„Gedankenchaos“
„Ich denke, also bin ich.“ Was ist aber, wenn jeder meine Gedanken auch hören kann? Bin ich dann noch ich selbst oder nur ein Wesen ohne eigenen Willen, dessen Handeln vorhersehbar ist? Was würde der Philosoph René Descartes wohl zum neusten Kinofilm CHAOS WALKING sagen? In diesem Science-Fiction-Abenteuer kann jeder die Gedanken des anderen hören. Wie kleine synaptische Wolken schweben sie über dem Kopf des Denkenden. Ist das schon ausreichend für eine spannenden Film in einer fremden Welt? Nicht ganz, aber CHAOS WALKING bringt noch mehr Gedankenspiele mit auf die Leinwand.
Handlung
Die Menschen im 23. Jahrhundert auf einem fremden Planeten, von technischem Fortschritt ist nichts zu erkennen. In dichten Wäldern gibt es eine Siedlung, die nur von Männern bewohnt wird. Zu Pferd gehen sie jagen, betreiben Ackerbau und leben ein einfaches und hartes Leben. Wer seine Gedanken nicht zügelt, kann von jedem in Hörreichweite wahrgenommen werden. Der erzeugte „Lärm“ (The Noise) ist auf dem Planeten allgegenwärtig. Vor allem die Gedanken des jungen Teenagers Todd (Tom Holland) sind stets im eigenen Wechselspiel. Das Männergefüge wird vom Bürgermeister Prentiss (Mads Mikkelsen) kontrolliert. Er ist der Einzige, der seine Gedanken verbergen und sogar Willensschwache unter seine Kontrolle bringen kann. Todd blickt zu Prentiss auf. Als die junge Sternenreisende Viola (Daisy Ridley) wahrhaftig vom Himmel fällt, ändert sich Todds Blick auf seine Welt komplett um 180 Grad.
Mehr als eine Teenagerfantasie
Die Fähigkeit die Gedanken einer Filmfigur zu hören und manchmal auch zu sehen, funktioniert in den ersten Szenen erstaunlich gut. Einige werden es kennen. Manchmal denkt man so angestrengt über etwas nach, dass es sich anfühlt, als ob man mit sich selbst sprechen würde, nur eben in seinem eigenen Kopf. Der Teenager Todd könnte dafür nicht besser geeignet sein, uns in diese unbekannte Welt einzuführen. Wer hat schon Lust die Gedanken eines einfachen Landarbeiters zu hören? Bei Todd sorgt die hormonelle Gefühlsautobahn für Dynamik und Selbstzweifel, weil er der jüngste in dieser Männergesellschaft darstellt und irgendwann wohl allein sein wird. Erste Zweifel, ob man als Zuschauer diesem Stresstest aus Gedanken und Dialog für zwei Stunden folgen kann, verschwinden dank weiblicher Stille. Denn es gibt auch noch Viola als weibliche Hauptrolle.
Ihre Gedanken bleiben geheim, solange sie sie nicht ausspricht. Jetzt hört man schon biergeschwängerte Sprüche aus der Filmkneipe: „Die Frauen, das ewige Mysterium.“ In CHAOS WALKING ist es jedoch nicht nur Gender-Metapher, dass nur bei Männern die Gedanken zu hören sind, sondern es ist auch ein dramaturgisches Stilmittel, was die beiden Hauptfiguren auf spannende Weise zusammenbringt. Eine ganz neue Art der Kommunikation entsteht, auch für uns mitreisende Zuschauer. Dieser Umstand ist auch der gelungenen Besetzung zu verdanken. Tom Holland ist als quirliger Super-Teenager bekannt und Daisy Ridley’s Mächte kennt man bereits aus den letzten Sternenkriegen. Sicher kann man auch hier die Besetzung als zu gewollt ansehen und auch Mads Mikkelsens Bösewicht-Repertoire kann wieder ein paar Narben mehr in seiner Make-up-Sammlung verzeichnen. Sei es drum, CHAOS WALKING ist nämlich vor allem simple, kreative Science-Fiction-Fantasy.
Was wäre, wenn …?
Es werden nicht nur Geschlechterrollen bedient. Okay, Todd muss jagen gehen und über dem Feuer außerirdische Tentakel grillen, aber ein paar kleine ironische Seitenhiebe auf das erste Zusammentreffen von Mann und Frau dürfen sich die Drehbuchautoren erlauben. Todd als stinkender Kämpfer und Viola als clevere Konflikt-Mentorin ist schon sehr Rollenklischee, aber beide haben auch die Stärken, die man beim anderen erwartet. Todds Fürsorge für seinen Hund und Violas agile Schnelligkeit durch die Wälder oder im Zweikampf.
CHAOS WALKING gefällt vor allem durch häppchenweises Füttern der Zuschauer mit Informationen. Hiermit sei auch die dringende Empfehlung ausgesprochen, um den Trailer einen Bogen zu machen, damit man sich den Kosmos erst beim Filmerlebnis erarbeitet. Das Fantasy-Universum erklärt sich stückchenweise und lässt sogar ein paar Details im Verborgenen ruhen. Das Leben der Raumfahrer bleibt weitestgehend unbekannt und das was die Menschheit zur Kolonialisierung auf fremden Welten bewegt hat, bleibt erst einmal unserer Fantasie überlassen. Viola und Todd verlassen auf der Flucht die männliche Neandertaler-Siedlung und wagen sich in fremde Gefilde. So lernen wir immer mehr vom Planeten kennen, wie auch weitere Siedlungen und deren Gesellschaftsformen. Das gelingt, dank der geradlinigen und einfachen Handlung, kurzweilig und spannend, ohne sich zu sehr am THE-WALKING-DEAD-Kosmos als Kreativitätsvorlage zu bedienen.
Die Zwänge
Es gibt leider auch einige Logikfehler zu beanstanden und das Opfern von Tieren, um es emotional berührend zu gestalten, ist ein angestaubter Griff in die Trickkiste. Die digitalen Effekte sind hin und wieder unscharf und die verhasste Handkamera wird einem als künstlerische Freiheit untergejubelt. Freund wie auch Feind der Fangemeinde ist das Fortsetzungspardoxon. Eine neue Fantasy- und Science-Fiction-Welt ist mittlerweile immer auf Expansion ausgelegt. Eine Fortsetzung muss in Reichweite des Fans für fremde Welten liegen. CHAOS WALKING beruht auf dem Buch „The Knife of Never Letting Go“ aus der New-World-Trilogie von Patrick Ness (Buchvorlage zu SIEBEN MINUTEN NACH MITTERNACHT, 2016). Diese verhaltene Drehbuch-Erklärung der neuen Welt ist das Instrument eines guten Autors, der aber leider nicht all seine Tricks im ersten Band verrät.
Das runde Filmende birgt auch einen Neuanfang für weitere Teile. Solch eine Entscheidung ist eine schöne Liebeserklärung ans Kino und funktioniert immer noch besser als die Geschichte auf zähe Folgen im Serienformat aufzublasen. Bleibt nur abzuwarten, ob es finanziell auch mit einer Fortsetzung weitergeht, der die Filmgemeinde, wie auch Kritiker haben CHAOS WALKING bereits in den USA derb abgewatscht. Für den Schreiber dieser Zeilen, war es jedoch genau der richtige Film, um den pandemiebedingten Kinoentzug der letzten neun Monate zu beenden. Somit wird hiermit ein Kinotipp ausgesprochen wie schon damals zum Auftakt der genreähnlichen MAZE-RUNNER-Trilogie. Bleibt zu hoffen, dass die erzählerische Qualität in möglichen CHAOS-WALKING-Fortsetzungen, es gibt ja noch zwei weitere Bücher, erhalten bleibt.
Fazit
Heute ist Gedankenlesen schon keine Zukunftsmusik mehr, denn fast jeder hinterlässt seine Meinungen und Erlebnisse im Internet. Richtig spannend ist CHAOS WALKING aber allein schon unter dem Aspekt, wie sich unser Umgang verändert, wenn keiner mehr seine Gedanken fälschen kann. Das Potential für einen spannenden Filmabend über Sci-Fi-Weltraumpioniere im Überlebensmodus ist in CHAOS WALKING für jeden präsent, der es gern erleben möchte und sich für ein paar Gedankenexperimente interessiert. Alle anderen können gern wieder zum Streaming-Bingewatching zurückkehren.
„Mein Name ist Todd Hewitt.“ „Mein Name ist Todd Hewitt.“ „Mein Name ist Todd Hewitt.“
Wer gern in dieser fremden Welt weiterlesen will, die NEW-WORLD-Trilogie ist in Deutschland unter den Büchertiteln:
- NEW WORLD – DIE FLUCHT (2009)
- NEW WORLD – DAS DUNKLE PARADIES (2009)
- NEW WORLD – DAS BRENNENDE MESSER (2010)
im Verlag bei Ravensburg erschienen.
Titel, Cast und Crew | Chaos Walking (2021) |
Poster | |
Regisseur | Doug Liman |
Release | Kinostart: 17.06.2021 ab dem 14.10.2021 auf UHD, Blu-ray und DVD Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: |
Trailer | |
Besetzung | Daisy Ridley (Viola) Tom Holland (Todd) Demián Bichir (Ben) David Oyelowo (Aaron) Kurt Sutter (Cillian) Cynthia Erivo (Hildy) Bethany Anne Lind (Karyssa Hewitt) Mads Mikkelsen (Mayor Prentiss) Nick Jonas (Davy Prentiss, Jr.) Ray McKinnon (Matthew) Vincent Leclerc (Daws) |
Drehbuch | Patrick Ness Christopher Ford |
Buchvorlage | Nach dem Buch "The Knife of Never Letting Go" von Patrick Ness |
Filmmusik | Marco Beltrami Brandon Roberts |
Kamera | Ben Seresin |
Schnitt | Doc Crotzer |
Filmlänge | 109 Minuten |
FSK | Ab 12 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter