Was weiß man schon mit 23 Jahren? Sōgo Ishii (ab 2012 Gakuryū Ishii) wusste bei seinem Abschlussfilm CRAZY THUNDER ROAD vielleicht nicht viel über Geschichte oder Filmtheorie, aber er hatte sein Ohr direkt am Herzschlag der Außenseiter der japanischen Jugend. Anfang der 1980er Jahre schlug in Japan die Punkszene genauso ein, wie sie es im Rest der Welt tat, vielleicht nicht ganz so schillernd und medial präsent, aber den Kids ging es nicht anders. Die Gesellschaft legte sie in Ketten, der Freigeist wurde durch Produktivität getauscht und der Kapitalismus packte jeden loyalen, artigen Japaner bei den Hörnern. Ein Haufen Biker wehrte sich. Sie lebten in der industriellen Einöde, bekriegten sich gegenseitig und jede leerstehende Lagerhalle gab ein Zuhause ab. Doch sie sollen irgendwann in die Gesellschaft eingegliedert werden, einer wehrt sich bis zum Ende.
Handlung
Vorbei soll es sein. Der Druck der Polizei auf die Bikerbanden wird immer stärker. Die Bosse treffen sich, beschließen eine Allianz und wenn sie schon einmal dabei sind, wollen sie die ganze Gewalt und Zerstörung an den Nagel hängen. Ken (Koji Nanjo), Anführer des Maboroshi-Klans, ist nicht vom Plan angetan. Aber was soll‘s, er will sich auf ein ruhiges Leben mit seiner Freundin konzentrieren. Das bringt seinen Nachfolger Jin (Tatsuo Yamada) auf dieMatte, dem die Wut nur so durch die Adern dampft. Biker lassen sich nichts vorschreiben, weder von den Bossen, der Polizei oder den eigenen Freunden. Der Kampf scheint aussichtslos.
Chaos
Wer mit CRAZY THUNDER ROAD ein japanisches 80er-Jahre Remake von DER WILDE (THE WILD ONE, 1953) erwartet, dem werden gleich in den ersten Minuten die Füße weggezogen. Nach einem dystopischen Blick aufs Finale geht es direkt in die Nacht, mit einer wilden Horde Draufgängern auf die Straße. Die gegelten Motorradboys donnern durch die Fabrikschluchten und sind auf der Suche nach Konflikten, auch wenn sich ihre Oberhäupter gerade für Frieden entscheiden. Die Kamera fliegt mit, dreht sich wild im Kreis und die Schnittfrequenz folgt dem brodelnden Score, der nie zu enden scheint. Vor allem Jin hat mächtig Dampf und weiß gar nicht wohin mit seiner Wut. Am besten auf die anderen einschlagen, die vor den Yakuza-Bossen kuschen und solche, die sich von der Bürgerwehr einspannen lassen. Jin versucht es ebenfalls mit den Amateursoldaten, doch den rechten Haufen hat er bald satt und zieht wieder los. Es wird sich schon jemand finden, der Ärger gebrauchen kann.
Style vermeiden
Es ist ein verrückter Kunstfilm ohne Spießigkeit. Die Wut und das Wilde sind in jeder Minute des dunklen 16-mm-Filmmaterials präsent. Die Hintergrundmusik schweigt nie und die Kamera ist permanent auf den Beinen. Das kann an den Grenzen des Ertragbaren kratzen, jedoch kommen immer wieder so ikonische Bilder zustande, dass die Amateurproduktion und das Overacting in den Hintergrund rückt. CRAZY THUNDER ROAD ist eine dreckige Einbahnstraße voller Schlaglöcher, der in einer apokalyptischen Sackgasse endet. Dem Finale hat der Film auch seinen Kultstatus zu verdanken, MAD MAX lässt grüßen.
Filmgeschichte
Spannend ist die geschichtliche Einordnung von CRAZY THUNDER ROAD, der die Yakuza-Epen wie die THE-YAKUZA-PAPERS-Reihe hinter sich lässt, aber das Chaos in diesen Filmen hier den Pulsschlag bestimmt. Die Biker bleiben Außenseiter und sind meilenweit entfernt von dem steifen, elitären Gehabe der Oberbosse, die fast schon an Intrigen der Adelshäuser erinnern. Im Zentrum dieses Films stehen zwei Gesetzlose, Ken und Jin, die sich auseinanderleben. Der eine verbringt lieber die Zeit im Bett mit seiner Freundin und spielt sogar Brettspiele. Kein Wunder, dass er irgendwann abserviert wird. Der andere schlägt eine Schneise der Gewalt in alle Organisationen, bis an ihm brutal Rache verübt wird, nur damit er umso brachialer zurückschlagen kann. Diese zwei ungleichen Anführer einer Bikerbande werden uns acht Jahre später in gewisser Weise wieder begegnen: AKIRA (1988).
Fazit
Ein anarchischer Wildfang von einem Film, der weder die Erwartungen seiner Zuschauer noch die seiner Figuren erfüllt. Will er auch gar nicht! Im Fall von CRAZY THUNDER ROAD geschieht dies aber in einer spannenden und unverbrauchten Weise. Etwas mehr von diesem Punk könnten wir in der aktuellen Filmwelt dringend gebrauchen.
Titel, Cast und Crew | Crazy Thunder Road (1980) OT: Kuruizaki sanda rodo |
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Poster | |
Release | seit dem 19.05.2023 im DigiPack (Blu-ray) OmU erhältlich. Am besten direkt beim Label bestellen. |
Regisseur | Sogo Ishii |
Trailer | |
Besetzung | Tatsuo Yamada (Hitoshi Jin) Masamitsu Ohike (Yukio) Kôji Nanjô (Ken) Nenji Kobayashi (Tsuyoshi) |
Drehbuch | Sogo Ishii |
Kamera | Norimichi Kasamatsu |
Musik | Shigeru Izumiya |
Schnitt | Yoshihiko Matsui |
Filmlänge | 97 Minuten |
FSK | ab 16 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter