In Rekordzeit vom Helden zum Staatsfeind Nr. 1: Am Abend des 27. Juli 1996 explodiert im Centennial Park eine Bombe. Hunderte Menschen feiern zu diesem Zeitpunkt eine Olympia-Party. Der Wachmann Richard Jewell verhindert Schlimmeres. Die Presse hat ihren all american hero gefunden, einen unscheinbaren Mann, der dem feigen Terror trotzt. Plötzlich sickert durch: Das FBI ermittelt gegen Jewell. Der beherzte Retter mutiert in der öffentlichen Wahrnehmung zum meistgehassten Mann der USA. DER FALL RICHARD JEWELL erzählt die Geschichte einer Hetzjagd, die von zwei Werte-Institutionen angeführt wird, die eigentlich für Wahrheit und Rechtschaffenheit einstehen sollen.
Clint Eastwood besitzt ein unbestreitbares Faible für amerikanische Helden, wobei das generische Maskulinum beim 90-jährigen Altmeister Programm ist. In AMERICAN SNIPER (2014) setzte er dem Scharfschützen Chris Kyle ein filmisches Denkmal. SULLY (2016) war eine Ehrerbietung an den Flugkapitän Chesley Sullenberger, der 2009 einen Airbus im New Yorker Hudson River notlandete. In 15:17 TO PARIS (2018) würdigte er das Eingreifen dreier Amerikaner, die 2015 während ihrer Reise durch Europa einen Attentäter in einem Thalys-Zug überwältigten. Eastwood ging hier soweit, dass er die echten Helden vor die Kamera holte.
Dieser „Stunt“ ließ sich bei DER FALL RICHARD JEWELL nicht wiederholen: Die wahren Ereignisse, um die es in dem Film geht, liegen zeitlich fast 25 Jahre zurück, außerdem verstarb der echte Richard Jewell 2007 im Alter von nur 44 Jahren an den Folgen seiner gesundheitlichen Probleme. Bis an sein Lebensende hatte er gegen die Verleumdungen jener Medien gekämpft, die ihn im Nachgang des Olympia-Attentats als „fetten, gescheiterten ehemaligen Hilfssheriff“ und „Bubba the Bomber“ brandmarkten. Die letzten gerichtlichen Einigungen erlebte er nicht mehr.
Dabei macht Richard Jewell (im Film gespielt von Paul Walter Hauser) an besagtem Abend alles richtig, als er am Rande eines Konzertes einen herrenlosen Rucksack findet. Weil sie wissen, dass es Jewell übergenau mit den Vorschriften hält, spielt das übrige Sicherheitspersonal seinen Fund zunächst herunter. Seiner Hartnäckigkeit ist es jedoch zu verdanken, dass die Bombenexperten anrücken und der unmittelbare Bereich geräumt wird. Die Detonation können die Sprengmeister zwar nicht verhindern. Über 100 Menschen werden verletzt, zwei von ihnen so schwer, dass sie ihren Verletzungen erliegen. Doch allen ist klar: Ohne Richard Jewells Alarm wären die Opferzahlen ganz anders ausgefallen.
Über Nacht machen ihn die Medien zum Helden. Er habe nur seine Pflicht erfüllt, gibt sich der Wachmann vor der Kamera demütig. Amerika liebt solche Außenseiter-Storys. Epen von einfachen Menschen, die im Angesicht der Gefahr über sich hinauswachsen. Mama Bobi Jewell (Kathy Bates) ist furchtbar stolz auf ihren Jungen. Endlich erfährt ihr dienstbeflissener Sohnemann die Anerkennung, die dieser in ihren Augen schon immer verdient hat. Eigentlich hatte Richard Polizist werden wollen, allerdings war er als angehender Deputy ausgesiebt worden. Eine persönliche Niederlage, die Jewell nie überwunden hat, weswegen er im Lebenslauf immer wieder durch eine penible, bisweilen übergriffige Auslegung von Recht und Ordnung auffiel. Einem ehemaligen Arbeitergeber ist jedenfalls bei dem Gedanken unwohl, dass Jewell als strahlender Ritter von Atlanta gefeiert wird. Er informiert die Behörden.
Der FBI-Mann Tom Shaw (Jon Hamm) nimmt diesen Hinweis dankend auf. Shaw steht unter immensem Druck. Das Attentat geschah unter seiner Aufsicht, die Öffentlichkeit fordert eine schnelle Aufklärung – der Anschlag im Centennial Park wird als Anschlag auf die Nation gewertet. Richard Jewell passt in das Täterprofil des weißen Mannes, der sich aus dem Frust der Ablehnung heraus radikalisiert. Konkrete Beweise für dessen Täterschaft gibt es nicht, doch sie klingt zumindest – mangels Alternativen – plausibel.
In einer Bar lässt sich Shaw von der Journalistin Kathy Scruggs (Olivia Wilde) folgenschwer verführen. Am nächsten Morgen weiß das ganze Land, dass das FBI gegen Richard Jewell ermittelt. Wiederum über Nacht wird aus dem Retter ein vorverurteilter Bombenleger. Watson Bryant (Sam Rockwell), ein früherer Arbeitskollege und inzwischen freiberuflicher wie erfolgloser Immobilienanwalt, übernimmt die Verteidigung in einem schier aussichtslosen Zwei-Fronten-Kampf. Einerseits gilt es, die Medien von ihrer diffamierenden Berichterstattung abzubringen, andererseits die perfiden Ermittlungstaktiken des FBI abzuwehren. Denn Shaw und Kollegen versuchen, den Wachmann mit dem naiven Pflichtgefühl in unwiderlegbare Indizien zu verstricken.
DER FALL RICHARD JEWELL gilt in den USA als negatives Lehrstück einer identifizierenden Berichterstattung, die aus dem Ruder lief. Medien nennen gerne Ross und Reiter, gerade im Zusammenhang von Straftaten. Eine Geschichte bekommt so ihr Gesicht, Täter und Opfer werden zu Projektionsflächen. Ein solches Vorgehen darf man verwerflich finden, wenn etwa Familientragödien vom Boulevard ausgeschlachtet und Betroffene unverpixelt abgebildet werden – ist aber unter gewissen Voraussetzungen, insbesondere wenn ein begründetes, öffentliches Interesse vorhanden ist, zulässig. Freilich ist das öffentliche Interesse ein dehnbarer Begriff. Nun war DER FALL RICHARD JEWELL eine nationale Angelegenheit. Ein Freibrief für eine mediale Vorverurteilung lässt sich daraus freilich nicht ableiten.
Derartige Beißreflexe sind uns hierzulande nicht unbekannt – man denke etwa an den Fall des Wetterexperten Kachelmann. Doch die amerikanischen Medien haben eine besondere Schwäche für diese Form der Berichterstattung, die nicht allein in der Sensationsgier und Quotenfixierung, sondern auch im US-Rechtssystem begründet liegt. Zwar gilt auch in den USA die Unschuldsvermutung, sie ist aber auf die Beweispflicht „Im Zweifel für den Angeklagten“ begrenzt. Die verantwortungsvolle Berichterstattung im Vorfeld eines Prozesses, wie sie für Tatverdächtige in Deutschland normalerweise erwartet wird, deckt sie in den Staaten nicht ab. Im Gegenteil: In Übersee hat der so genannte Perp Walk Tradition – wenn Verdächtige in Handschellen zum Haftrichter vorgeführt werden, ist die Presse für Foto- und Filmaufnahmen ausdrücklich zugelassen. Allerdings: In DER FALL RICHARD JEWELL sind die Medien „zu früh“ dran. Richard Jewell wird vernommen, nicht verhaftet. Wie man es dreht und wendet: Wir haben es mit einem Versagen der vierten Gewalt zu tun.
Dieses Versagen in eine unterhaltsamen Hollywood-Story zu transformieren war die Aufgabe von Billy Ray. Der Autor, der 2003 mit dem Journalisten-Thriller SHATTERED GLASS (2003) (Journalistenfilme.de) sein Regiedebüt gab, bediente sich eines Kniffs, der im Zuge des US-Kinostarts kontrovers diskutiert wurde. Im Film erschleicht sich die von Olivia Wilde gespielte Journalistin Kathy Scruggs den entscheidenden Hinweis, indem sie den FBI-Agenten Shaw mit sexuellen Gefälligkeiten ködert. Eine Darstellung, für die es im Quellmaterial – DER FALL RICHARD JEWELL basiert im Wesentlichen auf dem Vanity Fair-Artikel Amercian Nightmare: The Ballad of Richard Jewell [1] der Journalistin Marie Brenner und dem Sachbuch The Suspect: An Olympic Bombing, the FBI, the Media, and Richard Jewell, the Man Caught in the Middle von Kent Alexander und Kevin Salwen – keine Belege gibt.
Regisseur Clint Eastwood sah sich deswegen dem Vorwurf der Frauenfeindlichkeit ausgesetzt. Scruggs Zeitung, die Atlanta Journal-Constitution, wehrte sich und strebte eine Klage an [2] – was Filmemacher und Studio wiederum als Ablenkungsmanöver von den eigenen Fehlern werteten. Fakt ist: Die Atlanta Journal-Constitution berichtete als erstes Medium, und tat sich in der Folgeberichterstattung als ehrverletzend hervor. Beispielsweise wurde Richard Jewell mit einem Massenmörder verglichen. Fakt ist aber auch: Kathy Scruggs selbst war nicht mehr in der Lage, die Dinge geradezurücken, denn sie verstarb ebenfalls in ihren Vierzigern.
Der Umgang mit ihrer Figur ist doppelt ärgerlich. So erschließt sich nicht, warum auf Seiten der Presse die „echte“ Kathy Scruggs „herhalten“ muss, während die tiefgreifenden Fehler des FBI hinter einer fiktiven Figur versteckt werden, schließlich handelt es sich bei Tom Shaw, der Rolle von Jon Hamm, um einen composite character. Darüber hinaus ist die filmische Kathy Scruggs das üble Abziehbild einer skrupellosen Journalistin, die ihre Recherchen mit Vorliebe in der Horizontalen anfertigt – ein Klischee, das dringend aus dem Baukasten für schlecht geschriebene Journalistinnen verbannt gehört. Damit nicht genug: Olivia Wilde alias Kathy Scruggs stolziert durch die Redaktionsräume, lässt sich für ihren erschlafenen Scoop feiern und kanzelt weniger forsche und zugeknöpftere Kolleginnen ab. Die Folgen ihrer Berichterstattung sind ihr egal, in einer Szene betet sie förmlich darum, jemanden wie Richard Jewell publizistisch zu zerfleischen.
Ein Hollywoodfilm muss verdichten, zumal es Clint Eastwood keineswegs um eine faire Aufarbeitung der Ereignisse geht. Dafür fährt der Abspann ohnehin zu früh ab. Er vergeltet das Unrecht, welches Richard Jewell widerfuhr, indem er sich vorbehaltlos auf die Seite des kleinen Mannes schlägt. Sowohl Presse als auch Geheimdienst werden dämonisiert, um auch das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Es funktioniert: Eastwood versteht es, eine schmissig-trotzige „Wir gegen die“-Geschichte zu erzählen. Um dem Film etwas abgewinnen zu können, sollte man jedoch bereit sein, über die stellenweise dick aufgetragene Schwarz-Weiß-Malerei hinwegzusehen.
Darunter ist DER FALL RICHARD JEWELL ein spannender Thriller, der wie ein Strudel wirkt – wir Zuschauer werden in den Sog der Verdächtigungen und Anschuldigungen hineingerissen, bis wir mit den Jewells am Boden liegen. Umso befreiender ist der Moment, wenn der zu Unrecht vom Sockel gestoßene Held endlich mithilfe seines barschen Anwalts Bryant zum Gegenschlag ausholt. Getragen wird der Film von den intensiven Schauspielleistungen auf der Opferseite.
Paul Walter Hauser (I, TONYA) als Richard Jewell liefert eine vielschichtige Performance ab. Mal ist er der sympathische Kumpel, mal der übereifrige Möchtegern-Cop, dem die Uniform zu Kopf steigt. Dann wieder der patriotische Naivling, der um Anerkennung ringend mit den Behörden kooperiert, weil er sich als einer der ihren wähnt. Dazwischen schimmert der Wirrkopf durch, der mit seinen Komplexen und seinem Faible für Waffen doch irgendwie ins Täterprofil zu passen scheint.
Sam Rockwell darf nach seinen viel beachteten Rollen in als rassistischer Cop in THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI und als George W. Bush in VICE – DER ZWEITE MANN wieder geistesgegenwärtiger agieren, der Mime ist für die impulsiven Momente und scharfen Bemerkungen zuständig. Kathy Bates brilliert in der Rolle der Mutter, die daran zerbricht, dass sie ihrem unbeholfenen Sohn nicht als Beschützerin zur Seite stehen kann. Drei Figuren, die nuanciert geschrieben sind – und den Beweis antreten, dass man ähnliches auch für die Antagonisten hätte erreichen können.
Fazit
Aus journalistischer Perspektive ist Der Fall Richard Jewell ein Ärgernis, wenngleich bei dieser Ausgangslage zu erwarten war, dass der Journalismus im Film keinen Blumentopf gewinnt. Damit kein falscher Eindruck hängenbleibt: Filme, die das Versagen der vierten Gewalt thematisieren, sind im Kielwasser gefeierter Journalistenfilme wie SPOTLIGHT (Journalistenfilme.de) und DIE VERLEGERIN (Journalistenfilme.de) nicht sonderlich en vogue, aber dennoch wichtig für die Reflexion. Allerdings fällt schon auf, dass Eastwood gerade jetzt, wo sich die Amtszeit eines gewissen republikanischen, im Dauerclinch mit den etablierten Medien befindlichen US-Präsidenten dem Ende nähert, einen derart medienkritischen Film auffährt. Das Problem: Im Umgang mit der Journalistin der Kathy Scruggs macht sich DER FALL RICHARD JEWELL unnötig angreifbar.
Denn ungeachtet dieser Vorbehalte ist DER FALL RICHARD JEWELL starkes Erzählkino: Inszenatorisch dicht, super gespielt und – mit den erwähnten Abstrichen – gut geschrieben. Gerade im Binnenverhältnis der eben gelobten Figuren wartet der Film mit Dialogen auf, die ihre Wirkung nicht verfehlen. In seinem lakonischen Zynismus erinnert er hier und da sogar an GRAN TORINO. Vielleicht hat Eastwood mit DER FALL RICHARD JEWELL zum Abschluss seinen stärksten Film der vergangenen Dekade abgeliefert. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach seinen Meisterwerken der Nuller-Jahre.
© Patrick Torma
Dies ist ein Gastbeitrag von Patrick Torma, der immer wieder die Rolle des Journalismus in Filmen quer durch die Jahrzehnte betrachtet. Er betreibt die Seite Journalistenfilme, welche sich ausschließlich diesem Thema widmet und werbefrei ist. Zu DER FALL RICHARD JEWELL gibt es von ihm auch einen kleinen Podcast-Beitrag.
Quellen:
- [1] https://archive.vanityfair.com/article/1997/2/american-nightmare-the-ballad-of-richard-jewell
- [2] https://pmcdeadline2.files.wordpress.com/2019/12/richard-jewell-ajc-letter_redacted-wm.pdf
Titel, Cast und Crew | Der Fall des Richard Jewell (2019) OT: Richard Jewell |
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Poster | |
Release | Kinostart: 25.06.2020 ab dem 30.12.2020 auf Blu-ray und DVD Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: |
Regisseur | Clint Eastwood |
Trailer | |
Besetzung | Paul Walter Hauser (Richard Jewell) Sam Rockwell (Watson Bryant) Kathy Bates (Bobi Jewell) Olivia Wilde (Kathy Scruggs) Charles Green Charles Green (Dr. W. Ray Cleere) Mike Pniewski (Brandon Walker) Jon Hamm (Tom Shaw) Ian Gomez (Dan Bennet) Nina Arianda (Nadya Light) |
Buchvorlage | basiert auf den Büchern: AMERICAN NIGHTMARE: THE BALLAD OF RICHARD JEWELL von Marie Brenner THE SUSPECT von Kent Alexander & Kevin Salwen |
Drehbuch | Billy Ray |
Kamera | Yves Bélanger |
Filmmusik | Arturo Sandoval |
Schnitt | Joel Cox |
Filmlänge | 131 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |