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Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse (1960) – Filmkritik

Der Mabuse-Mythos und die Schatten der Vergangenheit

In den späten 1950er Jahren begannen einzelne deutsche Filmproduktionen sich sowohl kritisch mit der Nazi-Vergangenheit als auch der bundesrepublikanischen Gegenwart auseinanderzusetzen. DAS MÄDCHEN ROSEMARIE (1958) von Rolf Thiele beleuchtet vor dem Hintergrund des nie geklärten Mordfalls Nitribitt die Schattenseiten des Wirtschaftswunders. Wolfgang Staudte, der einst seine Filmkarriere im Dritten Reich begonnen hatte, zeigt in ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT (1959) am Beispiel der Justiz die Kontinuität der NS-Ideologie im Nachkriegs-Deutschland und plädiert für eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Fritz Lang mit DIE 1.000 AUGEN DES DR. MABUSE (1960). Als Schauplatz hierfür wählte er – zwei Jahrzehnte vor SHINING – ein Luxushotel als Ausdruck einer „paranoiden, panoptischen Gesellschaft“.[1]

© Universum Film

Handlung

Berlin: Der Journalist Barter wird ermordet, nachdem er eine sensationelle Geschichte angekündigt hatte. Die Vorgehensweise erinnert einen der ermittelten Beamten an eine ähnliche Gewalttat in der späten Weimarer Republik und an den Psychoanalytiker Dr. Mabuse, der in dieser Zeit einen Sturz der öffentlichen Ordnung herbeiführen wollte und schließlich in einem Sanatorium starb, nachdem er ein „Testament“ mit der Anleitung zu weiteren Verbrechen hinterlassen hatte. Der Fall ging nicht in die Kriminalgeschichte ein, „denn da kam gerade Hitler und der braune Spuk“. Der Mord an Barter ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Reihe unheimlicher Verbrechen, die im Zusammenhang mit dem einst von der Gestapo errichteten Hotel Luxor zu stehen scheinen. Ein Interpol-Agent wird dort undercover eingesetzt. Der amerikanische Atom-Industrielle Henry B. Travers (Peter Van Eyck) verliebt sich in die suizidgefährdete Marion Menil (Dawn Adams), die von ihrem gewalttätigen Mann (Reinhard Kolldehoff) bedroht wird – wie vieles in diesem Film nur Fassade und Schein. Auf das Büro des ermittelnden Kommissar Kras (Gert Fröbe) wird ein Sprengstoffanschlag verübt – sein Mitarbeiter stirbt und hinterlässt eine hochschwangere Frau. Hinter den Taten steht eine Organisation, die von einem ständig die Identität wechselnden Unbekannten angeführt wird, der inspiriert durch Mabuses Testament die Weltherrschaft an sich reißen will.

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Stellenwert

Das Hotel Luxor ist ein Ort der ständigen Überwachung, kein Winkel scheint unbeobachtet zu sein, nichts scheint den Kameras – den titelgebenden 1.000 Augen – verborgen zu bleiben. In SHINING (1980) von Stanley Kubrick finden sich einige Parallelen: selbst Gedanken können im Overlook-Hotel entweder dem titelgebenden Shining oder den dortigen Geistern nicht verheimlicht werden. In beiden Filmen ist das Hotel zugleich ein Ort nicht-verarbeiteter Vergangenheit: das ausgeklügelte Überwachungssystem im Luxor wurde von den Nationalsozialisten entworfen und die immer wiederkehrende Blutfahrstuhl-Sequenz im Overlook ist als bildliche Darstellung von Menschheitsverbrechen interpretiert worden. In beiden Filmen trifft die rationale Moderne auf mystische Vorstellungen. Auch wenn vor allem Kommissar Kras sich ebenso wie sein Gegner modernster Kommunikationsmittel bedient, wird der Täter schließlich durch einen Schäferhund ausfindig gemacht.

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Der Journalist Norbert Jacques schuf die Figur des Dr. Mabuse im Jahr 1921 – seine Vorbilder waren Dracula, Sherlock Holmes` genialer und manipulativer Gegner Prof. Moriaty, der „Superverbrecher“ Fantomas, der bereits 1913 auf der Kinoleinwand zu sehen war und selbstverständlich Dr. Caligari. Vor dem Hintergrund des anomischen Zustandes der Weimarer Republik, errichtet Mabuse seine gespenstische Herrschaft des Verbrechens: „Deshalb hatte er unterhalb der Organisation des Staates einen Staat für sich gegründet mit Gesetzen, die er allein ausgab, mit Macht über Leben und Tod von Menschen.“  Mabuse träumt von einer idealen Gesellschaft in Brasilien und bedient sich eines breiten Netzwerkes von Helfershelfern, die ihn bei seinen Verbrechen unterstützen. Für die Justiz scheint er unangreifbar zu sein: „Dr. Mabuse, der Spieler! zog wie eine Ballade, aus der alle Dämonie des tiefsten Widerstandes der Menschen gegen Gesetz und Ordnung in die Phantasien verschwelte, von Ort zu Ort.“[2] Bereits 1922 entstanden mit DR. MABUSE, DER SPIELER 1. TEIL: DER GROSSE SPIELER – EIN BILD DER ZEIT und 2. TEIL: INFERNO – EIN SPIEL UM MENSCHEN UNSERER ZEIT, die für den Regisseur Fritz Lang den Beginn seiner internationalen Filmkarriere bedeuteten. Aus heutiger Sicht wirken die Mabuse-Filme – bereits die Titel deuten auf die Instabilität der Weimarer Republik hin – wie frühe Vertreter des Gangsterfilm-Genres; der Anti-Held ist eine nahezu dämonische Figur, die ein eigenartiges Charisma umgibt.

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Vor allem DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (1933) zeigt auch wie Menschen bereit sind, sich manipulieren zu lassen und sich Autoritäten zu fügen – der Film, der kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten entstanden ist, wurde Ende März 1933 von Goebbels verboten. Lang sagte in späteren Interviews, er habe Äußerungen von Nationalsozialisten bewusst für die Dialoge von Verbrechern verwendet.[3] Hier nimmt Lang DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI (1941) von Bertolt Brecht vorweg. Im amerikanischen Exil traf Lang sowohl Brecht – der 1943 am Drehbuch von AUCH HENKER STERBEN (Hangmen Also Die!) mitwirken sollte – als auch Vertreter der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Horkheimer bezeichnete die „Grundform der Herrschaft“ als – hier verwendete er eine kriminologische Bezeichnung für organisierte Kriminalität insbesondere Schutzgelderpressung – „Racket“ (auch der Titel eines Gangsterfilms von Lewis Milestone aus dem Jahr 1928). Straffe Hierarchien und eine strenge Unterscheidung zwischen Innen und Außen zeichnen eine solche Gruppe aus.[4] „Das Racket kennt kein Erbarmen mit dem Leben außer ihm, einzig das Gesetz der Selbsterhaltung.“[5]

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Die hierarchisch strukturierte Bande um „Dr. Mabuse“ ist arbeitsteilig und bürokratisch organisiert, die einzelnen Mitglieder haben keine Namen mehr, sondern Nummern. Wer für die Organisation „nutzlos“ geworden ist, wird gnadenlos exekutiert – ein zynischer Kommentar zu Kündigungen. Lang thematisiert auch das Fortleben der nationalsozialistischen Ideologie im betriebswirtschaftlichen Denken, im Management. Ab 1956 leitete der frühere SS-Oberführer Reinhard Höhn die Akademie für Führungskräfte Bad Harzburg. Sein Grundgedanke, ein Unternehmen als „Gemeinschaft“ zu begreifen, in der Führungskräfte „Verantwortung“ delegieren, weist unheimliche Parallelen zur Idee der „Volksgemeinschaft“ auf. Und bis in die Gegenwart sind Begriffe wie „‚wirtschaftlich‘, ‚leistungsbereit‘‚ ‚leistungsfähig sein‘, ‚sich durchsetzen‘“ nicht nur in der Arbeitswelt fest verankert.[6] Das versöhnliche Ende von DIE 1.000 AUGEN DES DR. MABUSE deutet aber auch darauf hin, dass dieses Denken überwunden werden kann. Horkheimer schreibt: „In der wahren Idee der Demokratie, die in den Massen ein verdrängtes, unterirdisches Dasein führt, ist die Ahnung einer vom Racket freien Gesellschaft nie erloschen.“[7]

DIE 1.000 AUGEN DES DR. MABUSE sollte Langs letzter Film werden. Es folgten analog zur Edgar-Wallace-Reihe und – die Titel klingen es an – manchen Bezügen zu den Schurken der Bond-Filme allein in den frühen 1960er Jahren fünf Fortsetzungen: IM STAHLNETZ DES DR. MABUSE (1961), DIE UNSICHTBAREN KRALLEN DES DR. MABUSE (1961), DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (1962), SCOTLAND YARD JAGT DR. MABUSE (1963) und DIE TODESSTRAHLEN DES DR. MABUSE (1964). 1990 entstand mit DR. M von Claude Chabrol eine ebenfalls in Berlin angesiedelte Neuinterpretation des Themas. Unerreicht sind allerdings bis heute die Klassiker von Fritz Lang: als spannende Kriminalfilme, als Zeitdokumente und Gegenstand gesellschaftskritischer Reflexionen.

© Stefan Preis

Quellen

  • [1] Hantke, Steffen (2009): Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse. In: Schneider, Steven Jay (Hrsg.): 101 Gangsterfilme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist. Zürich.
  • [2] Alle Zitate: Jacques, Norbert (1979): Dr. Mabuse der Spieler. München.
  • [3] Charlot, Alain (1991): Die 100 besten Kriminalfilme. S. 180.
  • [4] Die Gang aus UHRWERK ORANGE (A Clockwork Orange) ist etwa nach diesem Prinzip strukturiert und interessanterweise hat Stanley Kubrick die ausführlichen Beschreibungen von Mafia-Verbrechen bei Stephen King nur sehr subtil in seine SHINING-Adaption einfließen lassen.
  • [5] Alle Zitate: Horkheimer, Max (1985): Gesammelte Schriften Band 12: Nachgelassene Schriften 1931 – 1949. Frankfurt am Main. S. 287 ff.
  • [6] Chapoutot, Johann (2021): „Gehorsam macht frei“. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute.  Berlin.
  • [7] Horkheimer, Max (1985): Gesammelte Schriften Band 12: Nachgelassene Schriften 1931 – 1949. Frankfurt am Main. S. 291.

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