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Amsterdam (2022) – Filmkritik

„Verschwörungs-Noir“

Das Leben ist kein Wunschkonzert und Kino schon lange nicht. AMSTERDAM zeigt uns das in Überlänge. Selbst als erfahrener Filmfan fällt man auf ein paar Vorschusslorbeeren der Produktion herein: David O. Russell (THE FIGHTER, JOY) auf dem Regiestuhl, hinter der Kamera der virtuose Emmanuel Lubezki (BIRDMAN, THE TREE OF LIFE), drei exzellente Schauspieler auf dem Kinoposter (Christian Bale, Margot Robbie und John David Washington) und mit Oscargewinnern besetzte Nebenrollen (Robert De Niro, Rami Malek). All das lässt einen beschwingt in den Kinosaal steigen. Die Zeichen stehen auf erstklassige Filmkunst und Eskapismus, doch bereits nach den ersten Minuten beschleicht einen das mulmige Gefühl nicht das zu bekommen, was man erwartet: Natürlich nicht weniger als einen der besten Filme des Kinojahres 2022. Der Großteil der internationalen Presse ist sich bereits einig: zu bemüht, zu viele Stars, zu wenig Fokussierung und zu viel Chaos. Diese Kritikpunkte könnte man auch bestens auf unsere Gegenwart anwenden. Wenn man es jedoch zulässt, verändert AMSTERDAM die eigene Wahrnehmung oder, bei fehlender Empathie, leitet der Film noir in den sanften Schlaf der Teilnahmslosigkeit.

© Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

Handlung

1933, Manhattan, New York: Liz Meekins (Taylor Swift) bittet den Arzt Dr. Burt Berendsen (Christian Bale) und seinen Freund den Anwalt Harold Woodman (John David Washington) sich der Aufklärung des plötzlichen Todes ihres Vaters anzunehmen. Die beiden Veteranen Berendsen und Woodman kannten den Mann, der auf einer Gala der Veterans Reunion eine Rede halten sollte. Zusammen mit der Krankenschwester Irma St. Clair (Zoe Saldana) finden sie nach einer Autopsie heraus, dass der Armeegeneral Meekins über mehrere Tage auf der Überfahrt von Europa vergiftet wurde. Ihre Erkenntnis können sie der Tochter nicht mehr mitteilen, weil Liz kurz zuvor von einem Unbekannten vor ein Auto gestoßen wird und an Ort und Stelle stirbt. Für die Kameraden Berendsen und Woodman entspinnt sich ein Strudel aus vielfältigen Kräften und Mächten, die nicht weniger wollen als die Weltherrschaft. Doch der Weg führt beide auch zurück in die eigene Vergangenheit, in ihre schlimmste (der Erste Weltkrieg), ihre schönste (Wochen der Freiheit in Amsterdam) und zu ihr: Valerie Voze (Margot Robbie).

© Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

Wie bitte?

Locker, leicht, dynamisch und wirr werden wir in das Jahr 1933 gestoßen. Wir sind in einer Praxis in New York, bei einem Arzt, der sich auf Prothesen und Schmerzmittel für Kriegsveteranen spezialisiert hat. Christian Bale hat schon so unzählige originelle Rollen gespielt, dass man immer wieder über eine weitere erstaunt ist. Seine Figur bringt uns als Erzähler durch die Geschichte. Leicht wird das nicht, denn Berendsen ist selbst ab und zu auf Drogen – 1933 galten sie noch als Schmerzmittel und waren legal. Außerdem beeinträchtigt ihn ein starkes Rückenleiden und die einseitige Beziehung zu seiner Frau Beatrice (Andrea Riseborough) ist nicht von Harmonie geprägt. Zugegeben ein sympathischer Kerl mit dem Willen nach Wahrheit, aber hier sollten wir uns darauf einstellen, dass es eine kurvenreiche Fahrt wird.

© Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

Das bringt uns zu der größten Hürde, vor die uns AMSTERDAM stellt. Die stets tief fliegende Kamera lässt uns mit diesen drei Freunden losziehen, schräge Dinge und Personen erleben. Mit extrovertierten Sonderlingen die Welt zu retten, das ist die Aufgabe fürs Publikum. Und da macht nicht jeder mit. Die Dialoge sind ungewöhnlich lang, sprunghaft in ihren Themen und immer wieder doppel- und dreifachdeutig. Die Vogelkundler/Geheimagenten Henry Norcross (Michael Shannon) und Paul Canterbury (Mike Meyers) bringen zumindest komödiantische Teile, aber der Großteil der anderen Szenen sind gefüllt mit Historie (wahr/fiktiv) und Namen. Ein Irrenhaus also und dann beginnt erst die richtige Verschwörung.

© Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

Lieben statt Schwurbeln

In unserer Zeit darf jede Art von schräger Theorie oder Lüge ein Plätzchen im Internet besetzen. Vielleicht wird sie gelesen, akzeptiert und weitergegeben. AMSTERDAM spielt mit dieser Thematik, aber in den 1930er Jahren, in denen wirtschaftliche Mächte Diktaturen unterstützen, um Kriege zu entfachen oder sie finanziell auszubeuten. Das macht den Film zu einem spannenden Verschwörungs-Noir, dem man aber nie wirklich punktgenau folgen kann. Für die Meisten wird das ein No-Go sein, aber für die Willigen, ein kreatives Statement. AMSTERDAM ist echt und wahrhaftig bei seinen Emotionen und somit bei der Freundschaft des Trios, der Liebe zwischen Valerie und Harold oder zwischen Berendsen und Irma. Aber auch die Kunst bekommt ihren Platz in den Arbeiten von Valerie Voze, die aus Bombensplittern Teetassen bastelt oder Portraitfotografie mit Floristik fusioniert. Zu gern möchte man etwas länger darauf schauen – jeder, der durchhält, wird beim Abspann damit belohnt.

© Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

Alles zusammen macht AMSTERDAM zu einer Melange aus Geschichte, Theater, Psychen, Krankheiten, Kunst und Gefühlen, die wie in einem Karussell umherwirbeln – eine zweite Fahrt dürfte dem Publikum leichter fallen, wer das danach noch möchte. Ohne Makel verfügt die Produktion über ein hervorragendes Szenenbild, authentische Kostüme und ein weiterer vortrefflicher Score von Daniel Pemberton. Der Komponist bringt Chöre, Querflöten und sogar den Song „Time“ zusammen mit dem Musiker Giveon auf die Lichtspielbühne – ein Genuss.

© Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

Fazit

Liebe wird gebraucht oder gewählt. Die wahrhaftige Liebe ist die, die gewählt wird. So ist es in AMSTERDAM zu hören. Wer AMSTERDAM nicht braucht, wird keinen Spaß  haben, aber wer sich bewusst dafür entscheidet, wird ein paar neue unerwartete synaptische Verzweigungen erhalten. Für Regisseur David O. Russell war es nie wichtig einen Film zu machen, der jedem gefällt, sondern einen, der zum Diskutieren anregt. Das tut er ohne Zweifel.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewAmsterdam (2022)
Poster
RegieDavid O. Russell
ReleaseKinostart: 03.11.2022
ab dem 12.01.2023 auf Blu-ray und DVD erhältlich.

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Trailer
BesetzungChristian Bale (Burt Berendsen)
Margot Robbie (Valerie Voze)
John David Washington (Harold Woodman)
Chris Rock (Milton King)
Anya Taylor-Joy (Libby Voze)
Zoe Saldana (Irma St. Clair)
Mike Myers (Paul Canterbury)
Michael Shannon (Henry Norcross)
Timothy Olyphant (Taron Milfax)
Andrea Riseborough (Beatrice Vandenheuvel)
Taylor Swift (Liz Meekins)
Matthias Schoenaerts (Detective Lem Getwiller)
Alessandro Nivola (Detective Hiltz)
Rami Malek (Tom Voze)
Robert De Niro (General Gil Dillenbeck)
DrehbuchDavid O. Russell
KameraEmmanuel Lubezki
MusikDaniel Pemberton
SchnittJay Cassidy
Filmlänge134 Minuten
FSKAb 12 Jahren

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