„Geschichtenerzähler“
Unser Leben ist auf Effizienz optimiert. Wenn die kommende Woche keine Termine hat, ist manche(r) schon todtraurig und weiß nichts mehr mit sich anzufangen. Es gibt nur noch wenige Orte, an denen man im Hier und Jetzt leben, seinen Gedanken nachgehen und gute Gespräche führen kann. Für mich ist ein solcher Ort das Auto. Ich liebe es eine längere Strecke zu fahren, dem Radio zu lauschen oder sich mit der Mitfahrerin oder dem Mitfahrer zu unterhalten. Diesen Effekt hatte ich abends unerwartet mit DRIVE MY CAR auf der Couch. Nach einem langen ermüdenden Tag zur späten Stunde, erwartete ich nicht das Ende dieser japanischen Produktion mit drei Stunden Laufzeit in Originalsprache mit Untertiteln zu erleben. Von Müdigkeit keine Spur, zugegeben es war eine lange Fahrt, aber voller intensiver Gespräche, Gedanken und Emotionen. Eine solche Konzentration im 21. Jahrhundert mit einfachsten Mitteln bei uns Zuschauerinnen und Zuschauern zu erzeugen, ist geradezu eine Offenbarung. Zurecht mit dem Oscar für den besten internationalen Film 2021 gekürt und einer der besten Filme der letzten Jahre: DRIVE MY CAR.
Handlung
Die langjährige Beziehung von Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) und Oto (Reika Kirishima) ist eingespielt und harmonisch. Er ist Schauspieler und Regisseur am Theater, sie ist Drehbuchautorin fürs Fernsehen. Doch eines Tages stirbt Oto überraschend an einer Hirnblutung.
Zwei Jahre später reist Kafuku für ein paar Wochen nach Hiroshima für ein Theaterfestival. Er soll „Onkel Wanja“ von Anton Pawlowitsch Tschechow inszenieren. Besonderheit ist, dass er mit Schauspielern arbeitet, die unterschiedliche Sprachen sprechen, auch während der Aufführung. Während der Vorbereitungszeit besteht aber die Festivalleitung darauf, dass er sich von seinem abgeschiedenen Hotel zu den Proben fahren lässt. Zögerlich gibt er die Autoschlüssel seines Saab 900 – ein schnittiger roter Klassiker – an die junge Fahrerin Misaki Watari (Tōko Miura). Mit der Arbeit am Theaterstück und den chauffierten Fahrten wird Kafuku immer wieder an seine verstorbene Frau erinnert. Psychotherapie in einem Oldtimer?
Bezugspunkte
Bevor man sich versieht, hat DRIVE MY CAR schon unsere gesamte Aufmerksamkeit. Wie der Film von Ryusuke Hamaguchi das ohne offenkundige Spannung macht? Schwer nachzuvollziehen. Ich denke es liegt an den Bezugspunkten zu einem selbst und die schönen Momente im Film, die das Interesse wecken. Davon gibt es viele: Zwei Liebende, die sich eine intensive Geschichte erzählen; das ausgewogene japanische Design oder die Figuren mit ihrem minimalen Spiel, das dennoch tief in ihre Rolle hineinblicken lässt. Der Film ist viel mehr als ein Road-Movie, auch wenn ein Saab 900 noch nie so schön in Szenen gesetzt wurde, selbst nicht einmal bei den originalen Werbespots von 1978. DRIVE MY CAR ist das Kennenlernen von Persönlichkeiten. Der Künstler Kafuku – allein der Name deutet schon meisterliches Wissen an – kommt in eine fremde Welt und lernt Menschen kennen. Die Schauspieler seines Stücks, den Organisator des Festivals und seine Fahrerin. In all den Gesprächen findet er etwas, was ihn an seine Frau erinnert. Es ist unmöglich den Verlust eines geliebten Menschen zu vergessen oder zur Seite zu schieben. Was mir aber persönlich besonders gefällt, ist der Einsatz des Theaterstücks „Onkel Wanja“.
Das Stück taucht immer wieder zur Autofahrt auf. Oto, Kafukus Ehefrau, hatte damals – er übte für die Hauptrolle – den Text zum Lernen eingesprochen. Zwischen ihm und seiner verstorben Liebe ist mit dieser Kassette der Verlust und die Vergangenheit allgegenwärtig. Allein deswegen will er sich nicht gern chauffieren lassen, um die Bindung zu diesem Magnetband nicht zu verlieren. Die Inszenierung des Films setzt nun bestimmte Stellen des Stück so geschickt in die Handlung ein, dass sie wie Kommentare auf die vorherige Szene wirken oder einen Einblick in die Gedanken von Kafuku gewähren. „Onkel Wanja“ quasi als metatextueller Kommentar auf die einzelnen Szenen. Um die künstlerische Schraube noch höher zu drehen, basiert das Drehbuch auch noch auf der gleichnamigen Kurzgeschichte sowie auf der Kurzgeschichte „Scheherazade“ von Haruki Murakami.
Verlust
Im Kern ist DRIVE MY CAR ein Drama über Verlust. Wie überwinden wir den Tod eines geliebten Menschen? Oder geht das überhaupt nicht? Der 40-minütige Prolog des harmonischen Ehepaars, in dem sich bereits die Untreue der Ehefrau zeigt, ist essentiell für die weitere Entwicklung des Filmerlebnisses. Somit verstehen wir besser, was in der Hauptfigur vor sich geht und kennen die vergangenen „guten Zeiten“. Dennoch wird die Vergangenheit erweitert. Das Drehbuch trägt mit immer mehr Geheimnissen und Geschichten in den Dialogen weitere Schichten auf das komplizierte Geflecht des Hauptcharakters und der vergangenen Ehe auf. Aber nicht nur die Persönlichkeit des Theaterregisseurs Kafuku erlangt dadurch immer feinere Konturen, auch seine Begleiter wie die Schauspieler, die Fahrerin und der Festivalleiter erhalten viel mehr Profil. So dass es zum Ende schwer vorstellbar ist, dass diese Figuren nicht wirklich existieren.
Verlust findet in vielen Fassetten Einzug: Im frühen Tod einer Tochter, die brutale Erziehung einer Mutter oder das Fehlen von Liebe und Treue. Aber auch der Verlust von Kontrolle wird thematisiert, was zum Beispiel das Handwerk Theater so besonders macht.
Sprache
Ihr merkt, DRIVE MY CAR steckt voller Leben und Geschichten, die gehört werden möchten. Eine Besonderheit ist der Gebrauch von Sprache, die vor allem in der Art des Theaterstücks sich widerspiegelt. „Onkel Wanja“ wird von den Darstellern in verschiedensten Sprachen aufgeführt, jeder benutzt seine Muttersprache, für das Publikum bei der Aufführung werden Untertitel auf der Leinwand angezeigt, für uns bei diesem Film deutsche Untertitel. Es wird sogar Gebärdensprache genutzt. Besonders hier findet Darstellung und Sprache zu einer ganz besonderen emotionalen Performance zusammen. Zurecht gehören die letzten „Worte“ der Rolle von Sonja, die ihrem Onkel Wanja erklärt, wie man mit Trauer umgeht.
Fazit
DRIVE MY CAR ist mit jeder Faser clever durchdacht, vielschichtig und emotional tiefgründig. Obwohl jede Szene und jedes Bild erstaunlich minimalistisch wirkt, entfaltet sich durch diese Reduzierung eine durchdringende Konzentration in uns Zuschauern. Keine Sorge DRIVE MY CAR ist nicht einmal ansatzweise so verkopft wie man erwartet. Unbedingt einsteigen und mitfahren.
Titel, Cast und Crew | Drive My Car (2021) OT: Doraibu mai kā |
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Poster | |
Release | Kinostart: 23.12.2021 seit dem 24.06.2022 im DigiPack (Blu-ray & DVD) und auf DVD erhältlich. Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: |
Regisseur | Ryūsuke Hamaguchi |
Trailer | |
Besetzung | Hidetoshi Nishijima (Yūsuke Kafuku) Tōko Miura (Misaki Watari) Masaki Okada (Kōji Takatsuki) Reika Kirishima (Oto, Kafukus Ehefrau) |
Drehbuch | Ryūsuke Hamaguchi Takamasa Ōe |
Kamera | Hidetoshi Shinomiya |
Musik | Eiko Ishibashi |
Schnitt | Azusa Yamazaki |
Filmlänge | 179 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter