„Anonymität um jeden Preis“
Andrew Niccol, der Regisseur von ANON, hat das realitätsnahe Science-Fiction-Genre in seiner Arbeit förmlich verinnerlicht. Ende der 1990er-Jahre war er mit seinen Drehbüchern zu THE TRUMAN SHOW und GATTACA in aller Munde, aber vermied es jedes Jahr einen Film zu schreiben oder Regie zu führen. Für ihn ist es wichtig, die Kontrolle über den ganzen Produktionsprozess eines Films zu behalten, denn das dauert seine Zeit. Dies kann für einen Film sehr nützlich sein, weil die grundlegenden Ideen der Geschichte auch im Endresultat landen. Jedoch ist es auch wichtig, dass das Projekt durch ein frisches paar Augen betrachtet wird und der Handlung sprichwörtlich etwas Feuer unterm Hintern macht. Dazu gehört auch das neuste Werk von Andrew Niccol: ANON. Aber zuerst ein paar Worte zur Handlung.
Inhalt
In dieser Zukunftsvision werden jedem Menschen sogenannte „Mind Eyes“-Implantate in die Augen eingesetzt. Diese ersetzen nicht nur jede Art von technischen Geräten, sondern sind auch komplett miteinander vernetzt. Jeder kann Daten von jedem abrufen, den er sieht. So erfährt auch eine Hot Dog-Verkäuferin zum Beispiel immer, wer vor ihr steht. Der Großteil der Menschen arbeitet seine Dienstleistungen nur noch an leeren Schreibtischen ab, in dem er vor sich hinstarrt und auf einem Interface, welches nur er sehen kann, seinem Beruf nachgeht. Mit diesen Implantaten ist auch jede Form von Anonymität und Privatsphäre verlorengegangen, denn jeder Blick wird aufgezeichnet und kann nachverfolgt werden. Der positive Nebeneffekt dieser leblosen Welt ist, dass es keine ungelösten Verbrechen mehr gibt. Detective Sal Frieland, gespielt von Clive Owen, hat die Aufgabe jede Art von Verbrechen aufzulösen, welche trotz der Aussichtslosigkeit auf ein Davonkommen, anscheinend immer noch rege von den Menschen begangen werden. Die Geschichte bekommt Schwung, als eine nicht identifizierbare Frau, gespielt von Amanda Seyfried, ins Spiel kommt und es schafft, sich in jeden Augapfel-Prozessor zu „hacken“, um daraufhin moralisch fragwürdige Personen zu erschießen.
Gruselig, aber nicht spannend
ANON ist ganz ruhig, fast schon steril inszeniert. Die Bewohner dieser Welt leben in stilvollen Einrichtungen, wo viel Wert auf Design gelegt wird, aber es nicht danach aussieht, als ob dort jemand leben würde. Es ist eine visuelle Mischung aus einem Mode-Video und einem Innendesignkatalog Ende des 20. Jahrhunderts. Viele Kameraeinstellungen sind aus der Ich-Perspektive gefilmt, was bei dieser technischen Revolution mit den ganzen Daten, die am peripheren Sichtfeld aufflackern, ein gutes Gefühl für das Leben in dieser Welt gibt. Die Schauspieler spielen diesen Zustand perfekt, wenn sie fast schon lethargisch vor sich hinstarren. Die Dialoge sind auch auf ein Minimum begrenzt, sind jedoch zu sehr am esoterisch Kryptischen. Vor allem, wenn die Auflösung zum Filmende kommt, hätten ANON ein paar klare Worte mehr Aussagekraft verliehen. Die Figur von Clive Owen bekommt eine Charakterzeichnung, die nach einer Mustervorlage formatiert zu sein scheint: Detektiv mit dem Herz am richtigen Fleck, der Beweise bei Verbrechen aus Notwehr schon einmal verschwinden lassen kann. Außerdem ist er geschieden, lebt in seiner traurigen Vergangenheit, trinkt gern und ist in Liebesangelegenheiten eher aufs Praktische fixiert.
Die Welt von ANON entwickelt auf jeden Fall ihren Reiz und fühlt sich im Hinblick darauf, dass in unserer Gegenwart über die Hälfte der Menschen die ganze Zeit auf ein kleines leuchtendes Display vor sich starrt, gar nicht so weit entfernt von heute an. Das Herzstück der Handlung ist jedoch eine Krimi-Geschichte und die kommt einfach nicht in Fahrt. Vielleicht liegt es an der ruhigen Inszenierung oder an den emotional abgekochten Charakteren des Films. Ein richtig interessanter Aspekt der Geschichte bleibt auch gänzlich ungenutzt auf der Straße liegen: Das digitale Sammeln von Erinnerungen. Es findet etwas Anklang, als Anon die Erinnerungen von Frieland an seinen Sohn löscht. In unserer Zeit fotografieren viele alles und jeden mit dem eigenen Smartphone, aber wie viele schauen die gemachten Fotos überhaupt noch an? Manche Momente werden über Netzwerke mit anderen geteilt, aber wenn die Daten verlorengehen, sind dann auch die Erinnerungen verloren? Die Frage, welche Erinnerung die Richtige ist, die emotionale oder die digitale, hätte ANON zumindest einmal stellen können. Der Film entschlüsselt nur Videobeweise mit jeder Menge Gadgets aus allen Winkeln und Perspektiven, aber das gefühlvolle „An die Hand nehmen“ wie zum Beispiel in THE TRUMAN SHOW fehlt gänzlich.
Fazit
Trotz der einfallsreichen, dystopischen Zukunftsvision, der guten Schauspielbesetzung, den stilvollen Bildern und dem designten Szenenbild, bleibt ANON erstaunlich leer wie dessen emotionslose Figuren. Mehr Spannung und ein paar Kriminalelemente hätten das Sehvergnügen definitiv erhöht. Dies hätte der oben besprochene zweite Blick eines kreativen Geistes im Produktionsprozess sicherlich erkannt und bereichert. Die starken Bilder und die Angst vor dem Verlust der eigenen Privatsphäre hallen jedoch nach dem Filmabspann erstaunlich lang im Kopf nach.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter