruppe bürgerlicher Jugendlicher erzählt, die sich mit ihren Exzessen selbst erhöhen, und der damit an die Tradition des grenzüberschreitenden holländischen Kinos der 1970er anknüpft (vgl. S. 57). Stiglegger, der auch das Booklet zum Film für die Reihe KinoKontrovers verfasste, analysiert die Vier-Kapitel-Struktur des Werkes beispielhaft und wendet seine drei Ebenen der Seduktion konsequent darauf an, bevor er zum Zwischenfazit kommt: „Auf der dritten Ebene […] konfrontiert uns der Film schließlich mit unseren eigenen Abgründen […]. Wij ist ein schleichender Angriff auf unsere Idee des ‚richtigen‘, ethischen Handelns. Er ködert uns mit einem Versprechen jugendlicher Leichtigkeit, Freiheit und Lust […].“ (S. 62) Am Ende bekäme der Zuschauer gar „einen immoralischen Gewalttäter präsentiert, der völlig menschenverachtend und rücksichtslos manipuliert und agitiert.“ ‚Coming of Age‘ werde zum ‚Coming of Rage‘. (ebd.) Weitere Filme der ethischen Herausforderung – einmal als fiktionalisierte Geschichte und einmal in zwischenmenschlicher Dynamik – sind das Biopic CAPOTE mit Philip Seymour Hoffman, das die Entstehung von Truman Capotes erfolgreichstem Buch, In Cold Blood (1966), behandelt sowie Noah Baumbachs vieldiskutiertes Scheidungsdrama MARRIAGE STORY mit Adam Driver und Scarlett Johansson. Während WIJ und CAPOTE vom Autor bereits zuvor besprochen wurden, ist die sechsseitige Analyse von MARRIAGE STORY ein Novum und eine gelungene Anwendung der Seduktionstheorie auf eine noch recht junge Produktion.

© Netflix

Dass Stiglegger, nicht zuletzt durch sein schwergewichtiges Handbuch Filmgenre (Springer VS, 2019), dem Genrekino zugeneigt ist, braucht man Interessierten nicht mehr erläutern, auch wenn sich der Autor wiederholt von der Favorisierung auf spezielle Genres wie dem Horrorfilm distanzierte. Vielmehr unterzieht er den Genrebegriff, wie bereits in Texten zuvor (vgl. Splitter im Gewebe, 2000; Joe Dante – Spielplatz der Anarchie, 2014; Genre-Störungen, 2019) einer kritischen Neubetrachtung und würdigt damit dessen filmisch-seduktive Qualitäten, anstatt einem kategorischen Genredenken Vorschub zu leisten. Wenn er vor zehn Jahren Regisseur Joe Dante als „Genre-Bender“ würdigte, dann taucht dieser Begriff hier wieder auf. Dabei gehe es „um die kreative und subversive Variation der ästhetischen Form unter anderen Bedingungen, wozu Strategien wie Hybridisierung und gezielte Konventionsbrüche zählen.“ (S. 78) So lässt sich George Millers furioses Sequel MAD MAX 2 (1981) bekanntlich als postapokalyptische Mischung aus Science-Fiction, Actionfilm und Western sehen. Stiglegger interessieren im Folgenden vor allem die „Chiffren des Anderen und des Fremden“ (5.2), „Verstörung als Strategie (5.3) sowie, ein Herzstück dieses Buches, die „Seduktionstheoretische Genreanalyse“ (5.4), wobei er sich auf acht Seiten intensiv mit Jonathan Glazers stimulierendem UNDER THE SKIN auseinandersetzt – „ein ‚Cinematic Body‘ (Shaviro 1993) von performativer Kraft; ein nach konstanter Aufmerksamkeit verlangender Film als Ereignis; ein nomadisch mäandernder Film, der sich selbst und uns fremd bleiben muss, als habe es ihn eher zufällig in unsere Welt verschlagen.“ (S. 86)

© Senator

Und wie Regisseur Glazer mit UNDER THE SKIN die Genreregeln von Science-Fiction und Horror gewissermaßen auf den Kopf stellt (vgl. S. 86), so liefert auch der Modedesigner, Künstler und Filmemacher Tom Ford in seinem zweiten Langfilm NOCTURNAL ANIMALS ein Paradebeispiel für sogenannte Genre-Distorsionen. Nicht nur beweise der Film mehr noch als Fords Debüt A SINGLE MAN (2009) dessen „souveränen Umgang mit filmischen Ausdrucksformen“ (S. 87), mehr noch mische dieser stilsicher „Elemente des Melodrams mit dem Rape-Revenge-Subgenre des Thrillers“ und etabliere mit seinem radikalen Konzept eine „metamediale Reflexion des Genrekinos“ (S. 88). NOCTURNAL ANIMALS – einzelne Szenen werden detailliert analysiert, die komplexe Struktur offengelegt – verhandelt nach Stiglegger auf der dritten Ebene der Seduktion ein „tiefgehendes Unbehagen in der postkapitalistischen Kultur und Gesellschaft. Durch diesen konsequent verfolgten Subtext entfaltet der Film von Beginn an eine irritierende Verunsicherung: er entzieht narrative Verlässlichkeiten durch die Subjektivierung und Fragmentierung der Erzählebenen, verhindert eine eindeutige Identifikationsbasis, denn die Figurenkonzeptionen sind imaginiert und (re)konstruiert.“ (S. 89) Als Zuschauer muss man bereit sein, solchen Genre-Distorsionen zu folgen und ebendiese Verzerrungen und Störungen als den eigentlichen Weg (der Erzählung) zu erkennen. Ein mittlerweile konfektioniertes (Genre-)Publikum, das schon länger die letzte bedeutende Kaufkraft im Heimmedien-Sektor darstellt, wird hieran kaum Gefallen finden – ich habe NOCTURNAL ANIMALS recht bald für zwei Euro auf Blu-ray in einem großen Elektrowarengeschäft erworben, und UNDER THE SKIN wurde erst durch eine denkwürdige persönliche Initiative in die deutschen Kinos gebracht. Stiglegger hat sich für seine seduktionstheoretische Genreanalyse zwei wahrlich spezielle Perlen herausgesucht, die umso mehr einen wiederholten, tieferen Blick verdienen.

© 2011 – Magnolia Pictures

Populärer, aber nicht weniger radikal verhält es sich mit dem Œuvre der Dänen Lars von Trier und Nicolas Winding Refn, die beide als publikumswirksame Grenzgänger des modernen Kinos gelten. Stiglegger lädt ein zur Apokalypse sowie zur „Verführung zum mythischen Denken“ (Kapitel 6), wenn er zunächst die kulturgeschichtliche Prägung von „Mythos“ absteckt (S. 97-102), dann von Trier und vor allem MELANCHOLIA als filmischen Einstieg wählt (S. 102-105), sich aber recht bald auf das Werk von Refn fokussiert (S. 105-115), worüber er mehrfach referiert und publiziert hat. Abseits seiner bekennenden persönlichen Liebe zu VALHALLA RISING (2009) vermeidet Stiglegger, wie es der akademische Text gebietet, zu offenkundige Bewunderung, sondern untersucht mehrere von Refns Filmen – BRONSON (2008), VALHALLA RISING, ONLY GOD FORGIVES (2013), THE NEON DEMON (2016) – mit der Seduktionstheorie um Körper und Performanz sowie mittels des Konzepts des Mythos, dem er sich ebenfalls wiederholt in Büchern und Einzeltexten gewidmet hat. „Wie im archaischen Mythos ist bei Refn der mythische Körper von enormer Bedeutung: Der Körper des mythischen Heroen – zwischen Gott und Mensch – ist zugleich sakral und profan, wandert durch beide Welten – verbunden durch den Akt der Überschreitung.“ (S. 105) Kunst, so allgemein auf Refns Werk anwendbar, sei ein Akt der Gewalt (vgl. S. 110). In Bezug auf den Mythos konnte man nicht nur bei THE NEON DEMON in anderen Ausschnitten lesen, etwa wenn Refn selbst über den Drehort Los Angeles zitiert wurde, dieser hätte für ihn zwei Realitäten, und gerade die künstliche Realität, die Illusion der Stadt, hätte für ihn etwas Mythologisches (vgl. Booklet der Mediabook-Veröffentlichung). Auch die Genreverschiebungen von BRONSON über DRIVE bis hin zu THE NEON DEMON waren und sind immer wieder Thema. Refn hat ein zutiefst mythisches und ikonologisches Kino der Moderne erschaffen, das polarisiert, aber ebenso in seinen Bann zieht. Stiglegger greift zuletzt bewusst die Ambivalenz von Refns Werk auf, räumt ein, dass man sich dem radikalästhetischen Ansatz entweder willig ausliefern kann, sich von ihm verführen lässt, oder sich womöglich von vornherein diesem „radikalen wie zeitgemäßen Zugang“ (S. 114) verweigert. Letztere finden, so meine These, nicht nur in den vergangenen zehn Seiten, sondern im gesamten Buch kaum ihr Glück. Die mit offenem Herzen jedoch, sie werden belohnt werden.

© FilmDistrict

Tatsächlich, dies als Randbemerkung, würde ich in künftigen Anwendungen der Seduktionstheorie gern einige meiner persönlichen Favoriten sehen, darunter THE LAST TEMPTATION OF CHRIST (1988) und Werke von Brian De Palma, Isabelle Stever, Brandon Cronenberg und Julia Ducournau. Was uns gleich auch zum Ausblick dieses Buches bringt, aber nicht, ohne zuvor noch ein paar der Filmtitel zu nennen, die hier ebenfalls Eingang finden, manche ausführlicher, manche auch etwas kürzer: das Werk von Philippe Grandrieux, allen voran SOMBRE (1998), Zeitlichkeit bei Christopher Nolan von FOLLOWING (1998) bis TENET (2020), dann A CLOCKWORK ORANGE (1971), Alfred Hitchcocks REBECCA (1942), IRRÉVERSIBLE (2002), THE SILENCE OF THE LAMBS (1991), GEGEN DIE WAND (2004), LOST HIGHWAY (1997), THE HUNGER (1982), und, was mich besonders gefreut hat, WILD (2016) von Nicolette Krebitz, einer der beeindruckendsten deutschen Filme der letzten Jahre. Für noch mehr Analysematerial und Filme sei einmal mehr auf Stigleggers vorhergehende Publikation zum Thema verwiesen, Ritual und Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film (Berlin, 2006), sowie auf das aktuelle Handbuch Filmgenre (Wiesbaden, 2019), das allerdings verlagsbedingt recht teuer ist.

Lost Highway Filmkritik
© Arthaus/Studiocanal

Etwas Kritik darf bei jeder Rezension sein – auch wenn sie hier nirgends inhaltlich zu finden ist, denn thematisch und sprachlich ist dies ein makelloses Lehrbuch, mehr noch ein Wegweiser, der unsere Gedanken über Film positiv beansprucht und die ganz besonderen Qualitäten des Kinos nachweisbar hervorhebt. Einzig im Endlektorat durch den Verlag wurde nicht, wie man es bei solchen Publikationen eigentlich gewohnt sein darf, fehlerfrei gearbeitet, sodass sich in unregelmäßigen Abständen, zumeist konzentriert auf einzelne Absätze, auch ein paar Buchstaben- und Satzzeichenfehler bemerkbar machen. Dies trübt in keiner Weise die Lesefreude als Ganzes, aber für die 2. Auflage darf man sich doch noch etwas (Ver-)Besserung wünschen.

Ausblick

Nach den vielleicht vielschichtigsten Kapiteln Nr. 7 über „Seduktion, Perfomance und Popkultur“ inkl. berauschender JOKER-Analyse (S. 117-138) und Nr. 8 („Seduktion und Existenzerkundungen“) über Zeitlichkeit im Film (S. 139-150) wagt Stiglegger in Kapitel 9, wie es sich für eine gelungene akademische Veröffentlichung gehört, einen Ausblick und eine mögliche Transferierung des Seduktionsbegriffs auf Medien im Allgemeineren. Speziell Medien mit stark performativer Prägung eignen sich demnach für seduktionstheoretische Ansätze, insbesondere Computerspiele. Stiglegger beginnt aber keine Aufzählung diverser Spielszenarien, sondern konzentriert sich sogleich auf den medialen Kern solcher Performativitäten. Es geht um Simulakren (nach Baudrillard), um den trughaften Schein einer möglichen Realität, vermittelt in Bildern. „Baudrillard kennzeichnete mit Simulakrum zudem die zunehmend virtualisierte Welt der Mediengesellschaft, in der an die Stelle des Realen ein (Trug)Bild des Realen getreten ist. In dieser Welt ist die Unterscheidung zwischen Original und Kopie unmöglich geworden.“ (S. 154) Im Weiteren werden auch Massively Multiple Online Role-playing Games (MMORPG) kurz beleuchtet sowie die Einbettung computergenerierter Bilder (CGI) in Spielfilmproduktionen (9.2, „Hyperrealität und Ludologie“), doch bereits zuvor werden Medien an sich „als ultimative Spielfelder der Seduktion“ definiert, wobei vor allem auf ihr Charakteristikum der Reversion Bezug genommen wird: „Die wohl plausibelste Definition der Medien ist, dass sie ein symbolisches Probehandeln erlauben.“ (S. 152, zit. nach Hartmut Winkler 2004, S. 13). Das hier erwähnte World-Building lässt sich ideologisch auch in Stigleggers vielleicht mutigstem und wichtigstem Unterkapitel (9.3) weiterdiskutieren, in dem er systematisch Propagandavideos der IS analysiert, hier die Seduktionstheorie auf Terrorismus, Ideologie und medial gefilterte reale Gewalt anwendet. „Diese zweifellos extremste Form medialer Bildproduktion der letzten Jahre stellt an die Bildwissenschaft eine extreme Herausforderung.“ (S. 159) Als „eine mediale Verführung zum Bösen“ (S. 162) schreckt der Autor vor solch nachweisbar sehr einflussreichen Propagandavideos bewusst nicht zurück, sondern hilft uns zu verstehen, auf welchen Ebenen sie funktionieren. Er leistet damit zuletzt einen unschätzbaren Beitrag zur gegenwärtigen Medienkulturbildung. Erst wenn man das Böse studiert, sich nicht von ihm abwendet, kann man es verstehen und letztlich – mit dem Geist – bekämpfen lernen. Am Ende verschwimmen einmal mehr die Bild- und Rezeptionsebenen, auf beängstigend brisante Weise, doch mittels der Seduktionstheorie haben wir nunmehr ein Werkzeug, uns auch hier etwas sicherer durch den Bilderdschungel zu bewegen, der uns nicht nur in verführenden Spielfilmen, sondern täglich in sozialen Netzwerken begegnet. Hier müsste man aktuell mit KI und Deepfake anknüpfen und weiterdenken. Denn unsere mediale Bilderwelt wird, entgegen ihrer praktischen Handhabung, keineswegs einfacher, sondern ist aufgrund der (rasant) zunehmenden Möglichkeiten immer schwieriger zu verstehen.

Darin liegt zugleich ein Charakteristikum dieser Monografie, das auch der bekannte Film- und Fernsehwissenschaftler Lothar Mikos in seinem Vorwort betont, nämlich dass sich mit der Seduktionstheorie des Films ein Weg beschreiten lässt, „der über klassische filmwissenschaftliche Ansätze hinausgeht. Denn die Analyse bezieht Erkenntnisse aus einem breiten Spektrum von wissenschaftlichen Disziplinen mit ein, von den Cultural Studies und der Kulturanthropologie, über Philosophie und Psychologie bis hin zu Psychoanalyse und Schizoanalyse. Auf diese Weise wird die Seduktionstheorie anschlussfähig an die Diskurse dieser Disziplinen, und sie verortet den Film damit auch in deren Zentrum. […] Die Möglichkeiten der filmischen Inszenierung erweitern so unsere Sicht auf die Welt und auf uns“ (S. XI).

Fazit

FILM ALS MEDIUM DER VERFÜHRUNG ist ein reichhaltiges und komplexes Lehrbuch, das dennoch verständlich und eingängig geschrieben ist, wie es der Autor seither beherzigt, und was ihm schon lange den Ruf eingebracht hat, einer der bekanntesten, deutschsprachigen Filmwissenschaftler zu sein. FILM ALS MEDIUM DER VERFÜHRUNG ist Marcus Stigleggers Opus magnum, hier sind seine Gedanken der letzten Dekaden verdichtet und höchst strukturiert niedergeschrieben. Zudem ist es ein Diskursöffner für Neues. Für alle, die Film ebenso als vielschichtige, bereichernde und letztlich immer auch verführende Kunstform betrachten, ist dieses Buch das vielleicht pointierteste, anregendste Dokument, was seit Jahren über das Medium geschrieben wurde. Das Schönste dabei ist: Es ist weitflächig und günstig erhältlich. Man muss nur Willens sein, sich verführen zu lassen.

© Stefan Jung

Film als Medium der Verführung – Einführung in die Seduktionstheorie des Films

Autor: Marcus Stiglegger

2023, Springer VS Wiesbaden

978-3-658-40477-2

164 Seiten

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