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Amelia Warner – Filmkomponistin | Portrait & Interview

„Working Beauty“

Als Schauspielerin spielte sie an der Seite von Michael Caine und Ed Harris. Neben Ehemann und 50 SHADES OF GREY-Star Jamie Dornan wurde sie zum Spielball der Klatschpresse. Für MARY SHELLEY komponierte sie einen der schönsten Scores der letzten Jahre. Dafür wurde sie von der International Film Music Critics Association als Breakthrough Composer of the Year 2018 ausgezeichnet. Amelia Warner ist eine neue, spannende Stimme im Chor der Filmmusik.

Kunst findet ihren Weg

Die 1986 geborene Engländerin entspricht auf den ersten Blick so gar nicht dem Bild, was viele von einem Filmkomponisten haben. Und genau dieses Bild wird durch die dreifache Mutter um ein Vielfaches farbiger.

Mit 16 Jahren studiert sie bereits Kunstgeschichte in London. Mit 19 spielt sie die Hauptrolle in einer erfolgreichen britischen TV-Serie, heiratet mit Colin Farrell einen der bekanntesten Stars des internationalen Films und lässt sich vier Monate später wieder scheiden. Hauptrollen in kleinen Filmen und kleinere Rollen in großen Filmen wie QUILLS (Philip Kaufman) oder AEON FLUX (mit Charlize Theron) entsprechen auf Dauer nicht mehr ihrem kreativen Geist. Das Klavier ihrer Jugend ruft sie immer stärker zu sich zurück. Ihr Kosename „Millie“ und ihre ironische Sicht auf das eigene Arbeitstempo ergeben ihren neuen Namen als Musikerin. Als Slow Moving Millie entwickelt sie dagegen schnell eine erfolgreiche Handschrift als Solokünstlerin und Komponistin. In der Zeit entstehen erste Schritte als Filmkomponistin bei der Vertonung zweier Kurzfilme.

© White Bear Public Relations

Ihr musikalischer Erfolg (zwei ihrer Mini-Alben landen in den i-Tunes Klassik Charts auf Platz 1) und wertvolle Kontakte zu Produzenten aus ihrer Zeit als Schauspielern verhelfen ihr 2016 zu ihrem ersten Score für einen Spielfilm. Ein zwischen Himmel und Erde verhallender Klang aus Klavier, Streichern und sphärischen Synthieklängen begleitet die letzten Worte einer sterbenden Mutter an ihre zurückbleibende Familie. Für das britische Drama THE MUM´S LIST schafft Amelia Warner genau den richtigen Klang zwischen Schmerz und Hoffnung. Diese Arbeit eröffnet ihr ein Projekt, welches wie für sie gemacht zu sein scheint.

Mary Shelley

Der historische Film handelt vom literarischen Erwachen einer jungen Schriftstellerin im England zu Beginn der Industrialisierung. Es ist eine Welt, in der Frauen nicht wählen dürfen und nur eine Rolle haben: Männern zu gefallen und Kinder zu gebären. Eine eigene Stimme wird ihnen nicht zugestanden. Ihre Ängste und Sehnsüchte müssen sie für sich behalten. Selbstverwirklichung in der Liebe, das Erforschen der Wissenschaft oder das Schaffen von Kunst ist für Frauen nicht vorgesehen. Mary Shelley (Elle Fanning) durchbricht diese Mauern patriarchalischer Enge und schreibt einen der erfolgreichsten Romane aller Zeiten: FRANKENSTEIN. Ein Buch über wissenschaftliche Schöpfung und die Natur des Menschen. Gleichzeitig ist es ein Pamphlet für die kreative Kraft einer sich von allen Zwängen befreienden Frau.

Zum Leben erweckt wird der Film von Haifaa Al-Mansour, einer Filmemacherin aus Saudi-Arabien. Ein Land, das dem England vor 200 Jahren in Bezug auf die Rechte und Chancen von Frauen nicht unähnlich ist. Mansour kann das Ringen einer jungen Frau um die Befreiung ihrer Kunst, in einer von Männern dominierten Welt, persönlich nachvollziehen.

Amelia Warner
© White Bear Public Relations

Die Stimme der Seele

Diese Stimmigkeit findet sich auch in der weiblichen Besetzung der Filmmusik wieder. Amelia Warner scheint mit ihrem Score tief in die Seele einer sich emanzipierenden, jungen Künstlerin zu führen. Gleich im Titelstück begegnet uns eine einsame Frauenstimme. Begleitet von einem perkussiven Herzschlag, kommt ihr Gesang wie ein Echo zu ihr zurück und bildet dann ein betörend zweistimmiges Duett mit sich selbst. Ein Dialog mit ihrem kreativen Ich? Erweitert um pulsierende Klavierfiguren erleben wir allein durch die Musik die rastlose Sehnsucht der Protagonistin. Warners Komposition bewegt sich elegant zwischen Patrick Doyle, Michael Nyman und einem weit entfernten, wie durch Glas schimmernden Thomas Newman. Das durchwebt sie mit ihrem sicheren Gespür für einprägsame Melodiebögen.

An den richtigen Stellen erweitert sie elektronische Parts um entrückt verfremdete Orchesterklänge. Umgekehrt ergänzt sie reale Instrumente um dezent darunter gelegte Synthieparts. Dabei begegnen wir halligen Glockenspielen und zarten Akkordeonklängen. Und über allem schwebt immer wieder der entrückte Sirenengesang aus Mary Shelleys Innerem. Dieser scheint sich im Laufe der Handlung, wie im Stück AN UNREAL MYSTERY, elektrisch immer weiter aufzuladen. Bei der Beobachtung einer wissenschaftlichen Vorführung mit Strom reift in der jungen Autorin die Idee zu ihrem Weltbestseller. Die künstlichen Blitze auf der Bühne eines Theaters werden für sie zu Dr. Frankensteins Energieinfusionen in das wiederbelebte Fleisch ihrer gemeinsamen Schöpfung. Das erschaffene Wesen ist für beide kein bedrohliches Wesen, sondern ihre lebendig gewordene Kreativität. Was für alle anderen ein erschreckendes Monster darstellt, ist für beide endlich die Realisierung ihrer befreiten Persönlichkeit. Dieser göttliche Schöpfungsakt darf sich dann in dem Stück THE BOOK orchestral entladen.

Mary Shelly Kritik zum Film
Elle Fanning in MARY SHELLEY (2017) // © Prokino

Amelia Warner konzentriert sich mit ihrer Komposition vollkommen auf die innere Welt der Heldin. Es scheint als hörten wir die Musik durch ihre zarten Ohrmuscheln. Wie der Trichter eines Grammofons scheinen diese direkt mit ihrer Seele verbunden zu sein. So hören wir keine dramatischen Horrorklänge aus den Tiefen gotischer Alpträume, sondern das hoffnungsvolle Heranrauschen fruchtbarer Wellen in ein bisher ausgedörrtes Land. Einzig beim Tod ihrer Tochter CLARA wird aus sehnsuchtsvollem Sirenengesang das kurze Klagelied einer Mutter. Frankensteins Monster bekommen wir weder zu sehen noch zu hören.

Weibliche Ästhetik?

Auch wenn Warner selbst vielleicht widersprechen würde, die Wahl eines weiblichen Komponisten war selten stimmiger. So sehr sie dafür plädiert, dass man die richtige Musik keinem bestimmten Geschlecht zuordnen sollte, so richtig fühlt sich hier die Wahl einer Frau für diesen Score an.

 „Ja, ich bin stolz, dass ich Komponistin bin. Sehr leidenschaftlich sogar. Andererseits denke ich, dass es keine Rolle spielen sollte, welches Geschlecht jemand hat, um der/die Richtige für einen bestimmten Job zu sein. Es sollte normal werden, dass ich nicht bei jedem Interview als „weibliche“ Komponistin vorgestellt werde, sondern einfach als das, was ich tue. Denn es hat keinen Einfluss darauf, wie (!) ich arbeite. Auf der anderen Seite ist es schon auffällig, dass mittlerweile in immer mehr Filmen Frauen in ausführenden Positionen besetzt werden, die Musik aber dann doch wieder von einem Mann komponiert wird. Ja es ist toll, dass immer mehr Frauen für den Bereich Regie, Schnitt, Ausstattung, oder Kamera engagiert werden. Aber bei der Musik gibt es da komischerweise immer noch eine Art toten Winkel. Das wäre verständlich, wenn es nur wenige Komponistinnen geben würde. Aber es gibt so viele, talentierte Künstlerinnen, mit so unterschiedlichen Stärken. Da muss sich wirklich noch viel ändern. It is time for a change!“

Amelia Warner ruht in ihrer Persönlichkeit. Obwohl ihre Filmographie als Komponistin noch kurz ist, beeindruckt sie mit ihrer Professionalität. Eine Professionalität zwischen hart arbeitender Künstlerin und Mutterglück.

Amelia Warner
© White Bear Public Relations

Als sie zur Produktion von MARY SHELLEY dazustößt, gibt es bereits einen reinen Temp Track Score. Es ist ein erster Entwurf. Er besteht größtenteils aus orchestralen Stücken klassischer Filmscores. Welche es konkret sind und wer genau für die Auswahl verantwortlich ist weiß Amelia Warner nicht.

„(lacht) Das habe ich tatsächlich nie gefragt“

Sie geht jedoch davon aus, dass die musikalische Grundidee bei Regisseurin Al Mansour entstand. Doch der „historische“ Ansatz entschleunigt die eh schon statische Erzählweise des gedrehten Materials. Die Produzenten wünschen sich einen frischeren, modernen Ansatz für den musikalischen Look des Films. Der zweite Entwurf kombiniert Neoklassik a la Jóhann Jóhannsson und Max Richter mit romantischen Pop- und Rocksongs. Auch hier ist Warner zunächst nicht involviert. Doch das Ergebnis überrascht und inspiriert sie.

„Das war sehr aufregend. Denn es hat erstaunlich gut funktioniert. Darauf konnte ich aufbauen und meine Vision entwickeln. Auf jeden Fall hat es auch die Produzenten überrascht.“

Genau diesen Effekt wollen die Produzenten von ihrer Komponistin: überrascht werden. Vor allem dafür haben Sie Amelia engagiert.

 „Das war wirklich mutig von Ihnen. Ich war am Anfang sehr unsicher wegen meiner Fähigkeiten. Denn sie wollten wirklich einen großen Score für diesen Film. Einen Score mit einem orchestralen Flair. Und genau diesem Anspruch fühlte ich mich überhaupt nicht gewachsen. Aber dann sagte einer von ihnen: „wir wollen keinen klassischen Komponisten! Denn wir wissen was ein klassischer Komponist tun wird.“ Sie wollten wirklich etwas Neues. Etwas, was aus meiner Unsicherheit herauswächst. Einen echten Akt der Schöpfung. Und genau das habe ich dann auch getan. Ich hatte weder Tricks noch das akademische Handwerkszeug wie man dramatische oder traurige Musik im klassischen Sinne schreibt. Ich habe letztendlich auf das reagiert, was ich gesehen habe, und wie es mich berührt hat. Das war schon eine große Chance, die sie mir da gegeben haben. Sie haben gerade auf meine Unsicherheit gesetzt. Das machen wirklich nur sehr erfahrene Produzenten.“

Amelia Warner bekam die Chance, die sich viele angehende Filmkomponisten wünschen. Egal ob Mann, Frau, jung oder alt, erfahren oder unerfahren. Entscheidend ist auch hier „auf dem Platz“. Nur durch das unmittelbare Arbeiten an konkreten Projekten können sich neue Stimmen im Chor der Filmmusik weiter entwickeln. Nur so kann Filmmusik noch reicher werden. So wie im Fall von Amelia.

Sie hat gezeigt, dass genau das der richtige Weg ist, um der von vielen so leidenschaftlich eingeforderten Diversity mehr Raum zu geben. Raum für noch mehr Musik.

Das Schicksal von Filmmusik

Auch wenn im Vorfeld vieles für einen spannenden und mitreißenden Film sprach, wurde die finale Version von MARY SHELLEY nicht so, wie es sich die Macher versprochen hatten. So lobte man am Ende die Grundidee, störte sich aber an der unentschiedenen Umsetzung. Zu wenig wurde von der anfänglichen Vision sichtbar. Zwar besticht der fertige Film mit authentischer Ausstattung, fein komponierten Bildern und Warners romantischem Score, kann aber das Versprechen seiner Grundidee nicht durchgängig halten. Warum die Produzenten am Ende so komplett Abstand von ihrem Projekt genommen haben, bleibt dennoch ein Rätsel. So reichen sie den fertigen Film noch nicht einmal zur Vorauswahl für die Oscars ein. Das hat zur Folge, dass auch Warners Musik für eine mögliche Nominierung unberücksichtigt bleiben muss.

Doch ihre Komposition hat viel positives Echo in der Branche erzeugt. Neben ihrer Auszeichnung als Breakthrough Composer of the Year wurde sie mit MARY SHELLEY bei den World Soundtrack Awards 2018 als Discovery of the Year nominiert. Mit ihr übrigens auch Hildur Guðnadóttir, die in diesem Jahr für JOKER und CHERNOBYL von Auszeichnung zu Auszeichnung gelobt wird. Für Warner vielleicht ein gutes Omen für kommende Projekte?

Für kommende Projekte ist sie nach vielen Seiten offen. Verspielte Klänge für eine Romantic-Comedy, dissonante Kakophonien für einen Horrorfilm oder neu interpretierte Americana-Klänge für ein Remake von GONE WITH THE WIND. Das Original von Max Steiner ist für sie übrigens einer der besten Filmscores aller Zeiten. Wer so denkt, ist weiter auf dem richtigen Weg. Ein Weg, der durch sie noch farbiger werden wird.

Andreas mit Amelia Warner // © Photo: Sarah Schygulla

Dies ist ein Auszug aus einem Artikel der Ausgabe 45 (2020) des Filmmusik-Magazins CINEMA MUSICA.

© Andreas Ullrich

Beitragsbild © Photo: Almut Elhardt

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