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Die Frau im Nebel (2022) – Filmkritik

Park Chan-wook, der koreanische Meister der verschlungenen Erzählung (JOINT SECURITY AREA, OLDBOY, THE HANDMAIDEN) hat wieder zugeschlagen. Sein neuer Film FRAU IM NEBEL, der 2022 im Wettbewerb von Cannes lief, beinhaltet weniger grausame Gewalt, dafür ist die Romantik noch dunkler.

Hae-jun, sozusagen der Held der Geschichte, führt eine funktionale, aber harmonische Ehe als Fernbeziehung: Er pendelt zwischen der Mordkommission im Busan und Ipo, wo seine Frau im Kernkraftwerk arbeitet. Sie ist sehr nüchtern, hantiert mit Zahlen und Statistiken und hat für alle Probleme recht „mechanistische“ Lösungen – Schildkröten helfen gegen Depressionen -, bis sie dadurch schon wieder esoterisch wirkt. Als der Leiter der Einwanderungsbehörde beim Bergsteigen tödlich verunglückt, stellt sich die Frage: War es ein Unfall? Selbstmord? Mord? Quasi die einzige Verdächtige ist die Witwe Seo-rae, die als Flüchtling aus China ins Land gekommen war. Sie scheint nicht groß zu trauern, hat aber ein Alibi.

© Plaion Pictures

Wir lernen Hae-jun als Polizisten kennen, der sein Handwerk beherrscht und die Menschen kennt, aber er kann nicht zwischen Beruflichem und Privatem trennen. Seine Zweitwohnung hat er vollgestopft mit Leichenfotos von offenen Fällen, und Seo-rae fasziniert ihn besonders. Die Zeichen der Annäherung sind offensichtlich und entgehen auch den Kollegen nicht: Zum Verhör bestellt er teures Essen, er fängt wieder an wie sie zu rauchen, er hört die Musik, die sie als Pflegerin einer der „Omas“ auf das Handy gespielt hat. Wenn er sie nächtens aus seinem Auto observiert, zeigt die Kamera ihn in der Wohnung an ihrem Leben teilhaben. Einmal trägt sie erst sich und dann ihm Lippenbalsam auf: ein sehr indirekter Kuss. Wer bei der FRAU IM NEBEL an Hitchcock, insbesondere VERTIGO denkt, liegt nicht falsch, greift aber zu kurz.

© Plaion Pictures

Erst mal wird die Situation immer verwickelter. In China wird sie wegen des Mordes an ihrer Mutter gesucht, in ihren Worten war es Sterbehilfe, und natürlich sind noch ein paar der Tabletten übrig. Außerdem arbeitet er an einem weiteren Fall, was den Film ein wenig überfrachtet und zu etwas aufgesetzt wirkenden Action-Szenen führt. Von ruhiger Musik untermalt und einmal als Verfolgungsjagd in nur einer Einstellung gefilmt, sind sie allerdings kunstvoll mit der eigentlichen Handlung zusammen montiert.

Man rät als Zuschauer mit, ob Seo-rae unschuldig ist oder ihn ausnutzt. Hinweise werden schon sehr früh gestreut und eingesammelt. Schließlich löst Hae-jun den Fall. Der Film scheint an sein Ende zu kommen, dabei ist gerade mal Halbzeit. Neue Personen tauchen auf, neue Handlungsstränge beginnen. Wir sehen Szenen, die wir erst im Nachhinein verstehen können. Hae-jun hat sich zu seiner Frau nach Ipo versetzen lassen. Ipo ist die Stadt im Nebel. Da begegnen sie sich zu viert, Seo-rae hat wieder geheiratet. Kurz darauf kommt es zu einem weiteren Todesfall, diesmal ist es zweifellos Mord. Dieser Mordfall (oder sind es mehrere?) ist sogar noch komplizierter. Nun sind die Rollen vertauscht, er ist verbissen von ihrer Schuld überzeugt, während sie sich aus Gefühlen zu ihm zu Handlungen verleiten lässt, die sie verdächtig machen.

© Plaion Pictures

DIE FRAU IM NEBEL ist ein Neo-Noir, mehr noch ein Melodram. Die Kamera ruht auf den Gesichtern. Der ganze Film ist sehr dunkel und in ein kaltes Licht getaucht, überhaupt ist die Lichtsetzung bemerkenswert. Hae-jun ist somnambul – der Film ist es selber ein wenig – und fährt schon zu Beginn durch den Nebel. DECISION TO LEAVE lautet der internationale Titel, was der Regisseur folgendermaßen erklärt: Man stellt fest, dass man nicht zusammenpasst, schafft es aber nicht, den anderen zu verlassen.

© Plaion Pictures

Von Anfang an gelingt es Park Chan-wook, Spannung und eine konzentrierte Atmosphäre zu erzeugen, so dass man vor der umfangreichen und in raschem Tempo erzählten Handlung nicht kapituliert. Es gibt auch die Sprachbarriere zwischen den Hauptfiguren. Hin und wieder greifen sie auf ihre Smartphones zurück, um ihre Dialoge zwischen Koreanisch und Mandarin übersetzen zu lassen. Daraus ergeben sich Wortspiele, aber auch Liebesgeständnisse, die der andere nicht verstehen kann. Die Kommunikation ist nicht ganz sicher – auch für den Zuschauer: Was ist vielleicht nur gespielt? Eigentlich spricht sie sehr gut Koreanisch, die deutsche Synchronisation ahmt die leicht ungewohnte Aussprache gut nach.

© Plaion Pictures

Handys spielen generell eine wichtige Rolle, für die Lösung des Falls, aber auch für den Schnitt. Bei ihrem Einsatz ist Park Chan-wook visuell sehr einfallsreich. Man sieht nicht nur den getippten Text ins Bild geschrieben, wie es spätestens seit Benedict Cumberbatchs SHERLOCK Standard ist. Wir hören Sprachnachrichten und Tagebuch-Einträge, sehen Smart Watches, Telefonate werden aus der Perspektive des Handys gefilmt, so dass wie sie leibhaftige Dialoge erscheinen. Und auch wenn sich Hae-jun und Seo-rae gar nicht unterhalten und an verschiedenen Orten sind, scheinen sie sich durch die Montage anzublicken.

© Plaion Pictures

Das Augen-Motiv ist dauernd präsent, die Augen der Leiche sind offen, seine Frau fasst beim Einkaufen die Fischaugen an. Das Bild ist oft geteilt oder indirekt gefilmt, auf Handy-Displays oder durch Glas. Sehen ist auch für die Figuren Hae-jun und Seo-rae sehr bedeutsam. Er hängt die Bilder der Mordopfer an die Wand, sie will die Fotos von ihrem toten Mann sehen.

Hae-jun wird von Park Hae-il dargestellt, den man vielleicht aus MEMORIES OF MURDER oder THE HOST von Bong Joon Ho kennt. Die chinesische Schauspielerin Tang Wei spielt Seo-rae. Sie hatte in LUST, CAUTION von Ang Lee die Hauptrolle inne und hat eigens für DIE FRAU IM NEBEL Koreanisch gelernt. Als Inspiration für den Film nennt der Regisseur die schon ältere schwedische Krimireihe „Roman über ein Verbrechen“, die man einmal im Bild sieht, aber keine direkten Ähnlichkeiten in Personal und Handlung aufweist, sowie ein koreanisches Lied namens „Nebel“, ein Hit aus den 60er Jahren, das im Film eine prominente Rolle spielt.

© Plaion Pictures

Wie üblich greift Park Chan-wook aber auch auf klassische westliche Musik zurück. Diesmal ist es die Fünfte Symphonie von Gustav Mahler, melodramatisch wie bei Hitchcock. Ein weiteres Steckenpferd des Regisseurs sind Sinnsprüche, die bei ihm aber tatsächlich Hinweise zum Entschlüsseln seiner Filme liefern. Es fallen Sätze wie: „Die Trauer trifft manche wie eine Flutwelle, bei manchen steigt sie langsam.“ oder „Morden ist wie Rauchen – nur der Anfang ist schwer.“ Eine Schere wird unangenehm eingesetzt, ein Déjà-vu an OLDBOY.

© Plaion Pictures

Anders als in OLDBOY sind die Menschen hier aber durchgehend in ruhiger, fast gedämpfter Stimmung. Niemand schreit, es gibt kaum Gefühlsausbrüche. Das macht den Film elegisch, aber auch ein wenig blutleer. Es ist für ein westliches Publikum auch nicht ganz leicht, die koreanischen Figuren und ihre Namen auseinander zu halten, was natürlich kein Vorwurf ist.

Im Gegenteil, die Mühe lohnt sich. Park weiß einfach, wie man Filme macht. DIE FRAU IM NEBEL ist ein Meisterwerk des assoziativen Schnitts, vom lebendigen auf ein totes Auge, vom gesprochenen Wort „Blaulicht“ auf ein Rotlicht. Menschen erscheinen oder verschwinden in einer Kamerabewegung, so dass Monologe, Dialoge und Rückblenden in Eins fallen. Ein Mord und seine Auflösung laufen parallel ab, in der Realität und in einer App. Das Erstaunlichste dabei ist aber, dass die vielen visuellen Ideen kein beliebiges Potpourri bilden, sondern ineinandergreifen und eine zusammenhängende Bildsprache ergeben.

Der Gegensatz zwischen den Bergen und dem Meer taucht wiederholt auf, als Vorliebe und beim Sterben. Hae-jun und Seo-rae ziehen das Meer vor.

© Franz Indra

Titel, Cast und CrewFrau im Nebel (2022)
internationaler Titel: Decision to Leave
OT: 헤어질 결심 (Haeojil gyeolsim)
Poster
Releaseseit dem 25.05.2023 auf Blu-ray und DVD erhältlich.

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RegiePark Chan-wook
Trailer
BesetzungPark Hae-il (Chang Hae-joon)
Tang Wei (Song Seo-rae)
Lee Jung-hyun (Jeong-an)
Go Kyung-pyo (Soo-wan)
Park Yong-woo (Ho-sin)
Jung Yi-seo (Yu Mi-ji)
Yoo Seung-mo (Gi Do-su)
Jeong Ha-dam (Oh Ga-in)
DrehbuchPark Chan-wook
Chung Seo-kyung
KameraKim Ji-yong
MusikCho Young-wuk
SchnittKim Sang-beom
Filmlänge138 Minuten
FSKab 16 Jahren

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