Zum Inhalt springen

Anselm (2023) – Filmkritik

Wim Wenders, der alte Haudegen, hat mal wieder zugeschlagen, und das gleich doppelt: Dieses Jahr präsentierte er in Cannes zwei neue Filme, neben der Dokumentation ANSELM auch den Spielfilm PERFECT DAYS, der kurz vor Weihnachten in den deutschen Kinos anlaufen wird.

Anselm: Allein der Klang dieses Namens hat Wenders sicher gefallen. Es geht um den Maler und Bildhauer Anselm Kiefer, wie Wenders 1945 geboren und einer der bekanntesten lebenden bildenden Künstler Deutschlands. Wie beim Oascar-nominierten Portrait PINA über die Tanz-Choreographin Pina Bausch reichen der ungewöhnliche Vorname und die große Berühmtheit, um klarzustellen, um wen es geht.

© 2023, Road Movies, photograph by Ruben Wallach

Und erneut dreht Wenders in 3D. War PINA 2011 noch mittendrin in der letzten Welle an 3D-Filmen, die durch die Kinos schwappte, so ist diese inzwischen längst abgeebbt und Wenders einer der letzten Filmemacher, die diese Methode einsetzen. Wenders hat sich schon immer sehr für Filmtechnik interessiert und beispielsweise früh auch auf Digitalvideo gedreht. In ANSELM setzt er die dreidimensionalen Bilder ein, um Kiefers gigantische Skulpturen in einer riesigen Lagerhalle, die der Künstler auf dem Fahrrad durchmisst, in Szene zu setzen. Trotzdem bleibt der Gewinn dadurch überschaubar und für manche Zuschauer ein Kopfwehgarant.

© 2023, Road Movies

Angenehmerweise gibt es nur wenig Voice-Over-Text. Aktuelle dokumentarische Aufnahmen werden verbunden mit Spielszenen ohne Dialog, die mit viel Zeitkolorit – alte Schreibmaschinen, alte Fotoapparate, eben viel damalige Technik – inszeniert sind, sowie mit Archivbildern, alten Fernsehsendungen, Nachkriegsaufnahmen. Die Recherchearbeit dürfte beträchtlich gewesen sein. Besonders kurios ist ein Fernsehbeitrag über den Schüler Anselm Kiefer, der soeben für eine Arbeit auf den Spuren von Vincent van Gogh ausgezeichnet worden ist: „Man erkennt sein zeichnerisches Talent.“

Ein bisschen Zeichnen war Anselm Kiefer später dann aber zu wenig, nach seinen ersten Erfolgen wandte er sich auch Installationen zu. Schon früh hat er provoziert und heftige Gegenreaktionen hervorgerufen. In der Weltkriegs-Uniform seines Vaters fotografierte er sich in europäischen Landschaften, den Hitlergruß zeigend. „Wie wäre ich damals gewesen?“ fragt er im Film dazu. Kiefer ist beeindruckt von Mythen, vor allem germanischen. Ist er ein Reaktionär?

© 2023, Road Movies

Die Auseinandersetzung mit diesen Themen kann freilich auch genau das Gegenteil bedeuten, und was wäre Kunst wert, die so eindeutig und durchschaubar ist, dass man sie nicht missverstehen kann? Auch Jonathan Meese arbeitet häufig mit Nazi-Symbolik, und die Fotoserie erinnert an eine von Ai Weiwei, in der er berühmten Kunstwerken aus aller Welt den Stinkefinger zeigt. (Und nebenbei bemerkt hatten die alten Germanen nichts mit Faschismus zu tun, der stammt aus dem antiken Griechenland und Rom.)

© 2023, Road Movies

Eine andere Arbeit beschäftigt sich mit der „Todesfuge“, Paul Celans berühmten Gedicht zum Holocaust aus dem Jahr 1952 – noch unter dem ursprünglichen Titel „Todestango“. Celan liest den Text im Film selbst, die Szene ist beeindruckend. Man möchte meinen, die Todesfuge sei schon hinreichend oft zitiert worden, doch aktuell kann ein Vize-Ministerpräsident Neonazi-Sprüche von sich geben, und seine Wähler sind begeistert. Wenders steht offensichtlich auf Kiefers Seite, denn er bringt erst die Todesfuge und dann die Vorwürfe und nicht andersherum – das hätte wie eine Entschuldigung gewirkt. Der einzige Vorwurf, den man Anselm Kiefer wohl wirklich machen kann, ist seine Faszination für das Dritte Reich. Christoph Schlingensiefs Ansatz, Hitler durch Entmystifizierung so lange „abzunutzen“, bis er jeden Reiz verloren hat, ist deutlich reifer.

© 2023, Road Movies

Aber auch ganz andere Arbeiten haben in den Film gefunden, Steinbücher mit Flugzeug-Aufnahmen von Landschaften, in denen man „die nächsten 2.000 Jahre die Haut der Erde anschauen kann, egal, was passiert“. Kiefer malt mit Feuer und auf Hebebühnen. Seine Kritzeleien erinnern ein wenig an Cy Twombly. ANSELM – DAS RAUSCHEN DER ZEIT beginnt etwas bombastisch mit Opernarien, danach wird der Film zugänglicher. Flugzeuge tauchen als roter Faden auf. Wenders findet immer neue Ideen, die Größe der leicht megalomanischen Kunstwerke darzustellen, dabei hilft ihm auch sein untrügliches Gespür für Orte. Immer wieder platziert er die Arbeiten per Überblendung in der realen Landschaft, das kann man naiv finden oder darin eine Schärfung erkennen. Erde -> malen -> Himmel.

© 2023, Road Movies, photograph by Wim Wenders

Kiefer lässt Wenders sehr nahe an sich heran, spielt sogar in manchen Szenen selbst mit. Wenn sein eigenes Selbst als Kind ihm vorliest, führt das zu interessanten Effekten. Übertrieben wirkt es, wenn er auf dem Hochseil über dem Abgrund balanciert.

Für einen Film über einen bildenden Künstler kommen darin viele Gedichte vor, auch Ingeborg Bachmann liest selbst. Und man lernt neben Anselm Kiefer auch Paul Celan besser kennen. Wer sich für Kunst interessiert, sollte sich den Film anschauen, und zwar im Kino auf der großen Leinwand – ob nun mit oder ohne 3D.

© Franz Indra

Titel, Cast und CrewAnselm – Im Rauschen der Zeit (2023)
Poster
ReleaseKinostart: 12.10.2023
RegieWim Wenders
Trailer
BesetzungAnselm Kiefer als er selbst
Daniel Kiefer (junger Mann Anselm Kiefer)
Anton Wenders (Junge Anselm Kiefer)
DrehbuchWim Wenders
KameraFranz Lustig
MusikLeonard Küßner
SchnittMaxine Goedicke
Filmlänge93 Minuten
FSKab 6 Jahren

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert