Ein Genie, ein Modernist, ein Arbeitstier, eine Legende: Der Filmkomponist Ennio Morricone (1928-2020) ist jedem ein Begriff, der sich nur ansatzweise mit Filmen auskennt. Jeder Cineast kann seine Melodien pfeifen oder unzählige Filmtitel aus der über 400 Werke umfassenden Filmografie Morricones nennen. Sein Tod war von Trauer begleitet, aber auch von enormer Ehrfurcht über ein solch umfangreiches Lebenswerk und selbst mit 90 Jahren stand er immer noch live vor einem Orchester. Das Leben von Morricone ist aber von viel mehr geprägt als einer Vielzahl eingängiger Filmmelodien. Die Dokumentation mit dem freundschaftlichen Originaltitel ENNIO von Giuseppe Tornatore – ebenfalls ein hallender Name der Filmgeschichte – bringt uns den Künstler und ganz nebenbei die Musik der Filmgeschichte näher.

Der Anfang
Der junge Ennio wollte lieber Arzt werden, aber sein Vater meinte, er müsse in dessen jazzige Fußstapfen treten und Trompeter werden. Der talentierte Junge, der lieber seine eigenen Melodien komponierte, ging aufs Konservatorium, studierte Trompete und Chormusik, was eher durchschnittlich erfolgreich lief. Erst in einer anschließenden Komponistenausbildung unter Mentor Gottfredo Petrassi blühte sein Talent auf. Die schwachen Schulnoten waren aber auch das Resultat davon, dass Morricone abends Auftritte in Clubs spielen musste, um für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie zu sorgen. Der Student schlief regelmäßig im Unterricht ein, aber nicht in den Lehren von atonaler und moderner Musik. Je ungewöhnlicher es wurde, umso höher war das Interesse des Genies, welches aus dem Stehgreif Melodien zu Papier bringen konnte. Das musste er auch, denn er schrieb zu Beginn seiner Karriere in den 1960ern italienische Popsongs genauso wie Stücke auf seinem elitären Konservatorium. In seiner Arbeit entstand ein Kampf, eine Art Schizophrenie aus populärer Musik fürs schnelle Geld und von virtuosen „Klangerlebnissen“, welche die Grenzen der melodischen Musik weit hinter sich ließen. Für diesen Konflikt gab es nur ein Ventil: Die Filmmusik.

Die Entdeckung

Selbst ein gestandener Morricone-Fan wird in ENNIO MORRICONE – DER MAESTRO etwas Neues entdecken. Vor allem beeindrucken die Interviews mit ihm. In der Öffentlichkeit eher schüchtern und auch bei Preisverleihungen eher bescheiden, zeigt er sich hier ganz offen und stark an Gefühlen. Was dem Umstand der langjährigen Freundschaft zwischen dem Filmemacher Tornatore und Morricone zu verdanken ist. Er ist ein hochsensibles Genie, welches sich streng in Disziplin übt und selbst im hohen Alter noch komponiert und sportliche Übungen in seinem vom Chaos regierten Arbeitszimmer unternimmt. Es gibt jedoch auch jede Menge Hintergrundwissen, Anekdoten und irre Wendungen der Filmgeschichte, die man im Dokumentarfilm von einer Vielzahl an Wegbegleitern erzählt bekommt. Der freundschaftliche Streit zwischen Sergio Leone und Morricone auf dem Rücken der Western-Filmmusik ist irre, wenn man überlegt welche beispiellosen akustischen Merkmale daraus entstanden sind. Oder die Geschichte, dass Stanley Kubrick Morricone für sein UHRWERK ORANGE haben wollte und Sergio Leone am Telefon Kubrick einfach anlog, Ennio hätte keine Zeit. Was wäre wohl daraus geworden: Kubrick und Morricone, dass neue Geniegespann. Nicht nur filmhistorisch eine interessante Überlegung, sondern auch weil beide leidenschaftliche Schachspieler waren.

Die Inszenierung
Das Leben und Werk Morricones ist unantastbar, umfangreich und so prägend für die Filmmusik wie Steven Spielberg es für das Blockbusterkino ist. Jedoch ist die Dokumentation über das Leben dieses musikalischen Revolutionärs viel zu brav und geradlinig. Es gibt Unmengen an Persönlichkeiten, die in Interviews zum Maestro befragt werden. Von der Tochter Leones über Clint Eastwood oder Hans Zimmer bis zu James Hetfield. 80 Prozent sind „Talking Heads“ mit ein paar wenigen TV-Aufnahmen und Fotos aus der Kindheit. Schwer vorstellbar, dass hier nicht mehr möglich gewesen wäre. Die Filmszenen und Musikstücke sind treffsicher gewählt, erklären mit einfachen Worten die Kraft dahinter und auch der Vergleich wie Szenen mit anderer Musik gewirkt hätten, ist erhellend. Jedoch ist die Inszenierung zu konservativ und traut dem Publikum nicht mehr zu, vor allem, weil sie mit einer Laufzeit von 165 Minuten weit über die herkömmliche Aufmerksamkeitsspanne hinausgeht. Es gibt viel zu erzählen, viel zu entdecken und auch zu hören, jedoch wäre ein Mini-Serien-Format mit beispielsweise vier Folgen à 45 Minuten und passenden Kapiteln lehrreicher gewesen. Aber Morricone war nun einmal ein Filmmusikdirigent und Giuseppe Tornatore ist ein Kinofilmregisseur, da wollte man sich aus den traditionellen Schemata nicht fortbewegen. Ein moderner Künstler wie Morricone, der unkonventionell arbeitete, hätte ein ungewöhnliches Format mit nichtlinearer Erzählstruktur viel spannender erzählt und sicher auch nachhaltiger.

Fazit
Ein gefühlvoller Einblick in die Welt eines Ausnahmekünstlers, nicht nur wegen seinem enormen Einfluss auf die Filmmusik, sondern vor allem wegen seiner Art zu komponieren, seiner Bescheidenheit und seinem Wissen. „Musik braucht Freiheit“ – Ennio Morricone entfesselte sie mit jedem Stück.
Bonus: Als Beweis, welche unerwarteten Ohrwürmer auch Morricone für die italienische Popmusik schrieb, gebe ich euch diesen mit auf den Weg: Mina mit „Se telefonando“
Titel, Cast und Crew | Ennio Morricone – Der Maestro (2021) OT: Ennio |
Poster | ![]() |
Regie | Giuseppe Tornatore |
Release | Kinostart: 22.12.2022 ab dem 27.04.2023 in einer Special-Edition (UHD + BD + Konzert-BD + Soundtrack) und auf einzel-Blu-ray und -DVD erhältlich. Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: Direkt beim Label Plaion Pictures bestellen >>> |
Trailer | |
Interviewpartner | Ennio Morricone Clint Eastwood Terrence Malick Quentin Tarantino Dario Argento Wong Kar-Wa Barry Levinson Hans Zimmer John Williams Bruce Springsteen Joan Baez James Hetfield Quincy Jones Zucchero Lina Wertmüller Bernardo Bertolucci Roland Joffé Mychael Danna Mike Patton |
Drehbuch | Giuseppe Tornatore |
Kamera | Andrea Giacomini |
Schnitt | Massimo Quaglia |
Filmlänge | 156 Minuten |
FSK | Ab 6 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter