Film ist geradezu dafür geschaffen Wahrnehmung und Realität zu hinterfragen. Und wie steht es mit den Erinnerungen? Je weiter der Moment zurückliegt, umso weiter verblassen die Details oder es kommen vielleicht andere hinzu. ARE YOU LONESOME TONIGHT? stellt nicht nur den Wahrheitsgehalt unserer Erinnerungen in Frage, sondern stellt die These auf, wenn wir mit diesem Moment ein schlechtes Gewissen verbinden, verändern wir ihn zum Besseren für uns selbst. In ARE YOU LONESOME TONIGHT? kämpft der Protagonist mit einer schweren Schuld, die er nicht sühnen kann. Er taucht immer wieder mit Flashbacks in die Vergangenheit ein und verändert sie stetig. Der chinesische Mystery-Thriller stiftet aber auch zum Rätsellösen an, das zwingend nicht nur ein Ergebnis bietet.
Handlung
Ein Handwerker für Klimaanlagen fährt nach einem langen Arbeitstag durch die dunkle Nacht. Wang Yueming (Eddie Peng) versucht sich mit Zigaretten wach zu halten, doch nach einer kurzen Unaufmerksamkeit überfährt er etwas. Etwas? Nein, jemanden. Er lässt die Leiche im nahegelegenen Fluss verschwinden und versucht die Erinnerung daran zu vertreiben. Jedoch sieht er eines Tages eine Vermisstenanzeige mit dem Foto des Mannes, den er überfahren hat. Die Schuld ist kaum noch auszuhalten und er will sich bei der Polizei stellen. Als er im Revier voller Krimineller, Geisteskranker und Drogenabhängiger wartet, überkommt ihn die Angst vor dem Gefängnis. Er will seine Tat dennoch der Witwe Mrs. Liang (Sylvia Chang) gestehen. Nach einer kleinen Sabotage von Frau Liangs Klimaanlage gelangt er in ihrer Wohnung und lernt sie kennen. Der richtige Moment für das Geständnis stellt sich jedoch nicht ein. Die Frau scheint auch über den Verlust ihres Mannes kaum traurig zu sein. Wang wird aber immer wieder von Visionen seiner Tat verfolgt, die kleinere Hinweise geben, dass vielleicht mehr als nur Fahrerflucht geschehen ist.
Realitätsverlust
Das Spielfilmdebüt von Wen Shipei ist bemerkenswert souverän inszeniert. Mit Leichtigkeit streut er Hinweise in die Handlung, erzählt bereits Gesehenes völlig neu, springt durch mehrere Zeitebenen und vertraut auf die Konzentration seiner Zuschauer. Gerade diese Aufmerksamkeit ist für das Krimidrama ARE YOU LONESOME TONIGHT? Gold wert. Was hat es mit dem Schlüssel und dem Anhänger Nr. 19 auf sich? Wer hat die Leiche gefunden? Was ist mit dem Sohn von Frau Liang geschehen? Mit diesen Fragen taucht wir in die Welt unseres schlaflosen Antihelden ein, der in einen Strudel aus Selbsthass, Schlafentzug und moralischen Zwiegesprächen umhergestoßen wird. Es kann auch sein, dass Wang vielleicht mehr mit der Sache zu tun hat, als zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein?
Bezüge zu Rätselfilmen, die sich mit den Themen Schuld und Sühne beschäftigen wie zum Beispiel OLDBOY (2003), THE MACHINIST (2004) oder BURNING (2018) sind nicht von der Hand zu weisen. Was diese Filme mit größerem Budget und aufwändigem Szenenbild besser machen, gleicht ARE YOU LONESOME TONIGHT? durch flotte Bildmontage und passgenaues Sound-Design aus. Die Geräusche des Feuerwerks tauchen zum Beispiel wiederholt auf, das Rumpeln von Klimaanlagen kündigt Unheil an und die Schusswaffen sind präzise krachend realistisch. Die Kamera folgt leichtfüßig seinen Figuren und bringt die uns unbekannte Welt Chinas im Jahr 1995 fast haptisch nah. Es ist eine Milieustudie aus einem Netz von Kleinkriminellen, die im Untergrund leben, Gangschlägereien auf Fußgängerbrücken und wo die Allmacht der Digitalisierung noch meilenweit entfernt ist. Im Finale gelingt es die Handlung geschmeidig zu beenden, ohne zu sehr auf allumfassende Aufklärung zu setzen, eine der Stärken des asiatischen Kinos.
Fazit
Viel möchte man gar nicht im Vorhinein über ARE YOU LONESOME TONIGHT? verraten, denn vor allem nach dem Film können sich tolle Diskussionen über Interpretationen ergeben. Ein starkes Debüt was hoffentlich nicht ungesehen bleibt und für Fans von Mystery und asiatischem Kino ein Pflichttermin markiert.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter