Zum Inhalt springen

Berlin Visionen – Filmische Stadtbilder seit 1980 | Buchvorstellung

„Dit is Feindesland!“

Man soll ja auch bei der Konstruktion von wissenschaftlichen Werken gerne mal nach den Sternen greifen und grundsätzlich zunächst unschaffbare Aufgaben ins Blickfeld nehmen. Stefan Jung und Prof. Dr. Marcus Stiglegger haben mit BERLIN VISIONEN – FILMISCHE STADTBILDER SEIT 1980 im Herbst 2021 einen Sammelband vorgelegt, der die Faszination des Filmraumes Berlin begreifbar machen möchte. An der Aufgabe, Berlin an sich vermittelbar zu machen, ist in jüngster Vergangenheit sicherlich Helmut Dietl mit ZETTL gescheitert. Aber diesem Sammelband muss man attestieren: Der filmische Stadtführer ist geglückt. Und zwar derbe, digga, wie wir hier in Hamburg sagen würden.

„Steigt man in eines der vielen öffentlichen Verkehrsmittel ein und nach zehn Minuten wieder aus, hat man den Eindruck, in einer gänzlich anderen Stadt zu sein“, beschreibt Christoph Müller in seinem Beitrag über Sebastian Schippers VICTORIA die Bewegung durch den urbanen Raum Berlin. Unbewusst hat er damit das Credo des Buches verfasst. BERLIN VISIONEN ist nicht nur eine wilde Fahrt durch mehrere Jahrzehnte „Berlinfilm“, sondern auch ein interessanter Querschnitt kontemporärer herausragender Filmschreiber:innen, die alle ihren ganz eigenen Rhythmus und ihre unverwechselbare Stimme mitbringen. Von Michael Fleigs tiefgehender und in ihrer sprachlichen Ausgereiftheit gerne mal erschlagenden Analyse zu POSSESSION fahren wir in der BERLIN VISIONEN S-Bahn zu Sebastian Seligs nostalgischer und persönlicher Auseinandersetzung mit dem Europa Center, um dann, etwas später, bei Jochen Werners Til Schweiger-Behandlung eine teilweise zum Schreien komische Glosse vorzufinden.

POSSESSION (1981)

Für sich alleine sind schon fast alle Beiträge lesenswert (ein wenig abhängig vom Lesegenuss ist häufig die Kenntnis der behandelten Filme), aber erst durch ihre Zusammenfügung in einem dezidierten literarischen Raum entfalten sie eine fast schon transzendentale Kraft. Durch die Tatsache, dass die Autor:innen gerne untereinander auf Texte ihrer Kolleg:innen verweisen, entsteht ein faszinierendes Netz der Selbstreferenzialität. So wie Berlin eine Stadt mit Vergangenheit ist, die sie teilweise versucht aktiv zu verbauen, so werden wir als Leser:innen auch durch dieses Referenznetz daran erinnert, dass die Autor:innen mehr sind als ihre Texte, bzw. dass sich Meinungen ändern können, ja dass wissenschaftliches Arbeiten an sich nur als Kollektiv funktionieren kann, mit Bezug aufeinander.

Könnte man etwa Sebastian Seligs Beitrag AUSBLICKE VOM DACH DER WEST-BERLINER SCHNEEKUGEL für sich alleine genommen eine gewisse übermäßige Nostalgie attestieren, wird der Artikel als Teil des literarischen Raumes BERLIN VISIONEN zu einem anschaulichen Beispiel davon, wie ein reales Berlinbild nach und nach verblasste, aber durch das Kino unsterblich werden konnte.

Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981) // © EuroVideo Medien GmbH.

Wir erleben Berlin in diesem Buch als Sehnsuchtsort, als Grenzstadt, als Bewährungsprobe, als Paradies, als Lebensstationentransit, als bedrückend, ekstatisch, romantisch und tödlich. Und wenn man sich dann zwischendurch fragt, was diese BERLIN VISIONEN denn schlussendlich sind, dann fühlt man sich mehr als einmal an Monty Pythons letzten Film DER SINN DES LEBENS erinnert. Da wurde uns der titelgebende „Sinn des Lebens“ versprochen, und die griechischer Choral Fische merkten schon: „Es entwickelt sich so langsam dahin“. Die finale Antwort gab es bei Python als letzten großen Witz, bei BERLIN VISIONEN als Panorama einer Stadt, das man vielleicht nicht in Worte fassen kann, aber, und das ist die größte Leistung des Buches, doch verstanden zu haben glaubt.

BERLIN VISIONEN ist deshalb nicht nur Intellektuellen-Bespaßung, sondern lässt sich fast schon als Roman lesen, indem jeder Beitrag eine Stadtfacette mehr eröffnet. Ein wenig filmwissenschaftliche Vorbildung sollte wohl vorhanden sein (oder auch das Interesse, sich eine ebensolche anzueignen), sonst könnten ein paar der etwas theoretischen Exkurse vielleicht abschreckend wirken. Abgesehen davon: Eine lohnenswerte Lektüre, die in ihrer Gesamtheit fast schon ihre Beschaffenheit als wissenschaftliches Werk transzendiert und tatsächliche Visionen von Berlin im Kopf erscheinen lässt.

Reinlesempfehlungen:

  • Lauenburger, Adina: Solo Sunny (1980) – ein ‚Stadtfilm‘?
  • Nemitz, Heiko: „Die kommen jetzt alle rüber“. Vom Untergang des topographischen Sonderraums Kreuzberg in Herr Lehman (2003).
  • Hißnauer, Christian: Berlin Calling (2008) – Die Stadt ist die Musik. Berlin im/als Technowahn
  • Schlösser, Lioba: Mythos und Wahrheit in Berlin 1977. Suspiria (2018) als politischer und sozialer Spiegel des deutschen Herbstes.

© Fynn

  • Stefan Jung / Marcus Stiglegger (Hrsg.)
  • Berlin Visionen
  • Filmische Stadtbilder seit 1980
  • 372 Seiten, franz. broschiert, farb. Abb.
  • ISBN 978-3-927795-91-4
  • Euro 24
  • bei Amazon bestellen >>>

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert