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Die Legende vom Ozeanpianisten (1998) – Filmkritik

„Transferzone“

Das Reisen ist etwas Besonderes. Für einige gehört es jedoch zum Alltag, ist ein fester Bestandteil ihres Lebens. Wenn alle nach der langen Fahrt oder einem langen Flug aussteigen können und endlich an ihrem Ziel sind, bleiben die Reisebegleiter zurück, treten die Rückreise an und beginnen später das ganze Prozedere von vorn. Sie befinden sich weder an dem einen Ort noch an dem anderen. Das Transportmittel wird zur Heimat, es ist ein Leben in einer Transferzone. Kino kann ebenfalls eine solche Passage sein. Innerhalb weniger Minuten befindet man sich in einer anderen Welt, Zeit oder Realität. Die Geschichten auf der Leinwand sind lebendig, ziehen ihre Betrachter in ihren Bann. Dies ist nur einer der Aspekte, welche einem beim Betrachten von DIE LEGENDE VOM OZEANPIANISTEN durch die Gedanken schweifen.

© Plaion Pictures

Giuseppe Tornatores Film erzählt vom Schiff RMS Virginian, das Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen Europas Westküste und der amerikanischen Ostküste verkehrte. Für viele Europäer war das Schiff der erste Schritt in einen hoffnungsvollen Neubeginn in den Vereinigten Staaten, aber für hunderte Menschen, die auf dem Schiff lebten und arbeiteten, war es ein Zuhause. Ein Mann verließ nie das Schiff und galt als einer der besten Pianisten der Welt. So die fiktive Legende, welche Mitte der 1990er Jahre in Form eines Monologs des italienischen Schriftstellers Alessandro Baricco ihren Weg ins Theater fand. Regisseur Giuseppe Tornatore (CINEMA PARADISO) verfilmte diese Geschichte in prächtigen Bildern und dank Ennio Morricones Kompositionen gefühlvoll für die Kinoleinwand.

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Handlung

„Amerika!“, endlich angekommen im Land, in dem Träume in Erfüllung gehen. Alles ist möglich. Während hunderte Emigranten den Ozeandampfer Virginian verlassen, rutscht der Heizer Danny Boodmann (Bill Nunn) auf den Knien unter den Tischen der ersten Klasse umher. Er ist auf der Suche nach wertvollen Fundstücken. Doch er findet etwas anderes von Wert. Auf dem Pianoflügel steht eine Obstkiste, in der sich ein Säugling befindet. Danny ist ganz verzaubert von dem Kleinen und nutzt die Chance endlich Vater zu sein. Im Geheimen zieht er den Kleinen mit dem Namen „Danny Boodman T.S. Lemon 1900“ im Bauch des Dampfschiffs groß. Von allen wir das Findelkind 1900 („Nineteen Hundered“ bzw. im Italienischen „Novecento“) genannt, das Jahr in dem er gefunden wurde. Für das begabte, lebhafte Kind ist das Schiff ein gemütlicher Ort, voller Freunde und Abenteuer. Er wächst ausschließlich auf dem Dampfer auf und eines Tages erklingen Klaviertöne aus den oberen Decks an seine Ohren. Das Interesse ist geweckt. 1900 setzt sich eines Nachts an den Flügel und spielt, als ob er nie etwas anderes in seinem Leben getan hätte. Das Schiff hat ab sofort einen neuen Ozeanpianisten (Tim Roth). In seiner Karriere begleitet ihn der Trompeter Max Tooney (Pruitt Taylor Vince) für ein paar Jahre als Freund. Max ist es auch, der uns die Geschichte vom Ozeanpianisten erzählt.

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Märchenhaft nostalgisch

Auch wenn der Film erst Ende der 1990er Jahre gedreht wurde, fühlt sich DIE LEGENDE DES OZEANPIANISTEN viel älter und vertrauter an. Es wäre in dieser Zeit ein Leichtes gewesen, aus der Geschichte ein Drama zu machen, aber Tornatore scheint seine kindliche Neugier für Geschichte nie verloren zu haben. Verspielt lässt er im Sturm den Pianoflügel durch den Ballsaal des Schiffes gleiten, treibt verschmitzt einen Amerika-Running-Gag auf die Spitze und vertraut auf die Erschaffung seiner Hauptfigur. Und das ist nicht leicht, den eigentlich gehört der Film dem Erzähler Max Tooney, der in Rückblicken und Erinnerung uns Zuhörern von 1900 und seiner musikalischen Begabung erzählt.

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Es ist auch Max‘ Freundschaft zu verdanken, dass wir als Publikum überhaupt einen emotionalen Zugang zu 1900 finden. Denn der fällt vor allem durch sein Klavierspiel auf und weniger durch nachvollziehbare Gefühle. Sicherlich gewollt, sieht man die Rolle von Tim Roth nie trinken oder essen. Etwas Geisterhaftes und Zeitloses haftet ihm an, weder musikalische oder charakterliche Entwicklungen sind zu sehen. Im Mittelpunkt stehen sein unerschöpfliches Talent und die Besonderheit, dass er nie das Schiff verlassen will. Jetzt steht natürlich die Frage im Raum, was der Film uns erzählen möchte. Ist es eine Charakterstudie über einen Künstler, der nie die Anerkennung erhalten hat, die er verdiente? Oder geht es um Heimat und soziale Bindungen im Angesicht des industriellen Zeitalters?

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Geschichten erzählen

Selbstreflexiv geht es ebenfalls um die Art und Weise, Geschichten zu entdecken und zu erzählen. 1900 spielt keine Melodien aus dem Gedächtnis, sondern es sind Ausdrücke der Menschen und Situationen, die er sieht. Wenn er eine fremde Person beobachtet, fällt ihm eine Geschichte zu ihr ein, er erzählt sie aber nicht, sondern vertont sie melodisch. In der Szene, wenn sein Spiel auf eine Schallplatte aufgezeichnet werden soll, spielt 1900 zu Beginn noch vor sich hin, doch dann entdeckt er eine junge Passagierin (Mélanie Thierry) und es erklingt ein gefühlvolles Liebesthema. Inspiration wird direkt in Kunst verwandelt, aufgrund von Beobachtung und Fantasie. Genauso geht Regisseur Giuseppe Tornatore an seine Filme heran, wie man in der Dokumentation GIUSEPPE TORNATORE: JEDER FILM, IST MEIN ERSTER FILM erfährt, der in der unten empfohlenen Special-Edition enthalten ist. Er fotografiert Menschen und lässt sich danach Geschichte zu ihnen einfallen. Wo kommen sie her? Was haben sie erlebt? Was sind ihre Träume?

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Und so wie Tornatore seine narrative Kreativität ausschöpft, so schöpft der Filmkomponist Ennio Morricone seine Kompositionen fast wie aus dem Nichts für diesen Film. Morricone konnte Melodien einfach auf Notenblätter schreiben, ohne ein Musikinstrument zu hören oder selbst zu spielen. Der Regisseur und der Komponist waren viele Jahre befreundet und auch beruflich kreuzten sich immer wieder ihre Wege. Tornatore drehte zum Beispiel die Doku ENNIO MORRICONE (2021), welche nach Morricones Tod veröffentlicht wurde. Wenn man dieses kreative Zusammenspiel bedenkt, macht das DIE LEGENDE VOM OZEANPIANISTEN zu einer Verfilmung dieser Freundschaft und deren Liebe zum Medium Film. Vielleicht halten sogar die Figuren Max Tooney und 1900 für eine Verkörperung der beiden Künstler stand?

Nichtsdestotrotz ist eine enorme Themenvielfalt zu entdecken, wie die Unsicherheit vor der Zukunft, Angst vor dem Unbekannten, die musikalische Bedeutung von Erinnerung und unser Umgang mit menschlichen Beziehungen.

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Eine Legende im Heimkino

Die Kritiken zum damaligen Kinorelease waren gemischter Natur. Heute kann man sagen, dass der Film wahrlich einen Sonderling der 1990er Jahre darstellt und wie seine Hauptfigur aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Aber gerade das macht ihn heute so spannend in seiner Wahrnehmung. Der Erfolg an der Kinokasse blieb damals leider aus. Eine kleine Wiedergutmachung gab es im Jahr 2019 als DIE LEGENDE VOM OZEANPIANISTEN nach 4K-Restauration noch einmal ins Kino kam, und zwar in China. Der Film spielte dort seine vorherigen Ticketverkäufe locker ein weiteres Mal ein. Die Freigabe unter der strengen chinesischen Parteiführung hat vielleicht auch mit der Haltung von 1900 zu tun, der seine Heimat, das Schiff, ungern verlassen will und die große Welt scheut – sicherlich im Interesse der KP, dass die Bevölkerung diese Stimmung teilen sollte.

© Plaion Pictures
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Zurück zum europäischen Kontinent, denn dank PLAION PICTURES kann man jetzt in den Genuss der hervorragenden Restoration von DIE LEGENDE VOM OZEANPIANISTEN in den eigenen vier Wänden kommen. Das Label stellt dafür ein dickes Paket zusammen. Die Kinofassung liegt auf Ultra HD Blu-ray und Blu-ray mit tollem Bild und Ton bei. Zusätzlich verlässt zum ersten Mal die Langfassung auf Blu-ray mit sage und schreibe 45 Minuten mehr Laufzeit den italienischen Kontinent (kleine Parallele zu CINEMA PARADISO (1988), da gibt es auch zwei erheblich unterschiedliche Versionen). Für die Langfassung in dieser Edition gibt es zwei minimale Nachteile: Beim Ton lässt sich lediglich Englisch mit deutschen Untertiteln anwählen und das Bild hat nicht die Qualität der Kinofassung auf den anderen beiden Disks. Die Farben gehen ins Gelbliche und sind wärmer, etwas Schärfe geht gegenüber der Kinofassungs-Blu-ray ebenfalls verloren. Eine Versionsempfehlung hängt vom Publikum ab. Die Fans des Regisseurs, des Komponisten und diejenigen, die den Film bereits gesehen haben, sollten unbedingt zur Langfassung greifen. Die Kinofassung wird aber in ihrer Konzentration sicherlich jeden anderen ebenfalls glücklich machen.

Special-Edition mit UHD+BD+BD+Bonus-BD+Soundtrack-CD & Artcards, Poster, Booklet

Das reichte dem Label für eine Special Edition noch nicht aus. Eine Bonus-Blu-ray bietet knapp drei Stunden Extras wie zum Beispiel die bereits erwähnte Dokumentation GUISEPPE TORNATORE: JEDER FILM, IST MEIN ERSTER FILM (107 Min. OmU). Außerdem liegt ein 24-seitiges Booklet mit einem Text vom Kollegen Stefan Jung bei. Unbefangen kann man hier wieder einmal sagen, dass die Texte von Stefan zu den Besten der Szene gehören – ein ausgewogener Mix aus Analyse, Hintergrundinformationen und – da sind wir uns beide einig, der eigentlichen Hauptfigur: Musik. Sehr lesenswert! Wie oft hat man bereits bei Vorstellung solch umfangreicher Editionen geschrieben: „Wenn jetzt noch der Soundtrack dabei wäre, würde es sich um ein Wunschlos-Sorglos-Paket handeln.“? Der Satz gilt hier nicht, denn Morricones zauberhafte Musik und melodischer Protagonist von DIE LEGENDE VOM OZEANPIANISTEN liegt als Audio-CD bei. Zusammen mit der wunderschön designten Box mit Glanzfolien-Cover muss man eine Kaufempfehlung aussprechen (UVP knapp 40 € für diese 5-Disc-Special-Edition).

© Plaion Pictures

Fazit

Der Film ist ein Sonderling wie sein Hauptdarsteller, aber in einem besonders guten Maße. DIE LEGENDE VOM OZEANPIANISTEN bekommt eine würdige Veröffentlichung fürs Heimkino und das Gesamtpaket spiegelt das vielfältige Themenspektrum seiner Geschichte wider. Volle Fahrt voraus!

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewDie Legende vom Ozeanpianisten (1998)
OT: La leggenda del pianista sull’Oceano
Poster
Releaseseit dem 27.04.2023 in einer Special-Edition (UHD + 2x BD + Bonus-BD + Soundtrack-CD) erhältlich.

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RegieGiuseppe Tornatore
Trailer

OmU
BesetzungTim Roth (Neunzehnhundert)
Pruitt Taylor Vince (Max Tooney)
Mélanie Thierry (das Mädchen)
Bill Nunn (Danny Boodmann)
Clarence Williams III (Jelly Roll Morton)
Peter Vaughan („Pops“)
Niall O'Brien (Hafenmeister)
Vernon Nurse (Fritz Hermann)
Sidney Cole (Musiker)
Gabriele Lavia (Farmer)
DrehbuchGiuseppe Tornatore
Vorlagebasiert auf Monolog von Alessandro Baricco.
KameraLajos Koltai
MusikEnnio Morricone
Amedeo Tommasi
SchnittMassimo Quaglia
Filmlänge121 Minuten (Kinofassung)
165 Minuten (Italienische Langfassung)
FSKab 6 Jahren

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