„Beruf Mörder“
„Es ist nicht wirklich das Genre, das mich interessiert, sondern eher die Figur des Gangsters oder Killers. Diese Figuren, die zwischen Leben und Tod wandeln, sind wesentlich interessanter als reale Personen.“ – Seijun Suzuki
Japanese Society
#Japanuary. Jedes Jahr, also auch nächstes, so hoffe ich doch, streuen wir mit einer Handvoll Filmtitel Geschmackspunkte des kulturell so bedeutenden Landes Japan. Dabei gibt es noch so vieles (wieder) zu entdecken. Vielleicht stets gern abseits des Kanons. Anime und Kaiju-Filme sind und bleiben seit über zwei Jahrzehnten auch im Westen enorm populär und mindestens einen Film der Herren Akira Kurosawa, Kenji Mizugochi und Yasujirō Ozu hat wohl jeder schon gesehen. Mich interessierte Japan schon immer. Im Anime-Seminar der Filmwissenschaft lernten wir zudem gehörig über die Struktur und Geschichte der Gesellschaft, lasen auch Takeo Doi und Mikiso Hane und schauten Ozus meisterlichen TŌKYŌ MONOGATARI (DIE REISE NACH TOKYO, 1953), international ein Paradestück des Kinos über die Bedeutung von Familie, über Bindung und Loslösung, über das zwangsläufige Wechselspiel von Tradition und Moderne. Vor zehn Jahren bekam ich eine Ahnung, ein seichtes Gefühl, wie facettenreich, unentdeckt und wichtig das Japanische Kino, die Kultur des Landes im Allgemeinen ist.
Viele wichtige Regisseure sind noch heute unentdeckt und es ist mit diesem Titel BRANDED TO KILL von Seijun Suzuki tatsächlich ein international mittlerweile sehr populärer Titel, der den damals künstlerischen Höhepunkt seines über-kreativen Schöpfers darstellt. (Dank geht an Rapid Eye Movies für die Bereitstellung der Blu-ray, die erstmals 2014 in Deutschland erhältlich gemacht wurde.)
Seijun Suzuki
Um in aller Kürze zu verstehen, wie relevant Suzuki für das Japanische Kino über 50 Jahre war (mit einer längeren Pause in den 1970ern), darf man flüchtig und unkompliziert auf John Woo blicken. Seine Filme mit Chow Yun-Fat in den Hauptrollen brachten den japanischen Gangsterfilm Ende der 1980er/Anfang der 1990er international ganz groß raus. Der künstlerische und kommerzielle Erfolg gab ihm Recht, legte aber auch wieder die Sicht auf seine eigenen Einflüsse frei: die zwei heute Bekannten – und es gibt noch viele weitere, die wieder bekannt gemacht werden sollten – sind Kinji Fukasaku und der hier besprochene Suzuki. Im Gegensatz zu Fukasaku, der die meiste Zeit erfolgreich für ein Studio (Tōei) arbeitete, war Suzuki lange Zeit für die konkurrierende Nikkatsu unter Vertrag.
„Während Fukasaku stets ein scharfsinniger kommerzieller Filmemacher war, machte sich Suzuki einen Namen als Anarchist.“ (aus Galbraith / Duncan: Japanese Cinema, 2009, S. 113f.)
Von 1956 bis 1967 entwickelte Suzuki enorm viel persönlichen, visuell-erzählerischen Stil für sein Kino. Angefangen bei MINATO NO KANPAI: SHŌRI O WAGA TE NI (VICTORY IS MINE, 1956), einem gut einstündigen B-Film, der als überlanges Musikvideo durchgeht, drehte er jährlich bis 1966 mindestens drei Filme. 1961 waren es sechs. Durch dieses hohe Pensum ließ er sich aber nicht in eine künstlerische Sackgasse lenken, sondern entwickelte quasi von Film zu Film seinen Stil weiter. Auch wenn ihm viele Auftragsarbeiten für Nikkatsu keine besondere Freude bereiteten, blieb er selbst Künstler. Zu nennen sind auf jeden Fall NIKUTAI NO MON (ZUFLUCHT DER SIRENEN, 1964) und TŌKYŌ NAGAREMONO (ABRECHNUNG IN TOKIO, 1966). Diese beiden Filme, die ebenfalls zu den bekannteren des Machers zählen, bleiben handwerklich sehr gut gemacht, sind streng genommen jedoch keine absoluten Ausnahmewerke. Wie bereits angemerkt, gilt es noch, weitere japanische Regisseure dieser Epoche wieder zu entdecken, denn auch sie boten Kreatives, auch sie waren ähnlich mutig. Der letzte Satz soll keineswegs Suzukis künstlerische Qualität schmälern, nur war er eben nicht der Einzige. Eher Einzigartig bleibt dieser Film hier, Suzukis Zenit BRANDED TO KILL.
Ein europäischer Japaner?
BRANDED TO KILL bleibt nachweislich durch das Kino der Nouvelle Vague beeinflusst. Er lässt sich keinem klaren Genre zuordnen, nicht einmal innerhalb der damals immer freier gelegten Grenzen innerhalb der Nikkatsu-Actionfilme, die bereits konsequent auf traditionelle Figuren wie Yakuza oder Samurai verzichteten. (An dieser Stelle empfehle ich den fachkundigen und gut zu lesenden Booklet-Text von Tom Mes in der hiesigen Edition.) Suzuki interessierte sich im Fortlauf seiner zehnjährigen Hochphase immer weniger für eine klar erzählte Geschichte bzw. verständliche Beweggründe seiner Figuren. In der Figur des Gangsters/Killers sah er vielmehr eine Möglichkeit, auch formal die erzählerischen Barrikaden des Kinos zu durchbrechen, da dessen Motivationen und Handlungen höchst beliebig geraten konnten. Das vollbrachte zuvor bereits Jean-Luc Godard etwa in BANDE À PART (DIE AUSSENSEITERBANDE, 1964), wenn er sich in parodistischer Form der amerikanischen Pulp-Kultur und dem B-Movie widmete und resultierend „Schund in Kunst“ verwandelte (Cinema).
Suzuki geht mit BRANDED TO KILL ähnlich vor. Die Handlung ist per se schlicht und konzentriert, gerät in formaler Komplexität jedoch zu purer Bewegung, zu reinem Actionkino, das keine bekannten Emotionen zulässt. Dynamische, rasante Bewegungen werden oftmals noch durch verkürzende Schnitte überhöht. Verfolgungsjagden per Auto oder zu Fuß (in und außerhalb von Gebäuden) geraten entlang regelmäßig vertauschter Richtungslinien zu einer wahren visuellen Tour de force. Ohne die filmischen Mittel wie Einstellungsgrößen, Kamerabewegung und Schnitt bliebe die Bewegungschoreographie überschaubar und banal, aber Suzukis handwerkliches Können mixt daraus eine wahre Achterbahn – ein unberechenbares Kaleidoskop, das den Zuschauer noch durch die stilsicheren Schwarz-Weiß-Bilder hindurch berauschende Regenbögen zu sehen glauben lässt.
Simplizität und Exzentrik
Die „Story“ ist simpel und hier im offiziellen Rückentext zusammengefasst: „Schießereien, präzise Auftragsmorde: Hanada (Jō Shishido) führt ein aufregendes Leben. Er liebt seine Frau und den Duft von kochendem Reis. Er ist einer der besten Killer – Killer No. 3, um genau zu sein. Doch eines Tages tritt die mysteriöse Misako (Mari Annu) in Hanadas Leben und erteilt ihm einen fatalen Auftrag. Hanadas Albtraum beginnt: Er versagt und das Opfer überlebt. Nun ist ihm sein eigenes Syndikat auf den Fersen […] und Killer No. 1 fordert ihn zu einem Zweikampf auf Leben und Tod…“ (© Rapid Eye Movies).
Diese arg geskriptete Füllung von BRANDED TO KILL wird von ungleich kreativeren und aussagekräftigeren Bildern flankiert. Einstellungen, die man sich regelmäßig auf Hochglanzpapier drucken und an die Wand rahmen möchte. Etwa eine Einstellung nach dem ersten Drittel des Films: von leicht schräg unten-links vor einem straßenbreiten, äußeren Treppenabgang eines Gebäudekomplexes. Hanada steht unten, bereits vollständig um die Ecke des Treppenfußes verschwunden, unsichtbar für seine Gesprächspartnerin Misako, deren Gestalt und Kleidung etwa zwanzig Meter weiter oben zwischen den Mustern der Architektur verschmilzt. Doch die beiden reden miteinander, als stünden sich direkt gegenüber. Es sind solch exzentrische Bildkompositionen, die BRANDED TO KILL einzigartig machen und durchgängig dessen gewollten Wechsel in Stimmung und Tempo intonieren. Es scheint die Bedeutung des Individuums an einem besonderen Zeitpunkt des Japanischen Kinos die entscheidende Rolle zu spielen. Wenn in den meisten anderen japanischen Filmen der traditionelle Bezug, auch zur Gesellschaftskultur, stets spürbar ist, hat Suzuki mit BRANDED TO KILL einzig Eigensinn und Einzigartigkeit im Blick. Es ist vielleicht seine persönliche, grundlegende Abgrenzung von der japanischen Kultur per se, die bereits am Beispiel der sprachlichen Grundformen der dortigen Anrede erkennbar wird, die im krassen Gegensatz zu denen westlicher Kulturen steht. So lernen Kinder in Japan in der Grundschule mindestens fünf bis sechs unpersönliche Anreden, das eigene „Ich“ meist außen vor (vgl. Smith, 1983, S. 68f.). Es geht um die systematische Ein- oder – stärker – Unterordnung innerhalb der Gesellschaft, während in der englischen Sprache konsequent vom direkten Bezug zwischen „Du“ und „Ich“ die Rede ist, was nicht einmal das sachlich-deutsche „Sie“ benötigt.
Handeln viele Filme Japans, besonders diejenigen Kurosawas oder anderer gefeierter Macher, häufig vom soziopolitisch Gesamten, von einem Gesellschaftsbild (siehe auch Fukasakus spätes Meisterwerk BATORU ROWAIARU / BATTLE ROYALE, 2000) und der Funktion des Einzelnen in dieser Sozietät, dann durchbrechen Suzukis Protagonisten überbetont und ekstatisch jegliches Regelgefüge. Ordnung und Muster scheinen bei ihm völlig abwesend. BRANDED TO KILL ist einer der besonderen Vertreter der japanischen Filmkultur, die jegliche Tradition und Festigung, die dem Land so inhärent sind, brutal wegschießen und die pure Individualität preisen. Eine wahre Erfahrung für Anhänger des Japanischen Kinos. Eine klare Empfehlung.
Suzukis BRANDED TO KILL war so radikal, übertrumpfte seine vorhergehenden Filme in einem solchen Maße, dass er von Nikkatsu gefeuert wurde, daraufhin eine Klage anstrebte und erst wieder Ende der 1970er Fuß fassen konnte. Er starb vor ziemlich genau zwei Jahren, am 13. Februar 2017 mit ehrenhaften 93 Jahren. In den 25 Jahren zwischen 1980 und 2005 dreht er insgesamt nur noch sieben Langspielfilme. Das schaffte er früher ganz gut in zwei Jahren.
Literatur-Quellen:
- Robert J. Smith (1983). Japanese Society. Tradition, Self and the Social Order. Cambridge University Press.
- Stuart Galbraith IV. / Paul Duncan (2009). Japanese Cinema. Taschen.
- Tom Mes (2014). Branded to Kill oder: Die filmische Identität. Booklet-Text zu Branded to Kill, Rapid Eye Movies.
Titel, Cast und Crew | Branded to Kill (1967) OT: Koroshi no rakuin |
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Poster | |
Release | ab dem 07.11.2014 auf Blu-ray erhältlich Bei Amazon kaufen (Affiliate Link) |
Regisseur | Seijun Suzuki |
Trailer | |
Darsteller | Jô Shishido (Gorô Hanada) Mariko Ogawa (Mami Hanada) Annu Mari (Misako Nakajô) Kôji Nanbara (No. 1) Isao Tamagawa (Michihiko Yabuhara) Hiroshi Minami (Gihei Kasuga) |
Drehbuch | Hachiro Guryu Mitsutoshi Ishigami Takeo Kimura Chûsei Sone Atsushi Yamatoya |
Musik | Naozumi Yamamoto |
Kamera | Kazue Nagatsuka |
Schnitt | Akira Suzuki |
Filmlänge | 91 Minuten |
FSK | ab 16 Jahren |
Liebt Filme und die Bücher dazu / Liest, erzählt und schreibt gern / Schaltet oft sein Handy aus, nicht nur im Kino / Träumt vom neuen Wohnzimmer / Und davon, mal am Meer zu wohnen
„Reis gibt’s im Reisladen.“