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CRASH (1996)

Crash (1996) – Filmkritik

„Die Objektivierung der Lust – oder – Zerstörung und Neuanfang sind Ansichtssache“

Ein chromfarbenes Lustspiel in Öl, Blut und Sperma

Prolog

Als Skandalfilm in vielen Ländern verboten, oder nur stark gekürzt im Kino zu sehen, hat David Cronenberg 1996 eine sexuell bis zum Anschlag vollgetankte Autofetisch-Groteske geschaffen und so die Grenzen zwischen Filmkunst und Hochglanzporno bis aufs Äußerste herausgefordert. Bis heute kann er selbst immer noch nicht mit voller Gewissheit sagen, warum er den Roman CRASH (1973) von James Graham Ballard trotz anfänglicher Abneigung schließlich doch verfilmen wollte. Wie sollte dann eine alles erklären könnende Betrachtung dieses Films von Seiten eines Rezensenten möglich sein? Wohl eher nicht! Möglich ist jedoch, die objektiven Qualitäten dieses Werkes herauszustellen und so Lust auf eine herausfordernd ambivalente und gerade dadurch faszinierende Filmschöpfung zu wecken.

© Turbine Medien

Genau das macht die von Turbine Medien auf den Markt gebrachte Neuveröffentlichung. Neben der 4K-Abtastung begeistert den nimmer hungrigen Cineasten vor allem das hochwertige und inhaltlich beeindruckende Booklet von Christoph N. Kellerbach und meinem hochgeschätzten Fluxkompensator-Kollegen Stefan Jung.

„Die Werke von Autor J.G. Ballard und Filmemacher Davod Croneberg rasten zahlreiche Jahrzehnte durch das kulturelle Unterbewusstsein. Anstatt zu kollidieren, wurden sie eins: der Film CRASH (1996). Sie wurden zu einer Erzählung, die eine entrückte Existenz schildert, jenseits von festen Größen, in einer sich ständig technologisch weiter entwickelnden Welt, in der Menschen aufgrund des Fortschritts nach neuen Regeln, einer neuen Moral und neuen Definitionen althergebrachter Körperlichkeit sehnen.“

Christoph N. Kellerbach und Stefan Jung aus dem Mediabook 2020 von Turbine Medien

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CRASH als Schlüsselfilm

In seiner Wirkung zutiefst verstörend, beeindruckt er gleichzeitig durch die Konsequenz seiner Form. Durch sie spaltet er die Welt der Kinogänger. Ein Spalt zwischen Kultur und Unterhaltung. Ein Grundsatzgraben zwischen Sinnlichkeit und Intellekt. Für die einen ist es Kunst, für die anderen kann es weg. Cineasten feiern ihn als konsequent stimmiges Meisterstück der Postmoderne. Der gemeine Multiplexer möchte ihn zusammen mit seiner nur halb geleerten Popcorntüte im Müll versenken. Und genau auf diesem Spalt zelebriert CRASH seine Schlüsselstellung. CRASH entzerrt die zugleich rohe und faszinierende Gewalt eines Autounfalls in ein somnambul manisches Ringen um die Allmacht sexueller Erfüllung. Statt krachender Action quält Cronenberg seine Figuren, wie auch die Zuschauer, durch überhöhte Fetischsphären auf dem Weg in gottgleiche Höhen. Ist das noch Kino, oder schon multimediale Plastik? Doch warum immer wählen zwischen dem einen und dem anderen? Warum nicht beides in einem Werk vereinen? So gehört ein Film ebenso ins Museum, wie Kunst ins Kino.

CRASH (1996)
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David Cronenberg

Der für seine intellektuellen Body-Horror-Thriller wie PARASITENMÖRDER (1975), RABID – DER BRÜLLENDE TOD (1977), VIDEODROME (1983) oder DIE FLIEGE (1986) gefeierte Autodidakt hat mit CRASH nur auf den ersten Blick einen unerwarteten Genrewechsel vollzogen. Denn je genauer man hinschaut, umso klarer wird darin das Grundthema seiner bisherigen Werke sichtbar:

Die Weiterentwicklung des menschlichen Körpers durch seine Ausdehnung in selbstentwickelte Objekte mittels seiner partiellen Zerstörung.

Für den wissenschafts-affinen Existentialisten Cronenberg der einzige Weg, die Realität des Menschen auf andere Daseinsebenen auszudehnen. In CRASH will der „Mensch das entwickelte Objekt der Flucht wieder in sich zurückholen, um so wieder eine verloren gegangene Zärtlichkeit mit sich selbst zu spüren“ (Zitat aus einem Interview beim Filmfest von Toronto, welches Teil des Bonusmaterials der aktuellen Veröffentlichung ist).

Die Verschmelzung mit der eigenen Schöpfung als gottgleicher Akt. So hat er womöglich unbewusst einen Schlüsselfilm zu seinem Gesamtwerk geschaffen. Ein Werk, welches am deutlichsten zeigt, was den Künstler am meisten bewegt und wofür er steht. Cronenberg steht für einen anderen, wertfreien Blick auf zunächst abstoßende Dinge. Warum also einen Unfall nicht einmal aus einer anderen Perspektive heraus betrachten? Eine Schlüssellochperspektive in den Kreativraum eines Regisseurs? Denn immer wieder erkennen wir subtile Bildelemente aus seinen früheren Filmen, wie z.B. skurrile Fadenenden, die wie dicke Insektenhaare aus einer frisch genähten Wunde herauswuchern. Dieser Brundlefliege-Moment reiht sich zusammen mit weiteren „Einzelhaaren“ in den finalen Schlüsselbart von CRASH.

Mit dem kompletten Film erhalten wir nun den Schlüssel, um die komplette Tür zu Cronenbergs Gesamtwerk zu öffnen. Durch diese Tür betreten wir das intime Künstlerherz eines wahren Autorenfilmers. CRASH ist vielleicht genau dieser Schlüssel.

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Handlung

Das promiskuitive Paar Catherine (Deborah Kara Unger, PAYBACK, 1999) und James Ballard (James Spader, SEX, LIES AND VIDEOTAPES, 1989) frönt seinem sexuellen Dauerhunger durch wechselnde Partner und immer ausgefallenere Praktiken. Allein in den ersten Minuten des Films bekommen wir einen eindeutigen Eindruck von ihrer Beziehung. Catherine lässt sich in einem Flugzeughangar rücklings von ihrem muskulösen Fluglehrer beglücken, während Kameramann James seine Assistentin, ebenfalls von hinten, mit der Zunge auf den nächsten gemeinsamen Take einstimmt. Anschließend berichten sie sich jeweils von ihren Abenteuern, um dann auf ihrem Balkon, vor der Kulisse einer dicht befahrenden Autobahn, einem gemeinsamen Höhepunkt entgegenzustoßen.

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Ein von James selbst verschuldeter Autounfall bringt weitere Figuren aufs Handlungsparkett und das Paar infolgedessen mit neuen Sexpartnern zusammen. Durch sie verfangen sie sich in einem immer enthemmter verlaufenden Sexreigen zwischen Auto-, Unfall- und Narbenfetisch, sowie gleichgeschlechtlicher Liebe.

Die durch den Unfall zur Witwe gewordene Helen (Holly Hunter, DAS PIANO, 1993) kann James für den Verlust ihres Mannes nicht lange böse sein. Der gemeinsame Unfall zieht sie magisch zu- und in-einander. Das Krankenhaus, in dem James eine schwere Beinverletzung auskuriert, treffen die beiden zunächst aufeinander. Dort begegnen beide auch jeweils dem Unfallfotografen Vaughn (Elias Koteas, DER SCHMALE GRAT, 1998). Der ist nicht nur am ganzen Körper von eigenen Unfallnarben gezeichnet, sondern er inszeniert zudem illegale Stuntshows, in denen er tödliche Autounfälle berühmter Hollywoodgrößen ohne Sicherheit und doppelten Boden nacherzählt. Seine Frau Gabrielle (Rosanna Arquette, SUSAN…VERZWEIFELT GESUCHT, 1985) ist durch einen Autounfall lebenslang körperlich entstellt. Ihr zerbrochener Körper steckt in einer Ganzkörperprothese aus Stahl und Leder. Ihr linkes Bein ziert eine an eine rasierte Vagina erinnernde, zentimeterlange Narbe. Für James ein gefundenes Fressen seines unstillbaren Hungers nach Befriedigung.

Wie ineinander krachende Autos verschmelzen alle fünf Figuren im Fortlauf dieses manischen Reigens zu immer neuen, pulsierenden Plastiken aus Fleisch und Metall. Sie alle haben nur ein Ziel: den finalen, alle Schmerzen rechtfertigenden Orgasmus.

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Die Inszenierung

Was sich auf den ersten Blick wie die Handlung eines verstrahlten Steam-Punk-Pornos liest, entwickelt sich durch Cronenbergs fast schon meditative Regie in ein soghaftes Psychodrama über verlorene Seelen im Großstadtdschungel. Jede Einstellung ist durch die Bildkompositionen von Kameramann Peter Suschitzky (DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK, 1980), die fetischhafte Ausstattung, sowie minimale Gesten der Darsteller bis zum Durchschmoren der Leinwand sexuell aufgeladen. Entladen kann sich diese stetig steigernde Spannung nur in einem befreienden Lachen der Zuschauer. Der Witz als letzte Rettung davor, das (Heim)-Kino vor Scham zu verlassen, oder sich durch Selbstbefriedigung dem Gezeigten selbst zu unterwerfen.

Dabei nimmt Cronenberg seine Figuren ernst bis in die Schamhaarspitzen. Die oft bis ins comichaft gesteigerte Bild- und Handlungsästhetik legt sich wie eine Karosserie aus Chrom über die brodelnde Psyche der Figuren. Jeder Moment seufzt einer alles herausspritzenden Erlösungsejakulation entgegen. Wie in einem Fiebertraum wird die dort überzeichnete Realität zu einer akzeptierten und wertfreien Wahrheit. Wie wir auf das Gesehene reagieren, liegt daran, wie weit wir uns in das Gezeigte fallen lassen können. Je mehr wir loslassen, um so gefestigter werden wir in der Art wie wir diesen Film erleben. Am Ende ist jeder noch so aberwitzige Moment, der doch nur das immer gleiche Bedürfnis auf immer höheren Aktionsebenen spiegelt, ein Blick in unsere eigene, niemals vollends zufriedenstellbare Natur. Ein Spiegel, geschmiedet aus der glänzenden Oberfläche ewig dahinrasender Autos.

CRASH (1996)
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Die Darsteller

Die größte Errungenschaft von Cronenbergs Inszenierung ist das hingebungsvolle Spiel seiner Darsteller. Vertrauensvoll verschmolzen mit ihren Figuren, geben sie sich vollkommen in die respektvolle Obhut ihres Regisseurs. Mit ihnen gemeinsam gelingt Cronenberg die Adaption eines rein medizinisch, sachlich geschriebenen Romans in einen körperlich, wie sinnlich erlebbaren Film. Durch seine Darsteller blicken wir in extreme Spiegelbilder unserer selbst. Auch wenn wir es selbst nicht wahrhaben wollen, sehnen auch wir uns nach alles verändernden Crashs in unserem Leben. Crashs, deren Opfer wir in Kauf nehmen, um verloren gegangene Energien zurück in unsere durchprogrammierten Leben zu holen. Durch das Spiel der Darsteller wird uns dies schmerzhaft vor Augen geführt.

Deborah Kara Unger

Die hingebungsvollste und mutigste Darstellung bietet Deborah Kara Unger. Bis zu den äußeren Schamlippen stellt sie ihrer darzustellenden Figur ihren kompletten Körper zur Verfügung. Als blonde Femme fatale zeigt sie uns all das, was uns ihre ikonenhaften Vorgängerinnen wie Veronica Lake, Gloria Graham oder Rita Hayworth noch vorenthalten haben. Ihre entrückte, wie unter Dauerdrogen dahingehauchte Performance ist pure, menschgewordene Begierde. Trotz ihrer devoten Sexualität ist sie eine starke und selbstbewusste Frau auf Augenhöhe mit den Männern ihres Begehrens. Wie eine vom Olymp entstiegene Halbgöttin durchweht sie mit ihrer Aura den kompletten Film. Ungers Darstellung ist in der Radikalität ihrer Natürlichkeit schlicht atemberaubend.

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James Spader

Spaders Figur „James“ ist ein Getriebener zwischen äußerlicher Seriosität und innerlicher Enthemmung. Sein nimmersatter Eros zuckt unter der Maske eines knabenhaften Gesichts, als wolle er es von innen heraus durchbrechen. Wie ein Spielball der Lust hüpft er von Abenteuer zu Abenteuer, ohne sich wirklich dagegen wehren zu wollen. Seine Lust ist nie peinlich, sondern stets natürlicher Lauf seiner Persönlichkeit – er kann nicht anders. Dabei gibt Spader körperlich zwar nicht alles preis, dennoch ist seine physische Hingabe an die Figur uneitel und mutig. Dass man seine Figur niemals lächerlich findet, liegt an der hochkomplexen Darstellung eines großen Schauspielers.

Holly Hunter

Noch stärker als Spaders Figur wandelt Helen Hunters „Helen“ als menschgewordene Ambivalenz zwischen sozialer Fassade und instinktgesteuerter Wahrheit durch die Handlung. Ihre streng elegante Kleidung, ihre helmartige Bobfrisur und ihre unbewegte, an Buster Keaton erinnernde Mimik wirken wie eine Rüstung gegen emporflutende Geilheitsattacken. Diese durchzucken wie Elektrostöße ihren hochgeschlossenen Körper, den sie nur partiell für eine schnelle Nummer im Auto freigibt. Mal darf sich eine Brust, mal ihr Unterleib für ein kurzes Schaulaufen Luft verschaffen. Verstärkt durch ihre Unfall-Rückenwirbelverletzung durchschreitet sie die Szenerie steif wie ein auf Lusteffizienz programmierter Gucci-Cyborg. Als dieser reitet sie immer aktiv einer schnellen Befriedigung entgegen. Sie hat die erste Stufe unserer menschlichen Existenz bereits verlassen. Eine befremdlich faszinierende und hochartifizielle Darbietung im Sinne der Handlung.

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Elias Koteas

Sein Vaughn ist ein frankensteinsches Zwitterwesen zwischen Schöpfer und Monster. Wie ein entfesseltes Tier im Körper eines gequälten Menschen irrt er fremdgesteuert von seiner eignen Schöpfungsfantasie durch eine Welt, die nur darauf zu warten scheint, von ihm erobert zu werden. Seine Nase scheint jedes noch so winziges Lustaroma-Atom in seiner Umgebung wahrzunehmen. So stößt er sie hemmungslos in den Dunstkreis jedes Menschenobjekts seiner Begierde. Dabei switcht er wie selbstverständlich zwischen Dominanz und Unterwerfung. Seine Autobahn ist in beiden Richtungen befahrbar. Koteas spielt seine Figur zwischen ölschwitzendem Lustmaniac und trotzig eingeschüchtertem Kleinkind: Verletzlich und verletzend, aufbrausend und zartfühlend. Seine Darstellung ist ein Musterbeispiel an körperlichem Präsenz und sinnlicher Durchlässigkeit. Ungefiltert und roh scheint ihn der gesamte Film zu durchfließen.

Rosanna Arquette

Trotz der Kürze ihrer Rolle hat Arquettes Präsenz eine fast schon prophetische Kraft. Ihre Figur hat bereits die nächste Entwicklungsebene erreicht: die schmerzvolle Überwindung des menschlichen Körpers in eine neue Sinnlichkeit. Diesen Status müssen die anderen Figuren noch erreichen. Der Unfall als crashende Neugeburt in eine semimechanische Erweiterung ihrer selbst. In ihr verschmelzen Opfer und Schöpferin zu einem lebendigen Idol einer neuen Spezies. Als weiblicher Maschinenmensch trägt sie ihre Narben wie Abzeichen nach einer erfolgreichen Mission. Die prothetischen Schranken ihres deformierten Körpers wurden zur Startrampe für ihre innere Schönheit. Diese Schönheit strahlt aus jeder Pore einer hochsinnlichen Darstellerin.

CRASH (1996)
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Final Cut

Zusammen mit der dezent eingesetzten, mechanisch flirrenden, wie repetetiv dissonanten Kammermusik von Howard Shore (HERR DER RINGE – Trilogie) und real gedrehten Unfallszenen, die einen körperlich zu treffen scheinen, erleben wir eine in ihrer inszenatorischen Konsequenz bahnbrechende Regieleistung.

Die Wirkung des Films

CRASH ist ein cineastischer Verkehrsunfall zwischen Staunen und Verstörung. Hier legt David Cronenberg den Motor seiner bisherigen Werke vollends frei: die Überwindung des Körpers zur wahren Existenz des Menschen. Die plastische Zerstörung wird zum Turbo, der Schmerz zum Treibstoff hinter die Grenzen der Physis. Erst dort finden seine Figuren ihre wahre Bestimmung. Für Cronenberg sind sie Forschungsreisende an Orte jenseits von Norm und Moral. Das Extrem ihrer Handlung fokussiert nur die fortwährende Suche von uns allen. Die Suche nach dem Sinn unserer menschlichen Natur.

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Das war nicht nur vielen Kritikern und Zuschauern zu viel. Cronenbergs fast liebevoll zärtlicher Blick auf die Kinder seiner Filmschöpfung verstörte auch einen der größten Filmemacher Hollywoods: Francis Ford Coppola. Der derzeitige Jury Präsident von Cannes soll vehement gegen eine Vergabe der Goldenen Palme an das als heißer Favorit gehandelte Psychodrama gegenüber seinen Mitentscheidern argumentiert haben. Man kann nur mutmaßen, was ihm an diesem Werk missfallen hat. Doch dem gläubigen Katholiken war wohl die völlige Abkehr von jeglicher abendländisch geprägten Moral ein zu abgründiger Blick in die Seele von Gottes Kindern.

Wer möchte, kann hier in Coppola einen Stellvertreter eines verlogenen Hollywoods der alten Herren sehen, in dem problemlos für politische, soziale und familiäre Werte getötet, aber niemals aus entfesselter Lust heraus gevögelt werden darf. Wenn schon Sex, dann um neues Leben zu zeugen, oder als „fehlgeleitet“ interpretierte Frauen in chauvinistische Allmachtsschranken zu weisen. Ein von seiner Grundfunktion her völlig losgelöster, deutlich sichtbarer, fetischorientierter, geschweige denn gleichgeschlechtlicher Lustakt hat in seinem Kino nichts verloren. So kann am Ende der Große Preis der Jury (also ein Zusatzpreis ohne die gewichtige Finalentscheidung des Präsidenten) als Trostpflaster und stiller Protest gegen die Bigotterie der Traumfabrik gewertet werden. Ein Hollywood, in dem nach außen hin Moral und Anstand am Ende immer gewinnen müssen. Perversion und Obsession müssen als Instrumente des Teufels final überwunden werden – zumindest auf der Leinwand.

CRASH (1996)
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Obsession als Heilung

In CRASH dagegen wollen sich die ambivalenten Helden nicht von ihrer Obsession befreien. In diesem Film wird die Obsession selbst zur Heilung. Zur Heilung von einer viel größeren Blockade: die Beschränkung des menschlichen Körpers. Der Unfall wird zu ihrem Quantensprung auf andere Daseinsebenen und der Zuschauer zum hin und hergerissenen Gaffer zwischen Faszination und Mitleid. Faszination für den Mut der Figuren, immer weiter gehen zu wollen als bisher. Mitleid mit ihrer sich daraus entwickelnden Verzweiflung, diese Ebene trotz aller Anstrengungen, niemals vollends erreichen zu können. Cronenberg zeigt hier den Menschen als postmaschinellen Sisyphos. Einst erschuf er diese Maschinen, um die Unzulänglichkeiten des eigenen Körpers ausgleichen zu können. Doch auch mit schnelleren Fahrzeugen, wie dem Auto, kann er seinem Ziel nie vollends näherkommen. Also zerstört er seine Schöpfung, um sich mit ihr am Ende zu etwas Neuem zu vereinen. Wie Seth Brundle in DIE FLIEGE (1987) entsteigen auch sie der zweckentfremdeten Maschine als entstellte Menschen. Der Crash als Urknall zwischen Mensch und Menschmaschine. Der Körper wird nie mehr so sein wie vorher. Doch während der zu einer Insekten-Mensch-Masse verschmolzene Wissenschaftler am Ende sein Scheitern erkennt und sein irdisches Ende erbittet, können sich die „Crasher“ dem ewigen Kreislauf ihrer Leidenschaft nicht entziehen. So sehr sie es auch wollen, einmal in Gang gesetzt wird der Motor zu einem Perpetuum Mobile ihrer Obsession.

„Beim nächsten Mal“ – (Catherine und James am Anfang und Ende des Films in Bezug auf den nicht erreichten Höhepunkt ihrer Anstrengungen)

Der Autounfall als metaphorischer Felsbrocken auf einem niemals endenden Weg zum Gipfel. Die zerschmetterten und darauf chirurgisch wieder hergestellten Körper werden zu Idolen eines immerwährenden Kampfes um göttliche Lust. Am Ende lässt Cronenberg die Zuschauer betäubt in ihren Sitzen zurück. Wer es bis hierhin durchgestanden hat, ist entweder vollends verstört, oder kann sich ein ungläubig sarkastisches Lachen nicht verkneifen. Einen so konsequenten Film bekommt man nicht alle Kinotage lang zu sehen.

CRASH (1996)
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Gerade in Bezug auf seinen darauffolgenden Film ist CRASH von nahezu visionärer Bedeutung. Wie in einer Art Fortsetzung führt Cronenberg dort das Motiv der Verschmelzung von Mensch und Objekt fort. In eXistenZ (1999) können sich Menschen mittels eines bizarren Modems, einem synthetischen Zwitterorgan zwischen Herz, Vagina, Penis, Mutterkuchen und Nabelschnur, welches direkt mit dem Rückenmark verbunden wird, in die virtuelle Welt eines lebensechten Computerspiels einloggen. So verbindet CRASH auf subtile Weise die Welt von VIDEODROME (die körperliche Verschmelzung von Mensch und TV-Bild) mit der einer sich in die Virtualität weiterentwickelten Zukunft unserer Spezies. Die vollkommene Fusion des Menschen mit dem geschaffenen Objekt. Die nächste Entwicklungsstufe ist fast erreicht.

Die aktuelle Veröffentlichung

Turbine Medien hat anlässlich der aktuellen, hochwertigen 4K-Abtastung vom Original-Kamera-Negativ drei verschiedene, limitierte Medienpakete für den Cineastenmarkt geschnürt.

Bereits vergriffen ist das Crash – Mediabook Modern (4K Ultra HD + Blu-ray). Noch zu haben sind das Crash – Mediabook Classic (Blu-ray + DVD), welches dieser Rezension zugrunde liegt. Jedoch erschien nach dem Ausverkauf das Paket mit 4K-UHD und Blu-ray auch als Softbox mit dem gesamten Bonusmaterial, jedoch ohne Booklet.

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Neben der wirklich bestechenden Bild- und Tonqualität begeistert gerade die Mediabook-Variante mit satter Extra-Action. Das oben bereits erwähnte 40-seitige Booklet gewährt einen umfangreichen Einblick in die Entstehung und Umsetzung des Films, wie auch das weitere Filmschaffen von David Cronenberg. Auch hier wird das Grundthema des Regisseurs stimmig hervorgehoben:

„Sein Leitmotiv des „neuen Fleischs“ war bereits bei DIE BRUT ersichtlich, doch mit SCANNERS (1981), VIDEODROME (1983) und DIE FLIEGE (The Fly; 1986) machte Cronenberg eine bisher unbekannte physische Realität sichtbar, die in seinen Figuren schlummerte…“

Weiteres Bonusmaterial:

Neue Interviews in HD (ca. 140 Min.):

  • Talk mit Viggo Mortensen & David Cronenberg im Rahmen des oben zitierten Toronto Film Festivals (ca. 52 Min.)
  • Peter Suschitzky (Kameramann – ca. 20 Min.)
  • Jeremy Thomas (Produzent – ca. 17 Min.)
  • Howard Shore (Komponist – ca. 23. Min.)
  • Deirdre Bowen (Casting Director – ca. 27 Min.)

Archiv: Interviews zum Kinostart mit den Machern & Stars (ca. 22 Min.)

Hinter den Kulissen (ca. 11. Min.)

Kurzfilme von David Cronenberg: THE NEST (ca. 9 Min.), CAMERA (ca. 6 Min.), AT THE SUICIDE OF THE LAST JEW IN THE WORLD IN THE LAST CINEMA IN THE WORLD (ca. 4 Min.)

HD-Trailer

Gerade die aktuellen Interviews, allen voran das mit Viggo Mortensen und Cronenberg, bieten einen sehr differenzierten und lebendigen Blick auf diesen ungewöhnlichen Film.

Fazit

Durch CRASH erhält der Zuschauer (egal, ob er den Film bereits kennt, oder nicht) einen Schlüssel für das Gesamtwerk eines außergewöhnlichen Filmkünstlers. Zusammen mit den umfangreichen Extras der aktuellen Veröffentlichung erhalten wir einen wertvollen Blick in den Schaffensprozess unabhängiger Filmkunst. Das Ergebnis wird so verständlicher und die Kunst dahinter lebendig. So erhält die Kunstform „Film“ den Stellenwert, der ihr neben der bildenden Kunst längst zusteht.

Film ist Kunst – Crash … !!!

© Andreas Ullrich

Titel, Cast und CrewCrash (1996)
Poster
ReleaseKinostart: 31.10.1996
ab dem 14.08.2020 auf UHD ink. Blu-ray erhältlich.

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RegisseurDavid Cronenberg
Trailer
BesetzungJames Spader (James Ballard)
Holly Huntern (Helen Remington)
Elias Koteas (Vaughan)
Deborah Kara Unger (Catherine Ballard)
Rosanna Arquette (Gabrielle)
Peter MacNeill (Colin Seagrave)
DrehbuchDavid Cronenberg
Buchvorlagenach dem Roman CRASH von James Graham Ballard
KameraPeter Suschitzky
FilmmusikHoward Shore
SchnittRonald Sanders
Filmlänge100 Minuten
FSKab 18 Jahren

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