Charlie Chaplin (1889-1977) ist eine Legende. Nicht nur Filmfans wissen, welches Genie hinter dem Namen steckt, sondern jeder weiß, dass zu Chaplin ein Kostüm gehört: die kleine Melone, der gebogene Bambusstock, die viel zu große Hose, der enge Frack und der zwei Finger breite Schnurrbart machen Charles Spencer zu seiner berühmtesten Rolle, den Landstreicher, den „Tramp“.
Die frühen Jahre
Chaplin wuchs in sehr armen Verhältnissen in London auf – der Vater verließ früh die Familie und die Mutter konnte wegen psychischer Probleme nicht arbeiten. Im Milieu der Trunkenbolde und Armut beobachtete er ganz genau die Menschen um sich herum und profitierte später in seinen Filmrollen von dieser Studie. Er brach mit 13 Jahren die Schule ab und landete beim Theater. Dort konnte er England und seiner schlechten Lebenssituation mit internationalen Theatertouren entfliehen. 1913 wurde er dabei von Filmproduzent Mack Sennett bei einem Auftritt entdeckt. Chaplin schloss mit ihm seinen ersten Hollywood-Vertrag mit den Keystone Studios für ein Jahr ab.
Mit den schwierigen und schnell produzierenden Arbeitsbedingungen des Filmdrehs hatte Chaplin anfänglich Probleme, nachdem er beim Theater das vielfache Proben gewöhnt war. In seiner ersten Rolle als Bösewicht (MAKING A LIVING) war Chaplin unzufrieden und erschuf die Figur, welche ihn ein Leben lang begleiten wird, den Tramp. Der erste Auftritt des Landstreichers wurde im Kurzfilm SEIFENKISTENRENNEN IN VENICE (KID AUTO RACES AT VENICE) dokumentiert, der von besagten Keystone Studios finanziert wurde. Hier stört er die Berichterstattung eines Seifenkistenrennens, indem er sich immer wieder vor der Kameralinse präsentiert. Gekonnt auffällig raucht er an seiner Zigarette, schwingt den Bambusstock und dreht auf den viel zu großen Schuhe seine Runden vor den Aufnahmen. Es erinnert ein bisschen an Fußballfans, die bei TV-Interviews immer im Hintergrund zu sehen sein wollen. Charlie Chaplins Tramp zeigt so ironisch den Wunsch ins Fernsehen (damals Kino) zu kommen, aber viel würdevoller und auch mal mit einem koketten Blick über die Schulter. Der Wunsch jener Rolle wird sich erfüllen und Charlie Chaplin wird von Millionen Zuschauern im Kino gesehen werden.
Diese Geburt einer Ikone kann man nun zum ersten Mal auf DVD in Deutschland sehen, sogar in einer nachträglich colorierten Version. CHARLIE CHAPLIN: LOST MOVIES VOL. 2 beinhaltet insgesamt neun Kurzfilme, welche im Jahr 1914 bei den Keystone Studios entstanden sind. Leider stimmt die Reihenfolge auf der Rückseite der DVD nicht, deswegen hier die korrekte Auflistung:
- CHARLIE ALS KELLNER (CAUGHT IN A CABARET) 11 min
- CHARLIE IM HOTEL RIZZ (CAUGHT IN THE RAIN) 12 min
- DER DIEBESFÄNGER (THE THIEF-CATCHER) 11 min
- CHARLIE UND DIE AUTODIEBE (MABELL AT THE WEEL) 23 min
- IM STADTPARK / 20 MINUTEN LIEBE (TWENTY MINUTES OF LOVE) 11 min
- DIE HOSE DES FÜRSTEN (THE STAR BOARDER) 23 min
- CHAPLIN SITZT IM HÜHNERSTALL (THE FATAL MALLET) 11 min
- CHAPLIN; EIN VERBUMMELTES GENIE (HIS FAVORITE PASTIME) 14 min
- SEIFENKISTENRENNEN IN VENICE (KID AUTO RACES AT VENICE; CAL. nachträglich coloriert 7 min
Letzterer ist nicht nur die Geburtsstunde des Tramps, sondern auch einer der lustigsten und interessantesten Filme auf dieser Veröffentlichung. Er spiegelt ebenfalls die angespannten Verhältnisse vom Regisseur zu seinem Schauspieler wieder und ist durch die Aufnahme von Dreharbeiten schon fast dokumentarisch zu sehen. In diesem Fall aber als gestellt dokumentarisch und somit dem frühen Mockumentary zuzuordnen.
Die restlichen Kurzfilme, die alle im Zuge seines Einjahresvertrags bei den Keystone Studios entstanden sind, können eher als Proben für die großen Rollen Chaplins angesehen werden. Er testet hier aus, wie grob bzw. gemein er sich aufführen darf, ohne die Sympathie des Underdogs zu verlieren. Das Highlight ist gleich der erste Film CHARLIE ALS KELLNER, in dem er versucht in seiner Mittagspause als schlechtgelaunter Kellner das Herz einer wohlhabenden Dame zu erobern. Er hat nicht nur einen Konkurrenten in diesen erlesen Kreisen, sondern ist bereits sturzbetrunken, weil er auf Arbeit immer die Reste austrinkt. Alles endet, wie viele dieser Kurzfilme, mit einer handfesten Massenschlägerei, wo sogar mit Kohlebriketts geworfen wird.
Ein paar Jahre später erarbeitet Chaplin sich seine ersten Freiheiten in der Zusammenarbeit mit weiteren Studios, um in den 1920er-Jahren seinen begehrten Vertrag bei United Artists zu bekommen. 1931 drehte er, trotz Etablierung des Tonfilms, den Stummfilm LICHTER DER GROSSSTADT und die Erfolgsgeschichte nimmt ab da volle Fahrt auf.
DVD-Release
Insgesamt lässt sich diese DVD-Veröffentlichung nur Charlie-Chaplin-Sammlern und Filmgeschichtsinteressierten aus jener Zeit empfehlen. Die Qualität der Filme ist äußerst schlecht. Der hohe zeitliche, wie auch finanzielle Aufwand einer Restauration wurde hier nicht eingegangen. Selbst ein paar Farbkorrekturen, um dem grün- bis rotstichigen Bild entgegenzuwirken, scheint zu viel Aufwand bedeutet zu haben. Man muss schon sehr nah an den Fernseher herankriechen, um die Mimik und Gestik Chaplins oder seines Kollegen Ford Sterling zu erkennen. Auch die Begleitmusik fällt in den letzten Filmen in eine fast schon deprimierende Endlosschleife. Wo zu Beginn in CHARLIE ALS KELLNER noch fröhlich in die Klaviertasten gegriffen wurde, ist man bei den letzten Kapiteln schon traurig angenervt. Ein paar Neukompositionen hätten dem stummen Geschehen sicherlich Aufschwung gegeben.
Fazit
Es fragt sich leider am Ende, warum diese DVD erwerben, wenn man doch ausnahmslos alle Filme auf YouTube ansehen kann und sich beim Endprodukt für die Filmsammlung wenig Mühe gegeben wurde (unkorrekte Film-Reihenfolge, Farbfehler, falsche Gesamtlaufzeitangabe). Die 2019 colorierte Version vom ersten Auftritt des Tramps beim SEIFENKISTENRENNEN ist der einzige Mehrwert, der tief vergraben in den Extras versteckt ist.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter