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Der schwarze Diamant

Der schwarze Diamant (Uncut Gems, 2019) – Filmkritik

„Der Juwelier von New York“

Die Produktionen der letzten Jahre legten offenkundig dar: Genre geht nur noch als Zitat. HIGH LIFE und AD ASTRA verhandelten das Erlahmen des Sci-Fi-Kinos, JOKER warb publikumsanziehend damit, in der Tradition der großen Zeit des New Hollywoods zu stehen, heraus kam ein ermüdender Flickenteppich aus TAXI DRIVER, NETWORK, KING OF COMEDY und DEATH WISH.  Udo Lindenberg scheint Hollywoods neues Credo vorformuliert zu haben:

„Komm hol das Ding doch nochmal raus und spiel so schön wie früher.“

DER SCHWARZE DIAMANT, der neue Film der Safdie Brüder, reiht sich ein in dieses Pastiche-Panoptikum. Gleich die ersten gesprochenen Worte:“ I’m walking, I’m walking“, stellen unvermeidbar den Querverweis zum MIDNIGHT COWBOY her. Obwohl der Film in Deutschland direkt bei Netflix erscheint, ist es das erste, große Highlight des noch jungen Kinojahres und, so viel Mal prophetisch formuliert, ein Film, der bleiben wird.

Der schwarze Diamant
© Netflix / A24

Howard Ratners  (Adam Sandler) Puls steht konstant auf 180: Er betreibt einen nur dezent im illegalen Milieu beheimateten Juwelierladen, gerne frequentiert von Prominenten wie The Weeknd oder Kevin Garnett, die Scheidung mit seiner Ehefrau Dinah (Idina Menzel) wird von Feiertag zu Feiertag aufgeschoben und die neue Freundin (Julia Fox) verprasst das ständig knappe Geld bei ausschweifenden, nächtlichen Sausen. Apropos Geld: Das könnte Howard gut gebrauchen. Das spielsüchtige Stehaufmännchen ist bei sämtlichen Kredithaien der Stadt – inklusive seinem Schwager Arno (Eric Bogosian) – hoch verschuldet. Immer häufiger hagelt es neben warnenden Worten auch Schläge. Sanieren soll Howard zum einen, eine wahnsinnig detailverliebte Basketballwette, sowie die Auktion eines Diamanten, des titelgebenden Ungut Gems, dem schwarzen Diamanten.

© Netflix / A24

Die Safdie Brüder verschreiben ihre Filme gerne dem allseits bekannten Murphy’s Law: Was schief gehen kann, geht auch schief. Es sind 135 schweißtreibende Minuten, die der Zuschauer dicht an Howard verbringt. Anxiety Cinema nennt man es wohl umgangssprachlich. Bereits in den ersten Minuten schafft es DER SCHWARZE DIAMANT, den Zuschauer in einen nervenzerreißenden Schwitzkasten zu nehmen und ihn daraus auch nicht mehr zu erlösen. Es ist das perfekte Zusammenspiel aus Schauspielerführung, Darius Khondjis klaustrophobischer Kamera und dem ohrenbetäubenden Score von Daniel Lopatin (besser bekannt als Oneohtrix Point Never), der in seine raumfüllende Elektrowaberkulisse nun vereinzelte, jazzige Saxophonfragmente streut. MIDNIGHT COWBOY, AUSSER ATEM und FAHRSTUHL ZUM SCHAFFOT drängen sich als Inspirationen auf. Überforderung der Sinne, so schien das Konzept der Safdies gelautet zu haben.

© Netflix / A24

Einen klaren Kopf kann in der Welt on UNCUT GEMS sowieso niemand bewahren. Eine Konversation in normaler Lautstärke und ohne Flüche sucht man vergeblich. Alle reden, nein, schreien ständig durcheinander, betrügen sich gegenseitig und Freundschaften haben nur so lange Bestand, bis die jeweils andere Partei sein Gegenüber so richtig in die Pfanne haut. Egal ob Familie, Geschäft oder Partnerschaft: Es ist alles ein ständiger Kampf, aus dem jeder nur als Verlierer hervorgehen kann.

Der schwarze Diamant
© Netflix / A24

DER SCHWARZE DIAMANT ist also vortrefflich auf inszenatorischer und technischer Ebene. Der Faktor, der den Großstadt-Thriller aber in die Sphären des Meisterwerks transzendiert, ist Hauptdarsteller Adam Sandler. Sicherlich liegt viel Karriereverarbeitung in seinem Spiel. Für 135 Minuten IST er Howard Ratner, der ewig zu kurz gekommene, der von allen belächelte, der Mann, der viel redet und am Ende doch winselnd klein beigibt. Howard hat sich damit arrangiert, also spielt er diese, von seinem Umfeld zugeschriebene Rolle, mit Bravour. Immer ist er einen Tick zu aufgedreht, zu laut und zu prollig. Die abgetanzte Lederjacke steht im Kontrast zu der protzigen Uhr, die er sich doch nicht leisten kann, in den Pawn Shops kennt man ihn beim Namen und „Das ist jetzt wirklich die letzte Rate, Howard“. Basketballstar Kevin Garnett umwinselt er wie eine Ratte ein Stück Zitronenkuchen und vor der Noch-Ehefrau wird er zum kleinlauten Duckmäuser. Sicher ist er nur, hinter dem Panzerglas seines Juwelierladens. Die Straßen New Yorks werden zum Schlachtfeld mit den Gläubigern, selbst bei einer Schultheateraufführung seiner Tochter ist der ewige Verlierer nicht sicher vor den Geldeintreibern.

Der schwarze Diamant
© Netflix / A24

Sandler ist ja eigentlich ein guter Mime (PUNCH DRUNK LOVE, REIGN OVER ME und THE MEYEROWITZ STORYS drängen sich auf), aber so elektrisierend wie hier, war der Comedian noch nie. Ohne Eitelkeiten stürzt er sich in die Rolle und erschafft so Gottes erbärmlichsten Menschen. Ohnehin scheinen die Safdies ein Händchen dafür zu haben, das Allermeiste aus ihren Hauptdarstellern heraus zu holen. Mit der OF-MICE-AND-MEN-Adaption GOOD TIME verhalfen sie Robert Pattinson zum endgültigen Ausbruch aus dem Twilight-Image und es wäre wünschenswert, dass nun auch Sandler einen zweiten Frühling als Charakterdarsteller erleben könnte. Wäre, wäre, Fahrradkette.

Wer sich nach Qualitätskino auf allerhöchstem Niveau sehnt, sollte also den Netflix-Knopf auf der Fernbedienung drücken und sich mit Howard in die Großstadthölle begeben. Aber Achtung: DER SCHWARZE DIAMANT ist wahrlich nichts für schwache Nerven, nicht aufgrund übermäßiger Gewaltdarstellung, sondern aufgrund des puren Stresses und der nackten Angst, die sich nahtlos auf den Zuschauer überträgt. Immer, wenn man meint, die Abwärtsspirale könne sich nicht noch weiterdrehen, kommen die Safdie Brüder und ziehen uns ein ums andere Mal den Boden unter den Füßen weg.

Schmankerl zum Schluss: Die Verwendung eines eigentlich zu Tode gespielten Eurotrashstampfers, der der Verlierer-Ballade im Abspann eine bitterlich süße Abgangsnote verleiht.

© Fynn

Titel, Cast und CrewDer schwarze Diamant (2019)
OT: Uncut Gems
Poster
Releaseab dem 31.01.2020 auf NETFLIX
RegisseurBenny Safdie
Josh Safdie
Trailer
BesetzungAdam Sandler (Howard Ratner)
Keith Williams Richards (Phil)
Julia Fox (Julia)
Mike Francesa (Gary)
Kevin Garnett (Kevin Garnett)
Tommy Kominik (Nico)
LaKeith Stanfield (Demany)
Jonathan Aranbayev (Eddie Ratner)
DrehbuchDarius Khondji
KameraTaro Kawazu
FilmmusikDaniel Lopatin
SchnittRonald Bronstein
Benny Safdie
Filmlänge135 Minuten
FSK

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