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Das Marvel-Zeitalter der Comics 1961-1978 von Roy Thomas | Buchvorstellung

„Der Generationsvermittler”

Die sich ständig verändernden Medien werden teils von neuer Technik verdrängt und erleben mitunter aber auch eine Rückbesinnung: eine Retrowelle. Die Marvel-Spielfilme haben in den letzten zehn Jahren das Kinoprogramm fest im Griff und sind zu einem Multimilliarden-Dollar-Geschäft mit enormer Reichweite geworden. Ein alter Mann mit Schnauzer und getönter Brille taucht immer wieder in den MCU-Filmen in seltsamen Extra-Szenen auf. Es lachen vielleicht ein paar Nerds auf, denn sie wissen, es ist Stan Lee, der Erfinder vieler Marvel-Comic-Geschichten. Aber fragen sich die vielen jungen Zuschauer auch, wo ihre Leinwand-Helden herkommen? Wenn sie vor lauter Effekte-Knallerei und zum Zerreißen gespannten Handlungsbögen völlig erschöpft aus dem Kinosaal kommen, denkt dann auch nur einer von ihnen: Ich will wissen, wo diese Superhelden ihren Ursprung haben! Nach dem Abspann wird wohl lieber in die Zukunft geblickt und sich gefragt: Wie geht es weiter? Welche Hinweise könnten was bedeuten? Wann kommt Phase 4? Was könnten die nächsten Marvel-Serien sein?

Das Marvel-Zeitalter der Comics
p. 272-273 Third Eye black light poster; art, Jack Kirby; 1971 © MARVEL

Das ist sehr schade, denn gerade wenn man einen Blick in die Vergangenheit wirft, gibt es einen unermesslichen Fundus von Marvel-Comic-Geschichten, die sicherlich derzeitige Drehbuchautoren mehr als inspirieren. Es werden nicht nur spannende Geschichten erzählt, sondern gesellschaftliche Themen abgebildet, die in jener Zeit relevant waren. Hier wird die Fantasie des Lesers mit nur wenigen schwarzen Linien in bunten Bildern gefordert und mit ikonischen Sätzen der Held zum Leben erweckt. Die Comics kann man ganz ohne Internetzugang genießen und nachts mit der Taschenlampe lesen, weil die Geschichte gerade so spannend ist und man einfach nicht schlafen möchte. Es sind die unglaublichen Geschichten der Marvel-Comics in den Jahren 1961 – 1978. Die Geburtsepoche von popkulturellen Ikonen, welche millionenfach ihr Abbild auf Tassen, T-Shirts, Bettwäsche und an Zimmerwänden finden.

Ein bisschen ironisch ist es, dass diese Epoche mit der Veröffentlichung einer Gruppe von Mutanten ihren Ursprung gefunden hat, die sich mit ihren heutigen Kinoverfilmungen doch schwer tun: DIE FANTASTISCHEN VIER.

1961 erhielt Stan Lee den Auftrag, eine Heftserie über eine Gruppe mit Superkräften zu schreiben. Denn bei dem Konkurrenten DC verkauften sich die Geschichten um die JUSTICE LEAGUE wie verrückt. Lee sah dies als Chance an, der kindlichen Zielgruppe zu entfliehen und seine kreative Schöpfung mit etwas lebensechteren Problemen auszustatten. Eine Gruppe von Astronauten, die nach der Aussetzung von kosmischer Strahlung besondere Fähigkeiten erlangt, klingt jetzt nicht nach Alltag, aber er legt die Zeichnung der Charaktere äußerst menschlich an. Die Ehe zwischen Captain Fantastic und Invisible Girl bringt trotz der Talente der extremen Körperdehnung und der Unsichtbarkeit die Herausforderung einer Beziehung ins Spiel. Johnny Storm, der eitle Schwager aus dieser Konstellation, beherrscht das Feuer mit seinem ganzen Körper. Er ist aber auch ein Hitzkopf bei den Frauen, was ihn vor menschliche Probleme stellt. Tragische Figur ist The Thing, der als steinernes Monster bei Mitmenschen eher auf Angst stößt. Hinter seiner rauen Fassade steckt jedoch ein treues und liebenswertes Herz. Sie sind eine ungewöhnliche Patchwork-Familie, diese FANTASTISCHEN VIER. Sie reden sich mit ihren normalen Namen an, haben keine versteckten Identitäten und besitzen keine markanten Kostüme. Auch erwachsene Leser finden zu ihnen Zugang. Sie brachten die Pressen der Marvel-Comic-Druckerei richtig ins Rollen und Figuren wie SPIDER-MAN, HULK, IRON MAN, DR. STRANGE und die AVENGERS sollten folgen.

Das Marvel-Zeitalter der Comics
The Avengers No. 4. pencils, Jack Kirby; inks, George Roussos; March 1963. // © MARVEL

Qualität außen, wie innen

TASCHEN hatte bereits den besonderen Reiz von alten Comics mit zwei umfangreichen Büchern, dem „silbernen“ und „goldenen Zeitalter“ von DC, veröffentlicht. Nun soll sich dieses Buch ausschließlich um Ausgaben und Figuren aus dem Marvel-Verlag drehen. Klein darf so ein Buch nicht sein. Die Qualität dieser fast 400 Seiten starken Wissensquelle ist tadellos und mit ausgewogenen Texten zu den Comics versehen. Alles innerhalb eines chronologischen Aufbaus und mit Fokus auf die beiden Erfinder Stan Lee und des Zeichners Jack Kirby. Auch bei den Abbildungen der Covers und Innenansichten der alten Hefte wurde auf eine Restauration verzichtet, denn nur so bekommt der Leser das Gefühl Geschichte in der Hand zu halten.

Gliederung von DAS MARVEL-ZEITALTER DER COMICS

  1. Und nichts war mehr wie zuvor! | Die erste Welle (Seite 8-107)
  2. Noch mehr Marvel-Meisterwerke | Das Marvel-Universum  1964-1970 (Seite 108-273)
  3. Das Marvel-Zeitalter – Phase zwei | Das Bronzene Zeitalter (1970-1978) (Seite 274-392)
  4. Biografien (Seite 392-395)

Das Marvel-Zeitalter der Comics BuchcoverSchon allein der innere Einband kombiniert eine Zeitlinie mit jeder Menge Wissen für Comicfans. Wer hier aufmerksam liest, kann beim nächsten Marvel-Filmabend mit Wissen vor Freunden glänzen. Großformatige Fotos, ein authentischer Farbdruck und ein knalliger Einband machen einen starken ersten Eindruck. Somit stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis von der Produktionsseite. Aber kann das Buch als Marvel-Kompendium gegenüber den gängigen Internetseiten bestehen und verführt es auch einmal zum Stöbern durch die Geschichte von Spider-Man und Co.?

In der Tat. Die Texte sind weit entfernt von verschwurbelten Sätzen voller Kunst-Interpretationen. Die Einführung über das erste Superheldenteam der Marvel-Geschichte die FANTASTIC FOUR gelingt informativ und unterhaltsam. Immer wieder können die stylischen Comic-Cover aus den 60er und 70er Jahren auf ganzseitigen Fotografien bestaunt werden. Es beschleicht einen das Gefühl, dass sich früher die Zeichner noch mehr Gedanken über eine spannende Titelseite gemacht haben als die heutigen Designer über Kinoposter. Comicaffine mussten im Zeitungsladen direkt mit dem Cover zum Kauf überzeugt werden. Da will man bereits eine spannende Geschichte mit der Titelseite erahnen, um dann „Unsummen“ von ein paar Cent über den Ladentisch zu schieben. Auch auf diesen künstlerischen, grafischen Aspekt der Marvel-Comics geht Roy Thomas in DAS MARVEL-ZEITALTER DER COMICS ein.

Von kreativen Genies bis zum Vietnamkrieg

Kreativ-Genie Stan Lee und Zeichner Jack Kirby sind die Initiatoren der Vielzahl von Superhelden, Schurken und unglaublichen Geschichten, die Moral, gesellschaftskritische Aspekte, aber auch jede Menge Unterhaltung beinhalten. DAS MARVEL-ZEITALTER DER COMICS 1961-1978 gibt auch Querverweise auf stilistische Zusammenhänge in anderen Medien dieser Zeit oder Ereignisse wie die der ersten Mondlandung oder dem Kalten Krieg. Dem Buch gelingt das Mischungsverhältnis zwischen Text und Bild sehr gut. Es gibt auch mehrere Seiten nur mit Bildern, Beschriftungen, Konzeptzeichnungen, von Stan Lee getippte Inhaltsangaben und kleine Auszüge/Panels aus den Comics. Vielleicht ist die Schriftart für dieses Großformat etwas klein gewählt, jedoch lässt es so viel Platz für die vielen Illustrationen. Das Layout ist ganz klar auf kunsthistorischem Hintergrund erdacht und bringt dem Stöbervergnügen keinen Abbruch. Man kann zum Beispiel einen Blick in das Baxter-Building (HQ der FANTASTIC FOUR) der 60er Jahre werfen oder mit dem S.H.I.E.L.D.-Agent Nick Fury dessen Erfahrungen im Vietnamkrieg teilen. Am Ende des Buchs sind noch kurze Biografien von Persönlichkeiten aus dem Marvel- Comic-Universum zusammengefasst.

Fazit

Bis jetzt musste man bei solchen historischen Aufarbeitungen auf englischsprachige Ausgaben zurückgreifen. Diese gewissenhaft publizierte Ausgabe von DAS MARVEL-ZEITALTER DER COMICS 1961-1978 ist ein Generationenvermittler nicht nur zwischen einem gebrechlichen Dr. Don Blake, der durch einen gefundenen Stock zu THOR wird und dem heutigen Chris-Hemsworth-Typ mit Sexappeal. Nein, auch zwischen den begeisterten Lesern vor über 50 Jahren und dem Fandom des MCUs der digitalen Welt. Der perfekte Grund, um nicht an die frische Luft zu gehen.

© Christoph Müller

  • Das Marvel-Zeitalter der Comics
    1961 – 1978
  • Autor: Roy Thomas
  • Hardcover: 23,8 x 32,4 cm
  • 396 Seiten
  • 40 €
  • ISBN 978-3-8365-6777-0
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