„Existenzielle Liebe“
Der Kampf gegen die eigene Natur ist ein langwieriger Prozess. Jahrhunderte der Zivilisation haben dem Menschen seine animalischen Instinkte ausgetrieben. Von wegen, auch heute noch ist der Mensch ein Lebewesen, das um sein Leben kämpft, sich fortpflanzen will und fressen muss. BONES AND ALL will als ein poetisches Liebesdrama gesehen werden, ist aber ein Raubtier von einem Film, welches immer wieder um Aufmerksamkeit für seine blutigen Szenen giert. Überrascht, dass der neuste Film von Regisseur Luca Guadagnino (CALL ME BY YOUR NAME) und mit Teenager-Liebling Timothée Chalamet (DUNE, LADY BIRD) in einer der Hauptrollen so bissig ist? Eine Warnung sei hiermit ausgesprochen, dass man BONES AND ALL nicht als das zivilisiertes Liebesdrama sehen sollte, was der Inhaltstext uns glauben lassen mag. Filme wie THE GIRL WITH ALL THE GIFTS (2016) und RAW (2016) sollte man mit starkem Magen gesehen haben und abstrahieren können, um diese Tour de Force mit etwas Lebensfreude durchzustehen.
Handlung
Die Achtzigerjahre im mittleren Westen der USA. Maren (Taylor Russell) ist keine normale Teenagerin an der High School. Immer wieder überkommt sie der Trieb Menschenfleisch zu essen, roh und am besten frisch. Ihr Vater Francis (André Holland) verlässt nach jedem dieser „Vorfälle“ zusammen mit seiner Tochter die Stadt. Doch es kommt der Punkt, an dem seine Vaterliebe nicht mehr reicht. Er flieht vor seiner Tochter und hinterlässt ihr eine Kassette, auf der er von Marens blutiger Kindheit erzählt. Maren steigt in den nächsten Bus und will ihre leibliche Mutter finden. Auf ihrem Weg trifft sie auf Sully (Mark Rylance), der sich als erfahrener „Eater“ vorstellt. Doch Maren ignoriert die väterlichen Hinweise von Sully, zieht weiter und findet ihrer erste große Liebe: Lee (Timothée Chalamet). Er ist ein Sonderling wie sie und verbirgt ebenfalls eine dunkle Familiengeschichte.
Zwei Herzen in einer Brust
Ich habe mich bewusst dazu entschieden, das Thema Kannibalismus in dieser Review ohne Spoilerwarnung zu erwähnen, denn man muss das vorher wissen. Nicht jeder will gern einen schönen Abend am Strand verbringen und auf einmal in einem Schlamm-Ringkampf um sein Leben kämpfen. BONES AND ALL ist jedoch viel mehr als seine animalischen Momente, auch wenn diese einen weiten, dunklen Schatten werfen. Er ist vor allem eine Liebesgeschichte, ein Coming-Of-Age-Drama und – dazu später mehr – ein Generationsportrait. Nach dem Sehen stehe ich aber immer noch ratlos vor der Frage, ob BONES AND ALL nun ein guter oder ein schlechter Film ist. Vielleicht ist er einfach beides: emotionale Filmkunst und aufdringlicher Schocker zugleich. Denn die größte Schwäche ist seine Geschichte und da war wenig Spielraum, denn sie basiert auf dem Jugendroman „Bones & All“ von Camille DeAngelis – aber auch dazu später mehr im Interpretationsversuch.
Zuallererst die gute Nachricht: BONES AND ALL ist ein handwerklich herausragender Film. Die Inszenierung von Luca Guadagnino ist aufmerksam, frisch und treffsicher. Seine Schauspieler setzt er hervorragend ein, lässt ihnen Raum zu agieren und spontane Momente dürfen im Endschnitt verbleiben. Timothée Chalamet bringt selbst in den abgerocktesten Klamotten Stil auf die Bühne und Emotionen auf die Leinwand. Mark Rylance darf sich in einer seiner widerlichsten und spleenigsten Rollen geben. Michael Stuhlbarg (THE SHAPE OF WATER, A SERIOUS MAN) taucht wie ein schamanischer Teufel in den Wäldern mit schmieriger Latzhose und seltsamen Assistenten auf und erklärt den Filmtitel. Aber alle sind nichts im Vergleich zur fantastischen Taylor Russell, der man immer wieder ihre Taten verzeiht und ihren inneren Kampf mit der eigenen Moral permanent spürt. Die wundervollen poetischen Roadmovie-Bilder von Kameramann Arseni Khachaturan fusionieren harmonisch mit den Gitarrensaiten aus dem Hause von Trent Reznor und Atticus Ross. Man kann es nicht anders sagen, die filmischen Elemente lassen das Herz höherschlagen.
Blutbad
Das friedfertige Filmherz kommt aber immer wieder ins Stocken, wenn es seine Emotionen von einem Moment auf den nächsten auf links drehen muss. BONES AND ALL versteckt sich nicht und bricht gleich zu Beginn mit seinen gewalttätigen Momenten über uns herein. Wenn man seine Seele in einem dunklen Kinosaal vertrauensvoll für zwei Stunden in die Hände eines Films legt, können Menschenfresser einem verletzlich zusetzen. Man verteidigt sich und wird unweigerlich in die Rolle des Vaters von Maren gedrängt, der seine Tochter innig liebt, aber es mit dem brutalen Wesen nicht mehr aushält. Den Film will man lieben, aber sein brutales Wesen bringt einen um den Verstand.
Das bringt uns zu der Frage, warum muss es Kannibalismus sein? Kunst kann natürlich vieles sein und muss sich auch nicht rechtfertigen, aber – und das gilt für mich – Kunst muss mir etwas vermitteln, auf gefühlvolle Weise, was den Blick auf die Welt erweitert oder fokussiert. Maren und Lee hätten auch raubend und mordend durch die USA streifen können. Auf der Suche nach Ruhm und viel Geld, wäre das auch eine Art der Rebellion gewesen. Doch die Autorin der Buchvorlage entschied sich für etwas Triebhaftes. Die erste Interpretationsebene könnte sein, einfach mit dem Fleisch essen aufzuhören und der Film gibt wahrlich alles, um sich vorzustellen, wie sorgenfrei man ohne Fleischkonsum leben kann. Aber dieser Aspekt ist zu einfach, passt nicht annähernd zur Liebesgeschichte. Vielleicht ist da noch mehr?
In der Filmmitte konnte sich für mich so etwas wie ein Zugang öffnen. Maren macht die traurige Bekanntschaft mit ihrer Mutter und in diesem Moment zeigt sich BONES AND ALL als Generationskonflikt. Die Kinder – Lee und Maren – müssen nicht nur gegen ihre Natur ankämpfen, sondern sie müssen auch die Traumata mit ihren Eltern überwinden. Beide Familien versagen und das nicht nur wegen der bevorzugten Speisekarte der Kinder. Die Bilder zeigen das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ als eine Müllhalde voller Armut. Dreckige Behausungen, pechschwarzer kalter Kaffee und leblose Ortschaften zeigen eine dystopische Welt, in die sie hineingeboren wurden und in der sie zurechtkommen müssen. Die Liebe hilft ihnen dabei, aber das Ende ist leider so unzugänglich für diesen Interpretationsversuch, dass man, wie die vielen Male vorher, erneut vor den Kopf gestoßen wird.
Fazit: Entscheide Dich!
Vielleicht stellt uns BONES AND ALL die Frage, an was wir uns erinnern wollen? Wollen wir uns für die schönen Momente entscheiden, die voller Freiheit, mit New Order’s „Your Silent Face“ auf den Ohren, der leeren Landstraße vor einem und dem Regen im Rückspiegel. Oder denkt man an das Blut, den Zwang zu morden und die ungerechte Welt, in der die junge Liebe verwelken wird. Eine Gefühlsachterbahn ohne Sicherheitsbügel und voller Herausforderungen an sein Publikum.
Titel, Cast und Crew | Bones and All (2022) |
Poster | |
Regie | Luca Guadagnino |
Release | Kinostart: 24.11.2022 |
Trailer | |
Besetzung | Taylor Russell (Maren Yearly) Timothée Chalamet (Lee) Mark Rylance (Sully) Michael Stuhlbarg (Jake) David Gordon Green (Brad) André Holland (Marens Vater) Jake Horowitz (Lance) Chloë Sevigny (Marens Mutter) |
Drehbuch | David Kajganich |
Kamera | Arseni Khachaturan |
Musik | Trenz Reznor und Atticus Ross |
Schnitt | Marco Costa |
Filmlänge | 131 Minuten |
FSK | Ab 16 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter