„Keine Regeln”
Filme zu schauen kann auch zum Hamsterrad werden. Ständig dieselben Darsteller, Themen, Genres und kreativen Tricks. Als ob einen in jenen tristen Wochen des gelangweilten Konsumierens eine Allmacht bemitleiden würde, treibt sie den Hoffnungslosen bei kaltem Wind an einem wolkenverhangenen Tag genau in das richtige Kino mit genau dem richtigen Film. EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE ist wie das Tor in eine kreative Welt, durch das man als Cineastin oder Cineast schon lange nicht hindurchgegangen ist. Der Film hat die Wucht einer spirituellen Erkenntnis, den Spaß eines Abends mit den liebsten Freunden, die Verbundenheit einer Heimatreise und den kreativen Schneid eines Banksy-Kunstwerks. Aber EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE ist nichts für jeden und vor allem nichts für den 1,3-Mal-im-Jahr-ins-Kino-Geher. Die Lust sich auf eine völlig andere Welt des Erzählens und Wahrnehmens einzulassen, die den Genrekonventionen frech ins Gesicht lacht, ist die Grundvoraussetzung für diese erkenntnisreiche Reise. Die Belohnung nach 140 Minuten? Nicht weniger als eine Offenbarung im Lichtspielhaus.
Handlung
Der Alptraum aller Selbstständigen und Kleinunternehmer: Steuerprüfung. Evelyn (Michelle Yeoh) und Waymond Wang (Ke Huy Quan) betreiben einen in die Jahre gekommenen Waschsalon, über dem sie ihre Wohnung haben. Vater Gong Gong (James Hong) lebt auch noch in dem winzigen Apartment. Tochter Joy (Stephanie Hsu) will ihre feste Freundin der Familie vorstellen, die große Jubiläums-Waschsalon-Party steht an und Steuerprüferin (Jamie Lee Curtis) zweifelt den geschäftlichen Kauf einer Karaokemaschine in einem Chaos aus Rechnungsbelegen an. Die Wangs bekommen noch einmal Zeit bis zum Abend, um ihre Buchhaltung in den Griff zu bekommen, doch dann bricht das Universum, nein, die Unendlichkeit aller möglichen Leben von Evelyn Wang auf sie ein. Ein allmächtiges Killerwesen namens Jobu Tupaki trachtet auch noch nach ihrem Leben.
Spirituelle Science-Fiction
Multiversen, frei nach dem Motto „Was wäre, wenn?“, wie in der Animationsserie RICK UND MORTY sind gerade voll im Trend. Vor allem die neusten Comicverfilmungen greifen in die kreative Neustart-Trickkiste. EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE hat damit aber wenig gemein, abgesehen von dem hier ebenfalls zuständigen Produzenten-Brüderpaar Anthony und Joe Russo (AVENGERS: INFINITY WAR, AVENGERS: ENDGAME). Protagonistin Evelyn durch eine Vielzahl von möglichen Variationen ihrer selbst reisen zu lassen, wäre dem Regieduo Daniel Scheinert und Dan Kwan (SWISS ARMY MAN) zu langweilig. Das irre Drehbuch bereitet mit diesem Action-, Abenteuer- und Martial-Arts-Setup nur etwas vor, um dann zum emotionalen Kern der Familie Wang durchzudringen. Die Ehe läuft nicht gut, Evelyn ist mit ihrem Leben unzufrieden und Tochter Joy sieht sich in ihrer Liebe zu Frauen als chinesische Traditionsbrecherin.
Die Inszenierung hilft bei dieser Irrfahrt mit kleinen Erfahrungen, die man schon im Kino gemacht hat. Wie Neo, als Auserwählter in THE MATRIX (1999), endlich seinem stumpfen Dasein ein Ende setzt, so schlagen die Wellen der Multiverse-Geschichte über unsere Protagonistin herein. Evelyn springt für ein paar Momente in eine andere Welt, aber eigentlich macht sie das nur, um die Eigenschaften ihres alternativen Ichs zu assimilieren und zurückzukehren. Die Fähigkeiten einer Meisterin des Kung-Fu, die Erscheinung eines prominenten Schauspielstars oder das sensitive Gespür einer blinden Opernsängerin fügt sie den ihren einfach hinzu.
Das passt alles auch hervorragend zu der facettenreichen Ausnahmekünstlerin an sich: Michelle Yeoh (TIGER & DRAGON, CRAZY RICH, THE LADY). Man muss jedoch etwas Verrücktes tun, um diese Paralleluniversum-Reise einzuleiten. Das beginnt mit dem Vertauschen der Schuhe und treibt seinen Spaß immer weiter bis hin zu …, unbeschreiblich, das muss man gesehen haben. All diese Kräfte setzt sie gegen das Wesen des Chaos ein, den Jobu Tupaki. Diese Übermacht kann durch die Universen mit einem Wimpernschlag springen, nur bestimmte Momente herausgreifen oder Dinge aus unserer Welt in etwas anderes verwandeln. Schon mal den Kopf eines Polizisten in einer Konfettifontäne explodieren sehen? Hier wird es geschehen, aber das ist nur die Spitze des tief schwarzhumorigen Action-Epos-Eisbergs.
Kämpferherz Schauspieler
Vor allem Martial-Arts-Fans kommen voll auf ihre Kosten. Die Schauspieler übernehmen möglichst viele der Kämpfe und überlassen wenig ihren Stunt-Doubles. Es grenzt an körperlicher Poesie, wenn Ke Huy Quan – ja, der kleine Junge aus INDIANA JONES UND DER TEMPEL DES TODES (1984) und DIE GOONIES (1985) – als Ehemann Wang mit seiner Bauchtasche gegen ein paar Sicherheitskräfte der Steuerbehörde austeilt. Aber auch die Kameraeinstellung kommt in Schwung und es erzeugt ein Kribbeln beim Sehen, wie wenn man seinen ersten Jackie-Chan-Film erlebt.
Alle Darsteller haben sichtlich Spaß an ihren Rollen, vor allem Jamie Lee Curtis wird mit ihrer lesbischen Liebe als Wurstfingerwesen und kämpfende Steuerprüferin in die Erinnerungen jedes Filmnerds eingehen. Die Schauspieler sind durch die Bank großartig. Vor allem die junge Stephanie Hsu sticht hervor, die mit einer solchen Kraft die von Selbstzweifeln zerfressene Tochter gibt und dann auf einmal mit einem Fingerschnipp eine der wichtigsten Rollen in EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE auf die kämpferische Filmbühne zaubert, brillant. Die größte Leistung des Regie-Teams „Daniels“ ist es, trotz dieser spektakulären Geschichte und temporeichen Inszenierung, den Darstellern genug Platz zum Spielen einzuräumen. Sie sind das Herzstück und der Grund, warum es gelingt, sogar noch einen draufzusetzen.
Ein Ende wie ein Marathonlauf
Die Action, die Science-Fiction, die Kämpfe und der Humor sind knapp zwei Drittel der Geschichte. Wo andere Filme einfach aufhören und vorher noch den Showdown-Kampf bringen, macht EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE nicht Halt. Man lernt sogar noch etwas, wie auch die Figuren. So leicht wie zwischen den Universen gewechselt wird, so leicht dreht sich der Film zum Finale in eine völlig andere Richtung, ohne seine Handlung und etablierten Konflikte zu vernachlässigen. Es wird ein emotionaler, spiritueller Endspurt voller Liebe, Erkenntnis und etwas Coming-of-Age-Story. Die Familie Wang, deren Alltag von Chaos, Unzufriedenheit und Unterdrückung geprägt ist, lernt einen Ausweg daraus und wir als Zuschauer und Zuschauerinnen erlangen Selbsterkenntnis. Zugegeben, das Finale ist ungewöhnlich lang, aber es braucht Zeit, wenn man spirituelle Erkenntnis erlangen will und das allmächtige dritte Wackelauge.
Fazit
Dieser Wirbelsturm von einer Geschichte fusioniert spielerisch mit seiner exzellenten Besetzung und berauschenden Inszenierung. Wer glaubt, dass die neuen Kinofilme nur noch die alten wiederbeleben, wird mit EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE sein wahres Wunder erleben. Die Komfortzone der Unterhaltung wird vernichtet, ein unerschöpflicher Ideenreichtum prasselt auf einen ein und am Ende verlässt man den Kinosaal so herrlich beschwingt, als ob man nicht weniger als die ultimative Erleuchtung erhalten hätte. Man muss sie sich mit einem hohen Maß an Aufmerksamkeit verdienen, aber jede Sekunde davon ist es wert.
Titel, Cast und Crew | Everything Everywhere All at Once (2022) |
Poster | |
Regie | Dan Kwan Daniel Scheinert |
Release | Kinostart: 28.04.2022 ab dem 12.08.2022 im Mediabook (UHD+BD) und auf Blu-ray und DVD erhältlich. Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: |
Trailer | |
Besetzung | Michelle Yeoh (Evelyn Wang) Stephanie Hsu (Joy Wang / Jobu Tupaki) Ke Huy Quan (Waymond Wang) James Hong (Gong Gong) Jamie Lee Curtis (Deirdre Beaubeirdra) Tallie Medel (Becky Sregor) Jenny Slate (Big Nose) Harry Shum Jr. (Chad) Biff Wiff (Rick) Brian Le (Alpha Jumper - Trophy) Andy Le (Alpha Jumper - Bigger Trophy) Sunita Mani (TV Musical - Königin) Aaron Lazar (TV Musical - Soldat) |
Drehbuch | Dan Kwan Daniel Scheinert |
Filmmusik | Son Lux |
Kamera | Larkin Seiple |
Schnitt | Paul Rogers |
Filmlänge | 139 Minuten |
FSK | Ab 16 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter