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Anora (2024) – Filmkritik

Amerikanische Stripperin lernt russischen Oligarchensohn kennen. Sie verlieben sich und heiraten heimlich. Seine Familie will das ungeschehen machen, die beiden ergreifen die Flucht. Der Film entwickelt sich danach nicht so, wie man es nun erwartet, aber das ist leider fast schon das einzige Gute, was man über ihn sagen kann.

Aber fangen wir am Anfang an. Die kurze Zusammenfassung der Handlung trifft es nicht genau. Ani, die Amerikanerin, hat selbst russische Vorfahren und spricht die Sprache ein wenig. Darum wird sie Wanja zugeteilt, als der mit ein paar Kumpels im Stripclub aufkreuzt und mit den Geldscheinen wedelt. Sie gefallen einander. Ani lädt ihn ein, beim Lapdance die Grenzen ein wenig zu überschreiten, Wanja mietet sie schon bald für eine ganze Woche als „dauergeile Freundin“, wie er sagt. Liebe ist nicht ganz das richtige Wort für das Verhältnis zwischen den beiden, auch wenn er ihr danach einen Heiratsantrag macht.

© 2024 Anora Productions, LLC

Das alles ist noch einigermaßen vielversprechend. Die Schauspieler sind wunderbar, die Schauwerte gelungen. (Gedreht wurde auf 35 mm.) Ani wird von Mikey Madison (ONCE UPON A TIME IN… HOLLYWOOD (2019), SCREAM (2022)) gespielt, Wanja von Mark Eidelshtein. Allein ergeht sich dieser erste Akt in 45 Minuten Schwelgen in Luxus, und zwar der Sorte geschmackloses Geprotze superreicher Nichtsnutzkinder. Wenn man meint, jetzt ist es aber genug, es wird langsam langweilig, kommen noch zehn solche Szenen.

Als die Handlung dann endlich voranschritt, machte sich im Kritiker leider immer mehr Enttäuschung breit. Kennen ihr das? Ich hatte mich auf den neuen Film von Sean Baker (TANGERINE L.A. (2015), THE FLORIDA PROJECT (2017), RED ROCKET (2021)) gefreut. ANORA wird bejubelt und erhielt dieses Jahr sogar die Goldene Palme in Cannes, und ich kann nicht verstehen, warum. Offensichtlich soll der Film lustig sein. Ich fand ihn unangenehm. Vielleicht verstehe ich es auch einfach nur nicht.

© 2024 Anora Productions, LLC

Der Vater schickt nun also seine Schergen, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Damit ist nicht etwa gemeint, dass sie Ani töten wollen, sie sollen nur die Annullierung der Hochzeit vorbereiten. Wanja verschwindet auf eine Frust-Sauftour und verlässt für längere Zeit den Film. Zurück bleibt Ani. Sie attackiert die Schergen, die sich alle erstaunlich zurückhalten, ihr auch nur ein Haar zu krümmen. Einem bricht sie die Nase. Er hat eine Gehirnerschütterung, die nicht behandelt wird, das ist ungefähr eine Stunde lang ein running gag. Auf der Suche nach Wanja entwickelt sich Ani zu einer alle beschimpfenden Figur. Ohne dass es nachvollziehbar ist, entschuldigen sich die anderen dauernd bei ihr.

© 2024 Anora Productions, LLC

Ani und Wanja werden sympathisch gezeichnet, obwohl sie es nicht sind. Sie sind grenzenlos materialistisch und rücksichtlos. Schon nach wenigen Tagen Leben im Überfluss sagt Ani blasiert über ihren Pelzmantel: „Das ist kein Nerz. Das ist Zobel. Der ist viel wertvoller als Nerz.“ Wenn das satirisch gemeint ist, müsste der Film wiederum weiter gehen. Wanja wird am Ende entzaubert, als seine Eltern auftauchen und ihn zur Rede stellen. Ani kämpft weiter darum, die Hälfte des Familienvermögens zu erhalten. Sie behandelt die Menschen um sie herum wie Fußabtreter, und man hat das unangenehme Gefühl, das soll sie als starke Heldin zeigen.

Der Film macht sich diese verächtliche Sichtweise zu eigen. Ein schwerhöriger Süßwarenladenbesitzer wird von Wanjas Freunden als Helen Keller verspottet. Helen Keller war eine taubblinde Schriftstellerin, deren Mehrfachbehinderung seit Jahrzehnten in den USA eine allgemein bekannte Grundlage für vermeintlich provokante Scherze ist. Hier wird der so Bezeichnete daraufhin einfach als seniler Trottel präsentiert.

© 2024 Anora Productions, LLC

Der heimliche Held ist Igor, dargestellt von Yura Borisov, der in ABTEIL NR. 6 (2021) die männliche Hauptrolle spielte. Er ist der unterste der Unterschergen, aber die einzige moralische Figur. Er beobachtet das Geschehen und kommentiert es hin und wieder lakonisch. Mit seiner Position der absoluten Machtlosigkeit hat er sich abgefunden. Er versucht sogar, Ani mit ihren russischen Wurzeln zu versöhnen.

Eigentlich ist ihr Name nämlich der titelgebende Anora, aber der ist ihr peinlich. Auch mit Igor kann sie nur noch durch Beleidigungen und Sex kommunizieren. „Wenn die anderen nicht dabei gewesen wären, hättest du mich bestimmt vergewaltigt!“, hält sie ihm vor. Als er ruhig verneint, ist ihre Antwort: „Dann bist du eine Schwuchtel.“

© 2024 Anora Productions, LLC

Was hat Sean Baker an dem Ganzen gereizt? Der russische Oligarch ist schon so lange als Filmklischee beliebt, dass er längst der Realität enthoben ist. Bereits die anfänglichen Bilder im Stripclub wirken wie schon in hundert anderen Filmen gesehen. Und wer sich eine echte Satire über im Luxus schwelgende Schnösel anschauen möchte, dem sei DER TALENTIERTE MR. RIPLEY von 1999 empfohlen.

© Franz Indra

Titel, Cast und CrewAnora (2024)
Poster
ReleaseKinostart: 31.10.2024
RegieSean Baker
Trailer
BesetzungMikey Madison (Anora „Ani“)
Mark Eydelshteyn (Ivan „Wanja“)
Juri Borissow (Igor)
Karen Karaguljan (Toros)
Watsche Towmasjan (Garnick)
DrehbuchSean Baker
KameraDrew Daniels
MusikMatthew Hearon-Smith
SchnittSean Baker
Filmlänge138 Minuten
FSKab 16 Jahren

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