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Bird (2024) – Filmkritik

Zu behaupten, dass Bailey in BIRD in prekären Verhältnissen aufwächst, wäre eine geschönte Umschreibung. Sie lebt in einer Welt jenseits von Schule und Arbeit, eigentlich auch der Zivilisation. Und das mitten in einem englischen Hafenstädtchen, in besetzten Häusern, die immer mehr verkommen. Hier setzen sich scheinbar nur die Aggressiven durch, man errichtet sein persönliches Rechtssystem. Und jetzt will Baileys Vater auch noch seine neue Freundin heiraten!

Andrea Arnold kann man mit Fug und Recht als Erbin von Ken Loach bezeichnen, des Altmeisters des englischen „kitchen sink“ Sozialdramas. Sie führt seine Tradition des ungeschönten, direkten, aber nie belehrenden oder niederdrückenden Kinos in die aktuelle Zeit, obwohl auch sie inzwischen schon über 60 Jahre alt ist. Sie ist selbst die Tochter einer alleinerziehenden Mutter aus der Arbeiterklasse mit drei Geschwistern. Ihre Filme mögen manchmal ein wenig forciert wirken, aber man merkt, dass sie es ernst meint und nicht als Show.

Ihr neuer Film trägt mal wieder einen kurzen Titel, der mehrfach widergespiegelt wird: Bird heißt auch ein Vagabund, der durch die Ortschaft geistert. Diese Figur ist neu in ihrem Werk, anders als die anderen nicht dem grimmigen Realismus unterworfen, traumhaft. Andrea Arnold hat Franz Rogowski eine tolle Rolle geschenkt, die sie wahrscheinlich extra für ihn geschrieben haben dürfte.

© Atsushi Nishijima / © 2024 House Bird Limited. All rights reserved.

Baileys Vater Bug ist dagegen ein handfester Hallodri, voller Kritzel-Tattoos am Körper und Flausen im Kopf. Er ist noch so jung, dass man ihn erst eher für ihren Freund oder großen Bruder hält. Barry Keoghan spielt ihn, noch 2017 der Junge (!) in THE KILLING OF A SACRED DEER. Man kennt ihn auch aus THE BANSHEES OF INISHERIN (2022) und SALTBURN (2023). Weil er gehört hat, dass Kröten halluzinogen Substanzen absondern, hat er sich nun eine beschafft, um ins Drogengeschäft einzusteigen. Eine wunderbar irre Idee, aus der die Regisseurin viele Funken schlägt.

Die Hauptfigur ist aber Bailey. Nykiya Adams stellt ihre inneren und äußeren Kämpfe, ihr Coming-of-Age beeindruckend dar. (Generell ist unglaublich, wie natürlich die vielen Kinder und Jugendliche spielen. Das ist auch eine Meisterleistung der Regie.) Bailey ist im ersten Moment nicht ganz klar als Junge oder Mädchen identifizierbar. Sie betont so oft, kein Kind mehr zu sein, weil sie ja schon zwölf ist, dass sie sich dadurch erst recht als Kind zu erkennen gibt. Freilich wirkt sie älter, als sie ist. Sie bekommt ihre erste Periode, was zu einem Moment der Solidarität unter Frauen führt. Sie übernimmt Verantwortung für sich selbst und für andere, kümmert sich um alles und ist entsprechend streng und unnahbar. Auch dem Außenseiter Bird, der sie fasziniert, gibt sie lange Zeit grobe Antworten. Dabei versucht sie aber, ihm zu helfen, wo sie nur kann, und nimmt dafür große Mühen auf sich. Immer wieder sehen wir Rückblenden, auch auf gerade Erlebtes.

Bailey denkt darüber nach, sie verarbeitet ihre Eindrücke. Sie wird lernen, erwachsen zu werden – auch wenn das bedeutet, manchmal Abschied nehmen zu müssen oder Kleidung zu tragen, die man nicht mag.

© Atsushi Nishijima / © 2024 House Bird Limited. All rights reserved.

Bird dagegen ist eine märchenhafte Figur, und das ist immer so eine Sache, selbst bei Andrea Arnold. Sein Name erinnert an Birdman, Michael Keaton Superhelden-Dekonstruktion in Alejandro Iñárritus gleichnamigen Film. In letzter Zeit sind viele Filme mit Menschtieren ins Kino gekommen, ANIMALIA (2023) etwa, WOODWALKERS (2024) und die Reihe der SCHULE DER MAGISCHEN TIERE (seit 2021). Bird ist aber auch immer wieder sehr real. Seine Sätze sind nüchtern und präzise, er lässt sich nicht auf die üblichen Spielchen ein. Etwas seltsam ist, dass sein verschollener Vater kaum älter ist als er und einheimisches Englisch spricht, während Rogowskis Bird doch deutlichen deutschen Akzent hat. Auch wenn nicht alle Ideen mit der vage übernatürlichen Birdfigur aufgehen, tun sie es am Ende vielleicht dann doch.

Arnolds liebevoller Blick auf die Menschen und auf Details bestimmt BIRD. Ganz zu Beginn machen zwei Mädchen, die später gar nicht mehr auftauchen, einen kleinen Stepptanz über eine Brücke. Die Szenen sind oft raffiniert aufgebaut, beginnen ganz beiläufig, bis man erkennt, worum es geht. Als Bailey ihre Mutter besucht, hüpfen zwei kleine Mädchen im Garten herum und haben ihren Spaß. Warum sind sie denn nicht im Haus? „Mama ist im Bett mit ihrem neuen Freund.“ Alle haben Halbgeschwister von verschiedenen Vätern, verschiedenen Müttern, die Familienverhältnisse sind kaum zu durchschauen. Oft ist sogar unklar, wer alles in einem Haus lebt. Was bedeutet das für familiäre Gefühle und Zusammenhalt?

© Atsushi Nishijima / © 2024 House Bird Limited. All rights reserved.

Der Plot dreht sich um Selbstjustiz. Auch das wird unterschwellig eingeführt, als sie sich Bailey die Haare kurz schneiden lässt: „Are you a vigilante?“ Ein bisschen schade ist es, dass es dafür auch eine Figur gibt, die nur „böse“ ist. Aber Rache und Gewalt werden hier nicht heldenhaft gezeigt, Bailey löst damit Unheil aus. Diese Eskalation ist dann doch zu viel für sie. Sie verhält sich wie das Kind, das sie ist, schnappt sich die kleinen Geschwisterchen und geht einfach weg, an den Strand. Der Zuschauer begleitet sie, man ist beim Geschehen gar nicht dabei und vergisst es vorübergehend, genauso wie sie. Oder ist doch gar nichts Schlimmes passiert?

Erstaunlicherweise gibt es hier keinen Rassismus, die Gemeinschaft ist bunt durchmischt und hat kein Problem damit. Alle werden wahnsinnig jung Eltern, Bug  vielleicht mit 30 schon Großvater. Die heruntergerockten Häuser waren einstmals Prachtbauten mit riesigen Räumen und hohen Decken, das ist natürlich sehr telegen. Überall sind Graffiti, auch damit fängt der Film einiges an. Grandios ist der Einsatz ganz unterschiedlicher Musik. Man hört vielleicht nicht das Allermodernste, aber das passt hier. Der Höhepunkt ist sicherlich, wenn Bailey gestresst nach Haus kommt und ihr Vater gerade eine Party feiert. Alle gehen ab zu „Jolly Fucker“ von den bemerkenswerten working class Post-Punk-Rappern Sleaford Mods, brüllen den Refrain mit und singen dann etwas Rührseliges von Coldplay, damit die Kröte endlich herumschleimt.

© Atsushi Nishijima / © 2024 House Bird Limited. All rights reserved.

Andrea Arnold weiß, wie man Filme macht. Nicht ohne Grund hat sie bereits mehrere BAFTAs erhalten, einen Oscar (für WASP, 2005) und den Großen Preis der Jury in Cannes (für AMERICAN HONEY, 2016). Sie hat ihren Stoff jung und lebensnah verfilmt. Die Bilder von Yorgos Lanthimos‘ Stammkameramann Robbie Ryan sind beim Laufen manchmal zu wackelig, aber experimentierfreudig bis hin zu einem vertikalen Handy-Triptychon. Die Regisseurin dreht viele Geschlechterklischees um. Bailey ist hart, Bird sensibel und geheimnisvoll. Einem jugendlichen werdenden Vater geht die Frage, ob abgetrieben werden wird, sehr nahe. Die Prügelei im Finale hat nichts mit einem Actionfilm gemein.

Trotz aller Widrigkeiten und der völligen Perspektivlosigkeit zeigt uns Arnold lebensfrohe Menschen, nicht die üblichen Figuren aus „Problemfilmen“. (Man bekommt nebenbei auch einen neuen Blick auf die Bedeutung von E-Scootern für die Mobilität.) Freilich fragt man sich, was es für diese Leute für eine Rolle spielt, ob der verrückte Boris Johnson regiert oder der nüchterne Keir Starmer. Beim Abspann laufen Schnipsel der wirklichen Menschen vor Ort, ein bewegender Moment. Sie erden das Ganze und waren offensichtlich auch Inspiration.

© Franz Indra

Titel, Cast und CrewBird (2024)
Poster
ReleaseKinostart: 20.02.2025
RegieAndrea Arnold
Trailer
BesetzungNykiya Adams (Bailey)
Jason Buda (Hunter)
Barry Keoghan (Bug)
Franz Rogowski (Bird)
James Nelson-Joyce (Skate)
Rhys Yates (Beck)
Joanne Matthews (Debs)
Jasmine Jobson (Peyton)
Frankie Box (Kayleigh)
DrehbuchAndrea Arnold
KameraRobbie Ryan
SchnittJoe Bini
Filmlänge119 Minuten
FSKab 12 Jahren

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