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Camille Claudel (1988)

Camille Claudel (1988) – Filmkritik

Der sichtbare Prozess

Manchmal ist das Unfertige spannender als die von vielen angestrebte Perfektion. Mit seinem Non-Finito Prinzip öffnete Bildhauer Auguste Rodin für sein Jahrtausende altes Kunsthandwerk die Tore zur Moderne. Seine Plastiken forderten den Betrachter bewusst heraus. Dieser sollte sich mit dem Motiv auch über seine (un)fertige Form hinaus beschäftigen, mehr noch, sich mit ihm auf unbestimmte Zeit auseinandersetzen.

Ironischerweise konnte Rodin seinem eigenen Werk dieses unfertige, prozessartige Schaffen nie vollends zur eigenen Zufriedenheit abringen. Dies gelang in seinen Augen eher seiner begnadeten Schülerin, Muse und Geliebten, Camille Claudel. Während er lediglich danach strebte, das Innerliche eines Menschen in Gips, Bronze, oder Marmor für die Ewigkeit zu erfassen, schien dies wie natürlich aus der Seele in die hochbegabten Hände dieser Jahrhundert-Künstlerin zu fließen. Vielleicht zerbrach daran auch letztendlich ihre kreative Amour fou.

Wie in der Malerei folgte nun also auch die Arbeit mit mineralischen Stoffen dem neuen Geist revolutionärer Künstler. Kunst ist mehr als das was wir sehen. Es geht um das Sichtbarmachen von Prozessen unter der alles bestimmenden Oberfläche eines sozialen Lebens. Die Psychoanalyse steckte zu der Zeit noch nicht einmal in den Kinderschuhen. Dieses Kunstprinzip steht in gewisser Weise auch für die derzeit teuerste europäische Filmproduktion der 1980er und frühen 1990er Jahre.

Camille Claudel (1988)
© Arthaus

Unfertiges Portrait einer zu lang vergessenen Künstlerin

Zum einen ist das Unfertige Teil der Handlung, denn wir sehen speziell die dargestellten Künstler genau in diesem Geiste arbeiten. Es ist aber auch das Thema der Beziehung zwischen Auguste Rodin und Camille Claudel. Eine Beziehung auf Ebene der Kunst und einer selbstzerstörerischen Liebe.

Doch vor allem ist es der Film selbst. Ein unfertig wirkendes Werk mit einer Kraft, die lange nachwirkt. Auch die Trauer darum, vieles in seiner reinen Form nicht noch länger genießen zu können. Mit der atemberaubenden Isabelle Adjani (SUBWAY, DIE BARTHOLOMÄUSNACHT) als Hauptdarstellerin, Co Produzentin und „Mutter“ dieses bewusst sperrig und „unfertig“ inszenierten Kunstwerks auf Leinwand, sehen wir ein Künstlerportrait, was den Namen auch wirklich verdient.

Die Kunst ist weiblich

Im Deutschen heißt es „die“ Kunst. Nicht umsonst schreibt man gerade bei Kindern eher Mädchen ein kreatives Streben zu. Auch in der Kunst selbst wird oft eine Frau als Repräsentantin für das Künstlerische im Leben dargestellt. Diese oft als Musen bezeichneten Wesen entspringen der griechischen Antike, der Wiege unserer westlichen Kultur. In ihr wird die Kunst gar durch die Göttin Athene personifiziert. Das Weibliche ist also immer schon Teil, wenn nicht sogar Ursprung jeden kreativen Schaffens gewesen. Warum dann fast ausschließlich Männer die bildende Kunst über nahezu 3000 Jahre in der öffentlichen Wahrnehmung geprägt haben, liegt vor allem an der sozialen Rolle, die man Frauen grundsätzlich zugestand. Um große Kunst zu schaffen bedarf es neben Inspiration auch einer gewissen Handfertigkeit. Diese wurde früh durch Meister an zumeist männliche Schüler weitergegeben, die sich a) eine solche Ausbildung leisten konnten und b) zu einer solchen überhaupt zugelassen wurden, sei es von Seiten der Schule selbst oder den Familien aus der sie stammten. Den wenigsten Frauen war also, unabhängig von ihrer Begabung, ein solcher Weg überhaupt möglich. So haben letztendlich nur sehr wenige im allgemeinen Gedächtnis der bildenden Kunst überleben können.

Dieser etwas ausführlichere Einstieg ist wichtig, um der historischen Figur Camille Claudel und ihrer filmischen Entsprechung durch eine der größten Actricen des europäischen Kinos folgen zu können. Isabelle Adjani auf den Spuren von …

Camille Claudel (1988)
© Arthaus

Camille Claudel (1864-1943)

Camille wurde als älteste von drei Geschwistern in eine sehr wohlhabende, französische Familie hineingeboren. Sehr früh schon entwickelte sie ein freigeistig kreatives Streben über ihre soziale Rolle als Frau hinaus. Während sie damit auf eine fast schon krankhafte Zurückweisung ihrer Mutter stieß, erfuhr sie durch ihren Vater das genaue Gegenteil. Als würde er ihr die von ihrer Mutter zeitlebens verwehrte Liebe zusätzlich ausgleichen wollen, bestärkte der Vater Camille sehr früh in der Verwirklichung ihres Traums, eine erfolgreiche Bildhauerin zu werden. Überhaupt schien ihm die kreative Entfaltung seiner Kinder sehr am Herzen zu liegen. Neben der schriftstellerischen Förderung ihres Bruders, ermöglichte er Camille neben einem eigenen Atelier, auch den Besuch einer privaten Kunstschule. Da es Frauen zu der Zeit nicht gestattet war an der Pariser Kunstakademie zu studieren, war dies ein sehr ungewöhnlicher und kostenintensiver Weg für ein Mädchen des gehobenen Bürgertums. Zusammen mit einigen anderen, privilegierten Mitschülerinnen konnte sie so ihr Talent mit dem nötigen Handwerk perfektionieren.

Eine Geschichte im Dunkeln

Diese einleitenden Fakten lässt die Verfilmung nur bruchstückhaft durchscheinen. Es wirkt fast so, als solle bereits zu Anfang das Prinzip des Unfertigen etabliert werden. Viele Hintergründe für das filmische Geschehen bleiben bis zum Ende nur vage angedeutet oder vollkommen unbeleuchtet. Der Mangel an Licht spiegelt sich direkt auch in der Bildgestaltung wider. Von Kameramann Pierre Lhomme (CYRANO DE BERGERAC, 1990) in meistehrhaften Low-key-Zelluloid-Gemälden eingefangen, betreten wir ein Zeitalter natürlicher Lichtquellen. Außer Tageslicht, welches bis zur völligen Dunkelheit für die Arbeit im Atelier ausgequetscht wird, Kerzen und vereinzelten Gaslampen in den Straßen von Paris, durchschreiten wir eine diffuse Epoche in den Anfängen der Industrialisierung. Symbolisch für diesen Meilenstein in der Geschichte ragt im Hintergrund immer wieder der sich im Bau befindende Eiffelturm empor. Für sein atemberaubendes Stimmungsbild dieser Zeit erhielt Lhomme völlig zu Recht den französischen Filmpreis Cesar.

Camille Claudel (1988)
© Arthaus

Der Film

Die Handlung beginnt recht dramatisch mit der nächtlichen Suche des Bruders nach seiner Schwester. Doch Camille (Isabelle Adjani) ist weder von zu Hause weggelaufen noch einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Sie sammelt bei Eiseskälte in einer Baugrube nach dem passenden Lehm für ihre nächste Plastik. Direkt aus der Nacht in ihr Atelier kommend nutzt sie, zusammen mit ihrem männlichen Model, einem älteren Mann der Straße, die ersten Strahlen des Morgens für ihre expressive Kunst. Hier zeigt sich bereits der Grundcharakter der Hauptfigur. Immer auf ihr Werk konzentriert sind ihr äußerliche Dinge, wie saubere Kleider, Pünktlichkeit im Elternhaus und andere Zeichen des Bürgertums völlig unwichtig. Doch gerade darin zeigt sich ihre wahre Schönheit. Sie ist ganz bei sich und treu zu ihren Träumen.

Die Begegnung mit Auguste Rodin (Gerard Depardieu) wird sie dann auch in andere Gefühlsebenen führen. Hier wird aus dem nur seiner Kunst verschriebenen Mädchen langsam eine sinnlich liebende Frau, die sich zu spät ihrer emotionalen und kreativen Abhängigkeit von ihrem Liebhaber und Mentor bewusst wird. Mit ihrer Liebe zum Überkünstler, der offen ihr Talent bewundert und ihr gesteht, nicht zu wissen, ob er mehr die Frau oder die Künstlerin liebe, gerät sie in ein emotionales Labyrinth aus kreativer Leidenschaft und selbstzerstörerischer Emanzipation.

Auch hier treffen wir wieder auf das Prinzip des Unfertigen. Ihre Beziehung darf für Rodin nie offiziell nach außen gelebt werden, denn er ist bereits in einer langjährigen Beziehung zu einer anderen Frau, von der er nicht nur finanziell abhängig zu sein scheint. Zwar arbeitet Camille mit Rodin an seinen größten Auftragsarbeiten (Das Höllentor, Die Bürger von Calais), stellt aber dadurch ihr eigenes Schaffen zurück. So findet keins ihrer emotionalen Projekte zu einem wirklichen Abschluss. Ihre Liebe bleibt letztendlich unerfüllt und ihr eigenes Werk kann sich nicht vollends entfalten. Dies ruft bei ihrer Familie Sorgen um ihr Seelenheil hervor, was zu weiteren Konflikten in Camilles Leben führt. Überfordert von den ihr zugedachten Rollen und den eigenen Ansprüchen an sich selbst, verliert sie sich am Ende in ihrer ganz eigenen Welt, in die ihr keiner mehr folgen möchte. Selbst zwischenzeitliche Erfolge können ihr Abgleiten in psychotische Abgründe nicht mehr verhindern.

In CAMILLE CLAUDEL erleben wir zwei Komponenten eines Scheiterns. Zum einen die nicht realisierbare Emanzipation einer Frau von den Fesseln einer von Männern dominierten Gesellschaft. Darüber hinaus werden wir Zeuge des qualvollen Ringens eines kreativen Menschen um wahrhaftige Kunst. Dieses unbedingte Erreichen des „richtigen“ Ausdrucks und die Anerkennung für das eigenen Werk scheinen unvereinbar mit Familienglück und erfüllender Liebe zu einem anderen Menschen zu sein. Diese Unvereinbarkeit führt dann zwangsläufig in einen Zustand lethargischen Leerlaufs, den die meisten Außenstehenden dann gerne als Wahnsinn bezeichnen möchten. So wird auch Camille am Ende zu einer sozialen Aussätzigen, der man keinen Platz in der Gesellschaft mehr zugesteht.

Camille Claudel (1988)
© Arthaus

Isabelle Claudel

Unabhängig davon, dass Isabelle Adjani diesen Film unbedingt machen wollte und alles dafür tat, dass am Ende die richtigen Leute an Bord waren, ist sie die perfekte Besetzung für diese faszinierende Künstlerin. Ihre unfassbare Schönheit durchstrahlt jede noch so dunkle Einstellung und jedes noch so dreckverschmierte Make-Up. Dies wird zwar historisch gerade der älteren Camille Claudel nicht mehr gerecht, macht aber ihre standhaft gelebte Liebe zu ihrer Kunst bis zum bitteren Ende sichtbar. Mit ihrer alabasterweißen Haut wird sie fast zu einer aus sich selbst gemeißelten Marmorstatue. Sie und ihr Werk werden dadurch eins. Doch auch unter dieser ehrfurchtsvollen Oberfläche entsteht wahre darstellerische Schönheit. Mit jedem Atmen, jedem Gedanken, der hinter ihren strahlend blauen Augen vorbeihuscht und jeder kleinsten Neigung ihres Kopfes ist sie diese vollkommene Künstlerin zwischen Glück und Wahn. Hört man dann noch ihre Stimme im Original, wie sie zwischen verletzlich flüsternd und markant bestimmend hin und her mäandriert, möchte man seine Ehrfurcht vor diesen beiden Frauen bis weit nach dem Abspann des Films nicht mehr abstreifen. Hier werden wir Zeuge einer wahrhaftigen Symbiose zwischen Darstellerin und Figur. Dieser unbedingte Herzenswunsch, dieser in Vergessenheit geratenen Künstlerin Gesicht, Körper und Stimme zu geben ist in jeder Sekunde dieses knapp dreistündigen Werkes körperlich spürbar.

Spätestens mit dieser Darstellung hat Isabelle Adjani bewiesen, dass sie nicht nur ein Megastar auf den roten Teppichen des europäischen Kinos war – ja das war sie wirklich – sondern eine wahrhaftige Schauspielerin vom Schlag einer Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, oder Jeanne Moreau. Ihr anfänglich jugendlicher Sturm und Drang, ihr professionelles Arbeiten mit Lehm, Gips und Marmor, ihre ersten verliebt skeptischen Blicke auf Rodin, ihre langsame Verwandlung in eine souveräne Künstlerin, ihre persönlichen Krisen und eine finale Abrechnung mit Rodin sind Glanzlichter auf einem schauspielerischen Mammutparcours. Diese Verwandlung geht sogar so weit, dass die Figur Claudel auch immer wieder an die Darstellerin Isabelle erinnert.

Mit mondäner Sonnenbrille, wie ein Vampir den Strahlen der Sonne trotzend, erkennen wir in Camille die Adjani vor den Stufen des Palais des Festivals in Cannes, die ihre häufig entzündeten Augen vor den Blitzlichtgewittern der Film- und Boulevardpresse hinter getönten Gläsern schützen will.

Durch Camille Claudel macht Isabelle Adjani auch viel von ihren eigenen Dämonen als Schauspielerin in der Öffentlichkeit sichtbar. Mit ihrer vielleicht persönlichsten Rolle gewann sie den Silbernen Bären von Berlin, einen Cesar und erhielt ihre zweite Oscarnominierung, Die erste erhielt sie für DIE GESCHICHTE DER ADELE H (Francois Truffaut, Frankreich, 1975) für die sie als 20-jährige und derzeit jüngste Hauptdarstellerin nominiert wurde.

CAMILLE CLAUDEL ist in erster Linie Adjanis Film. Hier formt sie mit ihrer Erfahrung als erfolgreiche Theater- und Filmschauspielerin, ihrer atemberaubenden, natürlichen Schönheit, ihrer verletzlichen Künstlerseele und ihrem unnachgiebigen Einsatz als Co-Produzentin ein wahrhaftiges Künstlerportrait mit Ecken, Kanten und ganz viel aufrichtiger Liebe für eine zu Unrecht in Vergessenheit geratene Künstlerin.

Camille Claudel (1988)
© Arthaus

Gerard Rodin

Um diesen kostenintensiven Film überhaupt realisieren zu können, brauchte es neben Adjani einen starken männlichen Star in der Rolle des Rodin. Glaubt man Co-Produzent Christian Fechner (eigentlich eher für leichte Komödien mit Jean Paul Belmondo und Louis des Funes bekannt geworden) war die erfolgreiche Realisierung dieses Mammutprojekts letztendlich nur noch von ihm abhängig. Eigentlich wollte Depardieu eine längere Schaffenspause einlegen und konnte wohl nur in allerletzter Sekunde für die Rolle des übermächtigen Bildhauers gewonnen werden. Es ist fast Ironie, dass auch bei der Realisierung dieses Films letztendlich der Mann, der im Film durch seine Rolle das Leben von Camille Claudel entscheidend prägen sollte, auch für den späteren Leinwanderfolg von CAMILLE CLAUDEL entscheidend war.

Natürlich ist sein Auftritt in diesem Film allein durch seine physische Präsenz beeindruckend. Und doch spielt er hier nur die zweite Geige. Man meint in seiner Darbietung fasst die persönliche Unsicherheit des Darstellers im Angesicht der Naturgewalt Isabelle Adjani zu erkennen. Sein Spiel wirkt fast schüchtern verhalten, als fühle er sich mit der ihm zugedachten Rolle nicht wirklich wohl. Das passt natürlich zur Figur, ist aber auch ein Indiz dafür, wer hier mit wirklichem Herzblut agierte.

Bruno Nuytten

Neben Isabelle Adjani ist Regisseur und Drehbuchautor Bruno Nuytten Gestalter und Motor dieses Films. Mit seiner ersten Regiearbeit bewies er durch CAMILLE CLAUDEL zwei Dinge. Zum einen seine Liebe zu seiner damaligen Lebensgefährtin Isabelle Adjani, die zu der Zeit niemanden außer ihm für ihr Herzensprojekt begeistern konnte. Zum zweiten zeigte er hier seine ganze Profession als bereits zweifach Cesar prämierter Kameramann. Als einer der besten seines Fachs verstand er gerade in der Zusammenarbeit mit Chefkameramann Piere Lhomme und der Gestaltung der imposanten Filmsets sein Gespür für die Komposition authentisch und zugleich kunstvoll wirkender Filmbilder. Gerade sein Blick in die damalige Künstlerszene transportiert die Kraft aufopferungsvollen Arbeitens in dämmrig kalten Ateliers. Hier bringt er auch ganz viel von sich selbst mit ein. Als ehemaliger Kunststudent weiß er Orte und Objekte dieser Zeit ins rechte Licht zu rücken und fast körperlich erfahrbar zu machen. Durch ihn begeben wir uns auf eine spürbare Zeitreise ins ausgehende 19. Jahrhundert.

Camille Claudel (1988)
© Arthaus

Die Inszenierung

Einziger Schwachpunkt seiner Inszenierung ist die nicht immer homogene Gewichtung seiner Darsteller im finalen Schnitt. Durch das Drehen mit bis zu 3 Kameras gleichzeitig wollte er zwar die Magie einer Szene in ihrer Gänze auf Zelluloid bannen, lief dann aber paradoxerweise Gefahr, zu sehr von den jeweils eher starren Blickwinkeln abhängig zu sein. So musste er am Ende wahrscheinlich doch mehr schneiden, als er es ursprünglich geplant hatte. Dadurch verlieren wir gerade Adjani immer wieder aus dem Bild und dürfen sie tatsächlich nur in ganz wenigen Szenen in einem längeren Close Up bewundern. Gerade ihr Spiel hätte mehr ungeschnitten Großaufnahmen verdient. Dass dennoch so viel von ihrer Kraft und der Energie der einzelnen Szenen übrig bleibt, ist letztendlich ein weiterer Beweis für die ungebremste Kraft des filmisch umgesetzten Non Finito Prinzips. Hier wirkt das Unfertige tatsächlich so stark nach, dass wir uns am Ende unser eigenes Bild nachgestalten, weil uns das bruchstückhaft Gesehene einfach nicht genügen will. Eine im Profil gefilmte, oft komplett im Dunkeln agierende Adjani ist zum einen kraftvoll genug, um ihre Energie auch so zu transportieren, zum anderen entspricht diese Bildsprache auch genau den profil- und schattenbetonten Plastiken Rodins und Claudels.

Das Drehbuch

Die ursprünglich als Monster bezeichnete, fast 400 Seiten umfassende, erste Drehbuchfassung, spiegelt sich in ihrer überbordenden Ausrichtung auch in der filmischen Endversion wider. Oft fehlt der eindeutige Fokus auf seine Geschichte. Auch die weitestgehend unkommentierten Zeitsprünge sorgen für eine gewisse Haltlosigkeit innerhalb der über mehrere Jahrzehnte erzählten Geschichte. Viele Wendungen sind ohne Vorwissen, um die realen Geschehnisse schwer nachvollziehbar. Tatsächlich soll die finale Kinoversion ein Kompromiss zwischen der wesentlich runderen Endfassung des Kinodrehbuchs und der noch längeren TV-Auswertung des von vornherein für beide Medien zweigleisig konzipierten Projekts gewesen sein. Eine dritte Schnittfassung soll bis heute in verschlossenen Filmdosen ihr Geheimnis um eine wesentlich stimmigere Gewichtung der Geschichte bewahren. Und doch ist das was vom Tage übrig blieb ein beeindruckendes Zeugnis für ein heute kaum noch vorstellbares Filmemachen.

Camille Claudel (1988)
© Arthaus

Die Musik

Seele und betörend dahinfließender Herzschlag des Films ist die elegische Filmmusik von Gabriel Yared (DER ENGLISCHE PATIENT, DAS LEBEN DER ANDEREN) im Stil der Spätromantik. Mit einem bis zu 90-köpfigen Streicherensemble folgt er musikalischen Vorbildern wie Gustav Mahler, Richard Strauss und Arnold Schönberg kontrapunktisch in die klassische Moderne. Sein konzertanter Ansatz lässt seine musikalische Interpretation des künstlerischen Schaffens der beiden Jahrhundert-Bildhauer eher nach einer adaptierten Symphonie, als nach herkömmlich kommentierender Filmmusik klingen. Das gibt dem Film eine durchgehend erhabene Grundtonalität, die sich wie ein edler Teppich unter die kunstvollen Bilder legt. Mit seiner wohl anspruchsvollsten Filmkomposition fügt der gebürtige Libanese der prunkvollen Ausstattung, den edlen Kostümen und dem expressionistisch atmenden Look der Bilder ein weiteres, kunstvolles Highlight hinzu.

Die Blu-ray

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Mit der Camille Claudel / 30th Anniversary Edition Heimkino Veröffentlichung macht Arthaus sehr vieles richtig. Zum einen ist es ein Genuss dieses breit atmend gemalte Filmwerk in weitestgehend natürlich abgetasteter Form wieder entdecken zu dürfen. Der heutige Eindruck steht dem damaligen Kinoerlebnis lediglich in Bezug auf die Größe der Bilder nach. Die filigrane Lichtstimmung wird sehr gut erfahrbar gemacht, gerade weil hier die bewusst komponierte Dunkelheit nicht künstlich aufgehellt wurde. So dürfen wir tatsächlich ein wenig das Gefühl haben an echtem Zelluloid riechen zu dürfen.

Zwei sehr informative Dokus, eine aus dem Off gesprochene Erinnerung des Regisseurs zu Szenen des Films und einem hoch interessanten Interview mit Co-Produzent Christian Fechner runden diese kunstvolle Neuveröffentlichung ab.

Als einzigen Wermutstropfen könnte man das Fehlen der vierstündigen TV-Version auf der Blu-ray als weiteres Extra bemängeln. Von der als verschollen geltenden Ur-Schnittversion möchte ich gar nicht erst anfangen. Das wäre zum 30-jährigen Jubiläum ein angemessenes Extra gewesen.

Fazit

So bleibt am Ende sogar bei der digitalen Veröffentlichung der Eindruck des Unfertigen im Raume zurück. Vielleicht ist das nur konsequent im Sinne der Künstler in diesem meisterhaft erarbeiteten Filmerlebnis.

© Andreas Ullrich

Titel, Cast und CrewCamille Claudel (1988)
Poster
Releaseab dem 09.05.2019 auf Blu-ray

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RegisseurBruno Nuytten
Trailer
BesetzungIsabelle Adjani (Camille Claudel)
Gérard Depardieu (Auguste Rodin)
Madeleine Robinson (Louise-Athanaise Claudel)
Roger Planchon (Morhardt)
Alain Cuny (Louis-Prosper Claudel)
Katrine Boorman (Jessie Lipscomb)
DrehbuchBruno Nuytten
Marilyn Goldin
Misa Terami
KameraPierre Lhomme
MusikGabriel Yared
SchnittJoëlle Hache
Jeanne Kef
Filmlänge175 Minuten
FSKab 16 Jahren

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