„Ein Wunderwerk“
Zeit ist etwas Besonderes. Filmen gelingt es sogar sie zu konservieren. Jeder, der von seiner Lebensspanne ein paar Stunden hergibt, kann mit ihnen in die Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart reisen. Es gibt noch einen Bereich, der eng mit der Zeit verknüpft ist: die Archäologie. Je weiter sie sich in die Vergangenheit gräbt, umso schwieriger wird es, sie für das Heute greifbar zu machen. Als wären sie mit einem Sicherheitsverschluss versiegelt, sind urzeitliche Artefakte schwer in unsere Gegenwart zu holen. Gegenstände eines gesunkenen Schiffs auf dem Meeresgrund können zum Beispiel gar nicht so ohne weiteres an die Oberfläche geholt werden. Der fehlende Druck und die Atmosphäre würden manches zu Staub zerfallen lassen. Der Netflix-Filmproduktion DIE AUSGRABUNG gelingt dieses Emporheben einer Geschichte ins Jahr 2021 ganz behutsam und dennoch anspruchsvoll.
DIE AUSGRABUNG spielt im Jahr 1939, vielleicht das schwermütigste Jahr im 20. Jahrhundert. Auf einem englischen Großgrundanwesen wird ein geschichtlich bedeutender Schatz gefunden. Die Zeit bleibt für einen Moment stehen, bevor Dunkelheit über die Welt hereinbricht. Der Ruhm, die historische Bedeutung wie auch der drohende Zweite Weltkrieg, sind jedoch nicht das Herz des Films. Es ist die Erinnerung an sich, an die vielen Wochen der Ausgrabung, als die Zeit stillstand und kurz davor war sich in eine neue Epoche zu bewegen.
Handlung
Die wohlhabende Witwe Edith Pretty (Cary Mulligan) hat eine Schwäche für Archäologie. Auf ihren vielen Hektar Land befinden sich ein paar Hügelgräber und sie beauftragt den Gräber Basil Brown (Ralph Fiennes) die kleinen Berge abzutragen, um zu sehen was sich darunter befindet. Unter der größten Anhöhe tritt ein Bootsgrab zu tage. Es gibt Hinweise, die darauf schließen lassen, dass die Stätte nicht von Wikingern erschaffen wurde, sondern noch viel älter ist, um genauer zu sein angelsächsisch, 6. Jahrhundert. Der größte historische Fund auf den britischen Inseln scheint zum Greifen nah. Um die Gesundheit von Mrs. Pretty steht es wegen eines Herzleidens nicht gut. Die Anfälle werden durch zu viel Aufregung immer stärker. Der Fund ist jedoch so bedeutend, dass schon die ersten Museen Anspruch erheben bzw. renommierte Archäologen senden.
Was ist wichtig?
Neben der wunderschönen Inszenierung, auf die wir gleich zu sprechen kommen, ist an DIE AUSGRABUNG das Besondere die unaufgeregte Erzählung. Mit eleganter Gleichgültigkeit verweigert sich der Film jeder Art von dramaturgischer Übertreibung. Kein Thema tritt zu sehr in den Vordergrund, weder die Besonderheit der Ausgrabung, die politische Klüngelei der Museen, die Krankheit von Mrs. Pretty oder die junge verlorene Ehe von Peggy Piggot (Lily James). Alles webt sich nahtlos ineinander, wird nie besonders gewichtet oder fühlt sich aufgesetzt an. Das Freilegen geschichtlicher Artefakte findet somit auch erzählerisch statt. Immer wieder wird eine Schicht abgetragen und ein neuer Hinweis auf die Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg tritt zu Tage: Die adlige Gesellschaft Englands, die Aufregung und Trauer über junge Männer, die in den Krieg ziehen, die langsam an die Öffentlichkeit tretende Homosexualität und die ersten akademischen Karrieren für Frauen.
Sehen und Hören
Historischen Filmen haftet meist eine biedere Inszenierung an. Dialoge werden mit wechselnden Nahaufnahmen bebildert und die Totalen sind streng für Requisiten und opulente Kleider reserviert, nicht zu vergessen die Landschaftsaufnahmen im tiefstehenden Sonnenlicht. Ganz zart bricht Regisseur Simon Stone und sein Kameramann Mike Eley diese versteinerten Regeln auf. Dialoge entstehen aus dem Hintergrund und passen noch nicht zur aktuellen Szene. Durch diese Wort-Bild-Schere passiert in der Filmerfahrung etwas ganz Unerwartetes: Der Zuschauer hört noch bewusster auf das gesprochene Wort und schaut noch genauer hin. Wir werden auf diese Art ganz bewusst gefordert, auf jedes Detail zu achten und diese Aufmerksamkeit wird von der hervorragenden Besetzung, allen voran der wandlungsfähige Ralph Fiennes, dankend angenommen. Es erinnert insgesamt ein wenig an die Kameraführung von Terrence Malick (TREE OF LIFE, TAGE DES HIMMELS), nur weniger verkopft und nicht ganz so gekünstelt.
Die altbekannten Muster für geschichtliche Stoffe haben ihren Ursprung im Theater. Man wollte nicht mit raffinierten Kameraeinstellungen von den darstellenden Künstlern ablenken. Aber in DIE AUSGRABUNG gelingt es trotz mobiler Handkamera und der vielen Vogel- und Froschperspektiven jede Nuance des Mimenspiels einzufangen. In der Kameraarbeit spiegelt sich die archäologische Arbeit ebenfalls wider, wenn mit sanften Schärfeverlagerungen immer wieder gearbeitet wird. Manchmal bedarf es nur einen kurzen Dreh der Schärfe im richtigen Moment auf die Augen des Darstellers, um genau zu wissen, was dieser jetzt denkt. Zusätzlich sind die Kostüme, das Anwesen und die schöne Landschaft mit einer realen Farbpalette fein abgestimmt. Bei den Dreharbeiten wurde nicht gemogelt und es wurde in der Nähe der Original-Grabstätten gedreht: Suffolk bzw. Surrey in England.
Die Filmmusik
Das letzte Zahnrad zur ganz großen Liebe für DIE AUSGRABUNG findet dank des Komponisten Stefan Gregory statt. Bis zu diesem Film noch ein unbeschriebenes Blatt, gelingt es seinen klassischen Stücken sich immer wieder nach vorn zu spielen ohne zu sehr zu beeinflussen. Die Musik ist wie ein sensibler Weggefährte auf einer Reise: in den richtigen Moment verstärkend, dann wieder zurücknehmend. Nach den ersten knapp 30 Minuten wird das besonders schön in einer Szene deutlich.
Die noch kleine Crew aus Gräbern gratuliert sich dazu ein Schiffsgrab unter dem Hügel gefunden zu haben. Ehrliche, geteilte Freude breitet sich zwischen ihnen aus und die Streicher der Filmmusik singen im Hintergrund ihre Melodie. Danach geht Basil Brown allein einen Damm entlang, setzt sich an ein Ufer ins hohe Gras und raucht seine Pfeife. Die Filmmusik verschwindet, lässt Ruhe einkehren und wie aus dem Nichts erscheint ein Fischerboot. Es gleitet fast geräuschlos mit seinen Segeln an ihm vorbei. Man wünscht sich einen guten Abend. Basil denkt sicher darüber nach, wie die Angelsachsen vor über tausend Jahren dieses große Schiff dort hingebracht haben, um ihrem Anführer die letzte Ehre zu erweisen. Das muss Filmmusik auch können, im richtigen Moment aufhören, nur um damit noch stärker die Gedanken und Emotionen des Zuschauers zu führen.
Fazit
Endlos könnte man darüber schreiben, warum DIE AUSGRABUNG über Sutton Hoo, einem angelsächsischem Schiffsgrab, in seiner Gesamtheit einfach wunderschön ist. Vielleicht ist es auch das steigende Bedürfnis zur Natur, zur Ruhe und zu den einfachen Geschichten zurückzukehren. Ganz unterschwellig bekommt man noch jede Menge Energie an einem Projekt festzuhalten, egal wie ausweglos es scheint oder wie viele einem erzählen, dass die eigene Profession fehlt.
Titel, Cast und Crew | Die Ausgrabung (2021) OT: The Dig |
Poster | |
Regisseur | Simon Stone |
Release | ab sofort im Stream bei Netflix verfügbar |
Trailer | |
Besetzung | Ralph Fiennes (Basil Brown) Carey Mulligan (Edith Pretty) Danny Webb (John Grateley) Robert Wilfort (Billy Lyons) Lily James (Peggy Piggott) James Dryden (George Spooner) Joe Hurst (John Jacobs) Paul Ready (James Reid Moir) Peter McDonald (Guy Maynard) |
Drehbuch | Moira Buffini |
Buchvorlage | nach dem Buch THE DIG von John Preston |
Kamera | Mike Eley |
Filmmusik | Stefan Gregory |
Schnitt | Jon Harris |
Filmlänge | 112 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter
Sehr schöne Rezension, welche die grossen Qualitäten dieses wunderbarenen Films entsprechend zu würdigen weiss! Kann ich voll und ganz unterschreiben!