Zum Inhalt springen

Der Bücherdrache – Walter Moers | Buchkritik

„Wo alte Bücher Orm gebären …“

Einleitung

„(…) Dort soll sich jener Dämon winden, den man den Bücherdrachen nennt“. So beschrieb einst Ojahnn Golgo van Fontheweg (Johann Wolfgang von Goethe) den Ormsumpf in den Tiefen der Katakomben Buchhaims. Doch nicht nur er wurde zeitlebens vom Orm durchströmt. Auch Walter Moers, dessen WEIHNACHTEN AUF DER LINDWURMFESTE ich kürzlich hier rezensieren durfte, scheint wieder mit DER BÜCHERDRACHE vom Orm geküsst worden zu sein. Und so schippert er uns Leser in seiner Funktion als Übersetzer sicher über die kreativen Wogen der Geschichte des zamonischen Großschriftstellers Hildegunst von Mythenmetz. Der Weg ist das Ziel und schon befinden wir uns im Weltmeer der Bücher, des Lesens und des Silbendrechselns. Unterwegs klauben wir den drachenbrüchigen Buchling Hildegunst Zwei aus der künstlerischen Gischt auf. Doch der Reihe nach.

Inhalt

DER BÜCHERDRACHE wird mit einem kurzen, in klassisch schwarz-weißer Manier gestalteten Comic eingeleitet. In diesem berichtet Mythenmetz von einem verwirrenden Traum, der ihn ein zweites Mal auf den jungen Buchling Hildegunst Zwei treffen lässt. Buchlinge sind eine zamonische Daseinsform, wohnhaft in der Ledernen Grotte der Katakomben Buchhaims, welche es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Werk eines jeden Schriftstellers auswendig zu lernen. Dementsprechend repräsentiert jeder Buchling einen anderen Dichter oder Denker. Ihre erste Begegnung haben Mythenmetz und der ihm zugeordnete Buchling in DIE STADT DER TRÄUMENDEN BÜCHER. Der ihm nun im Traum erscheinende Hildegunst Zwei erzählt Mythenmetz von seinem eben erlebten Abenteuer.


Im Katakomben-Mythologie-Unterricht hört Hildegunst Zwei das erste Mal von der Legende um den Bücherdrachen Nathaviel, welcher im Ormsumpf hausen soll. Angeblich fließt in dessen Echsenadern reines Orm (Quelle der Inspiration/Kraft, die Kreativität hervorruft), aufgenommen aus den zahlreichen Büchern, welche der Magmoss (Gewässer Buchhaims) einst in die Katakomben spülte. Nathaviel hat damit nicht nur den Stellenwert des intelligentesten Vertreters seiner Art, sondern dient auch gleichzeitig als unfehlbares Orakel. Die Neugier des kleinen Buchlings ist sofort geweckt, doch die Gefahr scheint zu groß, dieser Legende nachzugehen. Wie zu erwarten, ändert sich diese Einstellung ganz schnell. Nach dem Unterricht, trifft Hildegunst Zwei auf eine Bande von älteren Buchlingen, auch „die Klassiker“ genannt. Estrakos (Sokrates), Arkaneon (Anakreon), Eliastrotes (Aristoteles), Eideprius (Euripides), Steraphasion (Aristophanes) und Klosophes (Sophokles) drehen allesamt eine Ehrenrunde in der Buchlingschule. Großspurig berichten die sechs, schon vor langer Zeit im Ormsumpf gewesen zu sein und den Bücherdrachen beobachtet zu haben. Denn nur wer einmal die Reise zum Sumpf angetreten hat, kann ein echter Ormling und Teil der Geheimorganisation der Ormlinge werden. Der deutlich jüngere Hildegunst Zwei ist sofort Feuer und Flamme und begibt sich, der Wegbeschreibung der Klassiker folgend, zur ormdurchströmten Echse.

Kritik

Es war mir ein Vergnügen endlich wieder eine Reise in die Katakomben anzutreten. Die Moers´schen detailgenauen Beschreibungen sorgen auch in DER BÜCHERDRACHE wieder dafür, dass der Leser schon nach wenigen Sätzen, dem Buchling folgend, mit nassen Socken durch den gefährlichen Ormsumpf schleicht. Unterstützt wird der bloße Text einerseits durch das vertraute Stilmittel der Fußnoten mit Verweisen zum Buch DIE STADT DER TRÄUMENDEN BÜCHER. Ein schlauer Schachzug des Autors, welcher sich dadurch ausschweifende Erklärungen hinsichtlich zamonischer Gegebenheiten spart. Wirklich sinnvoll ist dies leider nur für passionierte Zamonien-Leser, die sowieso jedes Buch griffbereit im Moers-Schrein stehen haben. Damit kickt sich das Buch für neue, unerfahrene Leser leider ins Aus, denn ohne Vorwissen scheitert man an so mancher Daseinsform kläglich.

Andererseits helfen die wunderbaren Illustrationen des Autors über diese Lücke hinweg. Endlich nimmt Moers nach „PRINZESSIN INSOMNIA UND DER ALBTRAUMFARBENE NACHTMAHR und WEIHNACHTEN IN DER LINDWURMFESTE wieder den Stift in die Hand. Kreativ und fast anheimelnd unterstreichen die mit dünner Spitze gezeichneten Illustrationen in Schwarz-Weiß die Geschichte, ohne den Lesefluss zu stören. Besonders der kurze Comic, welcher als Einleitung dient, hat es mir angetan. Der Leser wird nicht nur völlig wirr im Kopf (perfekte Voraussetzung für das Lesen eines Moers´schen Buches), sondern trifft auch auf einige alte Bekannte. Neben Buchlingen, lebenden Büchern und Grillos, hat auch der Schattenkönig einen kleinen Cameo-Auftritt. Ja, auch Erwachsene dürfen Bilderbücher lesen!


So schön der Ormsumpf und dessen Bewohner auch beschrieben wurden, so fehlte mir genau das bei der Wegstrecke, die Hildegunst Zwei von der Ledernen Grotte zum Sumpf zurücklegen muss. Ein paar Seiten mehr hätten da meiner Meinung nach noch dazu geheftet werden können. Kognitiv sehr anspruchsvoll sind hingegen die Gespräche des Buchlings mit den Klassikern und dem Drachen entworfen. Vollgepackt mit Hinweisen auf literarische Größen, angefangen mit den Namensanagrammen der Buchlinge (es hat mich einige Zeit gekostet alle herauszufinden). Besonders Nathaviel ist feinfühlig und voller Kontraste charakterisiert. Beispielsweise wird dem Drachen eine sehr dünne, hohe Stimme zugeordnet. Das fiel mir durchaus schwer, denn welcher Drache, ob in Literatur und Film, hat denn keine tiefe, dröhnende Stimme? Zudem hat die Echse selbst ihr Päckchen zu tragen. Es gestaltet sich als schwieriges Unterfangen, das Vorurteil zu entkräften, Drachen würden in ihrer Freizeit Jungfrauen fressen anstatt mal ein Buch in die Kralle zu nehmen. Ganz zu schweigen von dem ständigen Touristenstrom, dem es die Zukunft zu orakeln gilt. Aber kann man einem Bücherdrachen nun wirklich trauen und schafft es der kleine Buchling unversehrt wieder zurück nach Hause? Diese Erkenntnis und noch einige weitere über die Buchlinge, die der geneigte Leser (und die Spezies selbst) noch nicht wusste, erlangt uns nur, wenn wir das Buch in die Kralle, ähm, die Hand, nehmen und lesen.

Zum Buch

DER BÜCHERDRACHE ist im Penguin Verlag erschienen und mit 161 Seiten recht dünn. Doch die Geschichte ist erzählt. Die Kunst des Schreibens zeichnet sich meiner Meinung nach dadurch aus, den Leser auch mit wenigen Seiten zu begeistern und in die Geschichte eintauchen zu lassen. Das Hardcover ziert die Schuppenhaut des Drachen und den Buchling Hildegunst Zwei in kolorierter Ausführung. Somit gehört es definitiv zu den Schmuckstücken im häuslichen Moers-Schrein. Zusätzlich erhält der Leser eine Leseprobe zum neuen, hoffentlich bald erscheinenden Buch DIE INSEL DER 1000 LEUCHTTÜRME. Aber auch DER BÜCHERDRACHE lässt Hoffnung auf eine Fortsetzung aufkeimen. Denn beendet wird auch dieses Schriftwerk mit meinem persönlichen Lieblingszitat: „Und hier fängt die Geschichte an.“ Also Herr Moers, ich steige gern wieder ins Boot, um gemeinsam mit Ihnen und Hildegunst von Mythenmetz das zamonische Weltmeer der Bücher zu besegeln.

© Paula

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert