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Die Aussprache (2022) – Filmkritik

Das Heute unserer westlichen Welt: Medien schießen uns konzipierte Emotionen im Sekundentakt in die Amygdala, um gleich mit der nächsten nur noch einen Wisch oder Klick entfernt zu sein. Das grundlegende Verhalten der Menschen ändert sich leider nicht durch ethnisch diverse Werbekampagnen oder geschlechtergerechte Sprache. Sicher, sie sind Bestandteile eines Prozesses, aber der Anfang wird in Schicksalen, Erfahrungen und in ebenbürtigen Diskussionen gemacht. Doch nicht jeder kann daran teilhaben, sich ohne weiteres in fremde Gesellschaften oder Menschen hineinzufühlen. Zum Glück gibt es noch Bücher und das Kino. Sie nehmen sich Zeit eine Geschichte zu erzählen und am Ende hat sich die eigene Sicht erweitert. DIE AUSSPRACHE ist solch ein starker Prozess, der Verhalten ändert, die Existenz befragt und uns die Verantwortung eines Lebens begreiflich macht.

© 2022 Orion Releasing LLC. All Rights Reserved.

Handlung

In einer isolierten Glaubensgemeinschaft geschieht Unvorstellbares. Eine Gruppe Männer vergewaltigt immer wieder betäubte Frauen und Mädchen in den Nächten. Zu Beginn als Prüfung Gottes oder teuflische Vision abgetan, erwischen zwei Mädchen einen fliehenden Täter, den sie kennen. Der Ergriffene verrät, dass er nicht allein mit dieser Tat dasteht, sondern eine ganze Gruppe. Sie werden in einen Schuppen gesperrt und später von der Polizei abgeholt. Der Rest der männlichen Gemeinschaft bricht auf, um die Beschuldigten gegen Kaution freizukaufen. Den Frauen bleiben 48 Stunden bis alle Bewohner zurückkehren. Zum ersten Mal können sie sich frei entscheiden, was geschehen soll. Das ist nicht leicht, denn keine von ihnen kann lesen oder schreiben und war stets ihrem Mann untergeordnet. Eine Abstimmung soll entscheiden, was geschieht: Nichts tun, bleiben und kämpfen oder die Heimat verlassen.

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Fokus

Der Film DIE AUSSPRACHE (WOMEN TALKING) basiert auf dem gleichnamigen Buch von Miriam Toews. Wie es zu Beginn so schön heißt, basiert der Film auf dem Akt weiblicher Vorstellungskraft. Es ist eine konstruierte Situation, ein Gedankenspiel aus dem sich zeigt, wie Menschen zusammenleben und was geschieht, wenn Macht missbraucht wird und die Gruppe nicht mehr sicher ist. Die Filmproduktion und das Ensemble sind fast ausschließlich in Frauenhand und das ist nicht ausgrenzend, sondern extrem wichtig für diese Art von Parabel. Die Gewalt und Ungerechtigkeit steht nicht im Vordergrund. Man sieht keinen Einzigen der Täter bzw. die Taten. Das schmerzvolle Erwachen der Frauen nach dem Missbrauch, der aufkommende Wahnsinn und der Kampf gegen diese Ungerechtigkeit sind die Triebfedern der Zusammenkunft.

In dieser fiktiven, isolierten Gemeinschaft steht der strenge Glaube ganz oben. Darin werden die Männer jedoch wesentlich besser behandelt als diejenigen, die Leben schenken. Ausschließlich Jungen dürfen zur Schule gehen. Es gibt keinen Kontakt nach außen, keinen Strom, keine Musik und keine Bücher. Die maskuline Macht ist enorm und selbst Frauen lehren diese Gefangenschaft ihren Töchter weiter, dass sie tun sollen, was ihnen gesagt wird. Die Abstimmung grenzt da an ein kleines Wunder, dem vorausgegangen sein muss, dass sie sich über diese persönliche Tat überhaupt miteinander unterhalten. Denn in DIE AUSSPRACHE nimmt Arbeit und Glaube den ganzen Tag ein, der vom Tageslicht bestimmt wird.

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Das nächste Wunder ist die Debatte, die unter einer kleineren Gruppe von Vertreterinnen der Abstimmung in der Scheune geführt wird. Vor allem auf welch hohem gedanklichen Niveau es stattfindet, aber dennoch mit einfacher Logik, Struktur und Emotion geredet wird. Hier findet auch das größte Geschenk an das aufmerksame Publikum statt, den Wunsch wieder eine Diskussion führen zu können, ohne im Streit auseinanderzugehen. Zu Beginn ist die Gruppe mit eindimensionalen Charakteren befüllt, die ihren Standpunkt fest vertreten. Janz (Frances McDormand), die im Ort bleiben will, den Männern aus religiösen Gründen vergeben will und die Exkommunikation, die verlorene Chance auf den Himmel, fürchtet. Nach wenigen Gesprächen verlässt sie bereits die Runde. Der Rest der Gruppe ist offen und bereit für ein Gespräch aus Hilfsbereitschaft und Verständnis für den Standpunkt der anderen. Salome (Claire Foy) will bleiben und kämpfen. Für sie ist es der einzige Weg ihre kleine Tochter zu beschützen. Die hochschwangere Ona (Rooney Mara) ist sich nicht sicher und bedenkt immer wieder die Schritte und welche Konsequenzen damit einhergehen. Wenn sie bleiben und kämpfen, verletzen sie automatisch ihren Glauben. Und was ich wichtiger? Der Glaube oder der Schutz der Kinder? Es entbrennt eine Diskussion voller Wut, Tränen und Offenbarungen. Einen nicht unwichtigen Part nimmt der Protokollant der Gruppe ein. August (Ben Whishaw) ist die einzige männliche Figur in DIE AUSSPRACHE. Er ist Lehrer an der Gemeindeschule, hat eine sensible Persönlichkeit und wird von den Männern als Sonderling betrachtet. Seine Meinung findet trotz seiner neutralen Position dennoch ihren Weg in die Gruppe. So offenherzig ist dieser Verbund nun einmal. Sogar die Mädchen werden um ihre Meinung gebeten. Solch zugängliche Diskussionen vermisst man in unserer aktuellen Weltlage.

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Feminine Produktion

2018 wurde die Buchvorlage von der New York Times Book Review als bestes Buch des Jahres ernannt. Frances McDormand sicherte sich schnell die Filmrechte und trat damit an die Produzentin Dede Gardner von Plan B (Eigentümer ein gewisser Brad Pitt). Beide wollten eine Regisseurin, die sich ebenfalls auf das Schreiben des Drehbuchs verstand. Sarah Polley wurde gefunden, die das Buch schon vorher kannte und mit dem Gedanken einer Inszenierung spielte. Die Auswahl des Ensembles ist hervorragend und jede Darstellerin spielt sich die Seele aus dem Leib. Vor allem der Wut-Monolog von Claire Foy klingt noch lange nach. Ein weiteres Highlight ist wieder einmal die Filmmusik der Isländerin Hildur Guðnadóttir (TÁR, JOKER). Eine emotionale Bandbreite an Gefühlsmelodien wurde lange nicht mehr so schön im Film gehört. Sie fügt sich organisch in das feine Sounddesign innerhalb der Natur ein.

Fazit

Nach dem Film möchte man einfach, dass sich jeder DIE AUSSPRACHE ansieht oder das Buch liest. Auch wenn die Geschichte auf einer Tragödie von biblischem Ausmaß beruht, entsteht etwas wunderbar Freies, Revolutionäres und Zukunftsträchtiges.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewDie Aussprache (2022)
OT: Women Talking
Poster
RegieSarah Polley
ReleaseKinostart: 09.02.2023
Trailer
BesetzungRooney Mara (Ona)
Claire Foy (Salome)
Jessie Buckley (Mariche)
Ben Whishaw (August)
Frances McDormand (Scarface Janz)
Judith Ivey (Agata)
Emily Mitchell (Miep Friesen)
Kate Hallett (Autje)
Liv McNeil (Neitje)
Sheila McCarthy (Greta)
Michelle McLeod (Mejal)
Kira Guloien (Anna)
Shayla Brown (Helena)
Vivien Endicott-Douglas (Clara)
DrehbuchSarah Polley
VorlageNach dem gleichnamigen Roman von Miriam Toews
KameraLuc Montpellierv
MusikSimon Franglen
SchnittChristopher Donaldson
Roslyn Kalloo
Filmlänge104 Minuten
FSKAb 12 Jahren

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