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Dalíland (2022) – Filmkritik

Der junge Galerieassistent kann sein Glück gar nicht fassen, als er im New York der Siebziger Jahre Eingang findet in das wilde Partyleben Salvador Dalis (Ben Kingsley). Der weltbekannte Maler von schmelzenden Uhren und brennenden Giraffen sowie selbsternannte „Große Masturbator“ verwandelt wie jedes Jahr seine Suite im St. Regis Hotel in die titelgebende Utopie einer Dauerparty voll schöner Menschen, Drogen und Extravaganzen. James (Christopher Briney) wandelt wie ein Simplizissimus durch diese Welt. Nach einem Gemälde erhält er den Spitznamen San Sebastian. Sein Aussehen lässt einen aber eher an Tadzio aus Viscontis Verfilmung von „Der Tod in Venedig“ denken, den jungen Blondschopf, in den sich der gealterte Künstler Aschenbach so verhängnisvoll verliebt, dass er sogar den Ausbruch der Cholera verdrängt. Dali ist hier zwar auch schon über 70, aber von solchen Dummheiten weit entfernt. James wird von niemandem ernst genommen, auch nicht von seiner Liebelei Ginesta (Suki Waterhouse), neben James die einzige fiktive Figur, er gehört nicht wirklich dazu. Trotzdem bricht er mit seinem Arbeitgeber und folgt Dali nach Spanien, wo ihm immer mehr unschöne Momente sowohl an Dalis Karriere als auch an seiner Ehe mit Gala (Barbara Sukowa) auffallen. Mit dem Versuch zu helfen, bedroht er aber nur die große Show um ihn herum.

© SquareOne Entertainment

Mary Harron hat nach I SHOT ANDY WARHOL (1996), THE NOTORIOUS BETTIE PAGE (2005) und CHARLIE SAYS (2018, über Charles Manson) also eine weitere Biographie gedreht. Das Drehbuch, insbesondere die Dialoge, schrieb diesmal ihr Ehemann John Walsh. Sie ist dabei schlau genug, sich auf einen Ausschnitt aus Dalis Leben zu konzentrieren und damit die Dramaturgie nicht dem Abhaken von Daten und Fakten eines ganzen Lebens zu opfern. Wenn Dali zu Beginn von DALÍLAND beim amerikanischen Original der Quizsendung „Wer bin ich?“ zu Gast ist und einfach auf jede Frage – „Sind Sie Schriftsteller?“ – „Sind Sie Sportler?“ – nach kurzem Zögern mit einem entschlossenen „Ja!“ antwortet, kann man das sogar als Satire auf das übliche biographische Nacherzählen sehen. Zudem ist es gerade bei Dali schwierig, verlässliche Quellen zu finden, da er ein so leidenschaftlicher Fälscher seines Lebens war; auch in seiner Entourage spielten alle ihre Rollen.

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Schillernd ist auch die Besetzung: Ben Kingsley gibt mal wieder das Chamäleon, was gerade bei einem so bekannten, geradezu markenartigen Gesicht wie dem von Salvador Dali eine unglaubliche Leistung ist. Dennoch bleibt sein Schauspiel eigenständig, den typischen Blick mit dem nach hinten gereckten Kopf und den weit aufgerissenen Augen zeigt er nur ganz am Ende. Die Wahl von Barbara Sukowa als die ihrem Mann an Selbstbewusstsein und Eitelkeit in Nichts nachstehende Muse Gala ist ausgezeichnet und eine große Freude. Auch sie hat schon etliche Male reale Personen dargestellt, Hannah Arendt, Rosa Luxemburg, Amalie Friedländer. Generell sind hier alle Schauspieler gut, sei es Rupert Graves – der Inspector Lestrade in Benedict Cumberbatchs SHERLOCK – als zwielichtiger Sekretär Captain Moore, Suki Waterhouse (die bereits bei CHARLIE SAYS dabei war) als Ginesta, Alexander Beyer als Galerist Christoffe oder Mark McKenna mit einer eher ungewöhnlichen, stillen Darstellung von Alice Cooper. Amanda Lear, das Model sagen wir mal unklaren Geschlechts, wurde mit Andreja Pejic besetzt, einer „echten“ Transsexuellen, wie der Verleih politisch korrekt betont. Erfreulicherweise kann Pejic aber auch schauspielern. Avital Lvova als junge Gala sieht Barbara Sukowa ähnlich, der junge Dali wird gespielt von Ezra Miller, der vor über zehn Jahren als Kevin in WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN positiv auffiel, zuletzt aber eher durch erratisches und gewalttätiges Verhalten. Einzig Newcomer Christopher Briney als James bleibt etwas blass, was aber an der Anlage der Figur liegen mag.

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Auch handwerklich hat die Crew alles im Griff. Die Anzüge sind maßgeschneidert nach dem Stil der Siebziger, die Ausstattung klotzt, wie es hier sein muss, die Kamera bewegt sich oft per Steadycam durch das Geschehen. Man kann sich denken, dass gerade die Party-Szenen Harron gereizt haben, den Film zu machen: Sie selbst zog als junge Frau in den Siebzigern nach New York und war von der dortigen wilden Kunstszene begeistert, hat dabei auch z.B. die echte Amanda Lear kennengelernt. Trotzdem bleibt DALÍLAND seltsam altmodisch. Nach einiger Zeit findet er zwar mehr zu sich und wird weniger brav. Gerade die Rückblenden – nur bei Erzählungen von Dali – sind aber altbacken inszeniert. Terry Gilliam oder zumindest Baz Luhrman hätten das Durchgeknallte, auch den darin steckenden Wahnsinn, besser hinbekommen.

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Es ist irgendwie schade: In AMERICAN PSYCHO entlarvte Mary Harron die Angeberei des gleichnamigen Bestsellers von Bret Easton Ellis und übertraf dabei klar ihre Vorlage. Doch das ist inzwischen über zwanzig Jahre her, und so ein Geniestreich kam seitdem nicht wieder. Angenehm ist freilich, dass die Regisseurin ihr Publikum für denkfähig hält, leider keine Selbstverständlichkeit im Kino. Man sollte nicht blind alles glauben, was die Figuren in DALÍLAND sagen. Harron traut dem Zuschauer die Intelligenz zu, das selbst zu entscheiden. In einer Rückblende malt Dali offensichtlich „Die weichen Uhren“, eines seiner bekanntesten Werke, das wohl jeder schon einmal gesehen hat. Gala sagt: „Niemand, der dieses Bild gesehen hat, wird es jemals vergessen“, und es ist nicht nötig, die Kamera darauf zu richten.

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Sowohl Dali als auch Gala ist Geld sehr wichtig. Sie will, wie sie ausdrückt, „nie mehr arm sein‘“. Eigentlich ist allen, außer James, Geld sehr wichtig: Der Galerist will nur viele Bilder verkaufen, Captain Moore fälscht Lithographien unter Mitwirken Dalis und hintergeht ihn auch noch dabei. Galas Liebhaber, der gerade den Jesus im Musical „Jesus Christ Superstar“ spielt, lässt sich von ihr die Möchtegern-Karriere finanzieren.

Trotzdem bleibt die Atmosphäre freundlich, alle leben die Illusion einer anderen Welt, die sie selbst erschaffen. Manche werden Dali als eingebildet und Gala als unsympathisch dargestellt sehen, aber das ist es nur oberflächlich. Wer ganz er selbst werden und wirklich frei leben will, lässt auch anderen ihre Freiheit, sie selbst zu sein. Harron zeigt dazu gehörende feministische Aspekte: In der Ehe kümmert sich Gala um die Finanzen, James ist bei einem Dreier dabei – aber mit nur einer Frau.

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Zu Beginn des Films sagt Dali: „Genies dürfen nicht sterben.“ Am Ende ist er sterbend zu sehen. Sein Schimpfen über die Pop-Art ist wohl als scherzhafte Anspielung auf Harrons Warhol-Film zu sehen. Dalis Kokettieren mit reaktionären Ideen wird ansonsten nur mit dem etwas unmotivierten Ausspruch „Lang lebe der König!“ vorsichtig angedeutet. DALÍLAND bleibt ein Unterhaltungsfilm. Tiefschürfende Erkenntnisse sind hier nicht zu erwarten, weder über die historische Person noch über dahinterstehende, allgemeine Themen, so wie es Milos Forman in seinen als Biographien getarnten Filmen betrieben hat. (Hier hätte sich etwa die leicht trügerische Qualität eines Künstlers in Werk und Leben angeboten.) Dennoch: Dies ist ein Film, der das Brecht’sche Postulat einmal genau umdreht und behauptet: Das Bewusstsein bestimmt das Sein.

© Franz Indra

Titel, Cast und CrewDalíland (2022)
Poster
ReleaseKinostart: 07.09.2023
RegieMary Harron
Trailer
BesetzungBen Kingsley (Salvador Dalí)
Barbara Sukowa (Gala)
Ezra Miller (junger Dalí)
Christopher Briney (James Linton)
Rupert Graves (Captain Moore)
Andreja Pejić (Amanda Lear)
Alexander Beyer (Christoffe)
Mark McKenna (Alex Cooper)
Zachary Nachbar-Seckel (Jeff Fenholt)
Suki Waterhouse (Ginesta)
Avital Lvova (junge Gala)
DrehbuchJohn Walsh
KameraMarcel Zyskind
MusikEdmund Butt
SchnittAlex Mackie
Filmlänge104 Minuten
FSKab 12 Jahren

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