„Meisterliches Handbuch“
Wenn wir ein neues Exemplar unseres beliebten TASCHEN-Verlags empfehlen, mag sich vielleicht der ein oder andere Leser denken: ein solches Buch über jenes Thema oder Regisseur gab es doch schon einmal? Gemeint ist dabei auch vom selben Verlag und in der ein oder anderen Form stimmt das auch. Der TASCHEN-Verlag produziert mitunter die ästhetisch wertvollsten Bücher überhaupt, häufig in den Bereichen Kunst und Architektur, wobei im filmischen Bereich etwa von Stanley Kubricks „Napoleon“-Projekt oder dessen Monolith 2001: A SPACE ODYSSEY die Sprache ist. Oftmals entwickelt der Verlag gänzlich neue Formate und Designs, um dem visuellen Anspruch der Künstler, um die es geht, zu entsprechen. In diesem Zusammenhang ist es nur logisch, dass mitunter auch einfacher gehaltene und weitaus erschwinglichere Neuauflagen vormals vergriffener Exponate produziert werden. Die preisliche Messlatte fällt dann gleich mal um ein Zehn- bis Fünfzigfaches vergleicht man etwa die soeben genannten Bände hinsichtlich Erstauflagen (ca. 2000 €) und Reprints (50-250 €).
Ein TASCHEN-Buch
Nun kursieren gerade von den filmischen Beiträgen des TASCHEN-Verlags zahlreiche günstige Exemplare, häufig erwerbbar bei Thalia, Hugendubel und Co. Die berühmte, aber keineswegs durchweg analytisch anspruchsvolle Jahrzehnt-Filmbuchreihe (Hg. Jürgen Müller) Filme der 1970er, Filme der 1980er… steht in zahllosen Wohnzimmern – einschließlich meinem –, kam um die 30 Euro pro Band und gesellt sich gelungen zur begonnenen oder bereits erweiterten Filmsammlung für Zuhause. Dies, zusammen mit einigen Regisseur-Bänden (u.a. John Ford, Paul Verhoeven, Michael Mann), sind bestens geeignete Einsteiger-Bände, hochwertig und ansehnlich bebildert, mit nicht allzu viel Text, der jedoch bei den wichtigsten Punkten zumeist den Kern trifft.
Eher selten, wie besonders bei Kubricks „Napoleon“, gehen die TASCHEN-Bücher vollends in die Tiefe, ermöglichen gänzlich neue Diskurse und erweitern somit überdeutlich die eigene filmische Expertise, sofern man denn regelmäßig mehrsprachig liest. Am Beispiel der beliebten, querformatigen Archiv-Bände wird bei Titeln wie JAMES BOND, WALT DISNEY oder STAR WARS vielmehr bestens ersichtlich, dass es sich um Liebhaberstücke handelt, um Schatztruhen in lesbarer Form, um besten Fan-Service. Einer meiner Dozenten der Filmwissenschaft sagte einmal, dass viele dieser Bücher mehr Platz im Regal wegnähmen, als sie nachhaltige Erkenntnisse lieferten. Das hier nun besprochene Buch, die – durchaus erweiterte – Neuauflage von Alfred Hitchcock. Sämtliche Filme, chargiert gekonnt in der Mitte. Tatsächlich ist dieses Buch (UVP: 30 €) der Beweis, dass Umfangreiches auf knapp 700 Seiten gleichzeitig ansehnlich sowie relativ kompakt präsentiert werden kann.
Ein (Lebens-)Werk: Inhalt Alfred Hitchcock: Sämtliche Filme
Bewusstseinserweiternde Lesestunden sollte man hierbei nicht durchgängig erwarten. Auch dies ist kein durchweg analytisch tiefgreifendes Buch über Hitchcocks Œuvre, das soll es gar nicht sein, dafür eher ein verlässliches Handbuch, dass tatsächlich alle 53 Spielfilme des Meisters – in kompakten Einzelanalysen – anspricht und zuvor einen chronologisch-ausführlichen Essay über die Schaffensphasen des „Meister des Suspense“ anbietet. Das knapp 25cm hohe und 6cm dicke Buch untergliedert sich dabei in folgende Kapitel:
- Einführung: Die Angst vorm Fallen (S. 6-25)
- 1899-1939: Ein junges Genie (S. 26-99)
- 1940-1954: Der Typ, der dein Vertrauen in dieses ganze lausige Geschäft wiederherstellt (S. 100-151)
- 1954-1980: Ein wahrer Meister (S. 152-221)
- Anschließend folgen auf über 440 Seiten sämtliche Einzelfilmbesprechungen, beginnend bei IRRGARTEN DER LEIDENSCHAFT (THE PLEASURE GARDEN, 1925) und nach über 50 Jahren Filmgeschichte und 53 Werken mit FAMILIENGRAB (FAMILY PLOT, 1976) seinen Abschluss nehmend
- Zuletzt folgt eine illustrierte Präsentation von Hitchcocks Cameos in seinen Filmen (S. 668-683)
- Die Bibliografie (S. 684-685) ist mit zwei übersichtlichen Seiten äußerst schmal, führt lediglich ein paar Handvoll Standardwerke über den Meister und seine bekanntesten Filme auf, die die Meisten ohnehin bereits kennen dürften. Innovative, gerade jüngere – teils interdisziplinäre – Veröffentlichungen werden dem weiterführend interessierten Leser nicht offenbart; das ist schade, hier hätten zumindest einige wenige Seiten mehr mit interessanten Literaturhinweisen mehr als gut getan, den Platz dafür hätte man zweifellos einräumen können
Das erste Drittel des Buchs, bestehend aus dem zeitlich untergliederten Essay Duncans, war bereits in der Erstauflage von 2003 zu lesen. Der Essay ist sehr gut recherchiert, bindet essenzielle Zitate elegant in die eigenen Zeilen ein und darf durchaus als Standardtext über einen der einflussreichsten Künstler überhaupt verstanden werden. Auch einige der weiteren Texte – über die einzelnen Filme – erschienen bereits zuvor, etwa in den Jahrzehnt-Filmbüchern von TASCHEN, und bieten zumeist nur einen Grundriss über die Werke. Kaum Eingang finden diskussionswürdige, weiterführende Sichtweisen, gerade bei allbekannten Klassikern wie DAS FENSTER ZUM HOF (REAR WINDOW, 1954), PSYCHO (1960) oder DIE VÖGEL (THE BIRDS, 1963), jene stark kanonisierten Werke, die jeder halbwegs Cinephile mindestens einmal gesehen hat und die zweifellos eine leicht alternative Herangehensweise innerhalb ihrer Besprechung vertragen können. Manche Textabschnitte und Einzelfilmbesprechungen wurden schließlich auch eigens für diesen Band geschrieben.
Das Highlight dieses Buchs sind die nun schnell zugänglichen Besprechungen zu den 23 frühen Werken Alfred Hitchcocks, gedreht zwischen 1925 und 1939. Es sind just jene Filme, von denen man bis heute größtenteils immer noch nach hochwertigen Heimkinoeditionen sucht, während das Spätwerk des Meisters wiederholt und mehr als zur Genüge aufgelegt wurde. Besondere Nennung unter den insgesamt zwölf weiteren Autoren verdienen Elizabeth Ward, Alain Silver und F.X. Feeney – gerade Letzterer stellt mit seinen wunderbar zu lesenden Beiträgen einmal mehr sein spezifisches Wissen über den filmischen Thriller unter Beweis. Für TASCHEN publizierte er 2006 zwei buchfüllende Essays über Roman Polanski und Michael Mann, unter den Extras der deutschen Sammlereditionen von Manns Debüt THIEF (DER EINZELGÄNGER) war er ebenfalls vertreten.
Etwa ein Drittel des (textlichen) Inhalts ist insgesamt neu, wobei die Grundstruktur des Buchs klar vom Vorgängerband übernommen wurde. Hinsichtlich der chronologischen Herangehensweise macht dies jedoch durchweg Sinn. Zuletzt fand ich noch den ersten Satz des Klappentextes mehr überschwänglich als sachlich: natürlich lebte Mr. Hitchcock über 80 stolze Jahre von 1899 bis 1980, seine relativ genau 50 Jahre im Filmgeschäft (1925-1976) jedoch mit dem Satz „Fast ein ganzes Jahrhundert Filmgeschichte…“ einzuläuten, scheint arg frenetisch. Keiner wird jemals den ungeheuren Stellenwert Alfred Hitchcocks samt seinem Einfluss auf andere Künstler zu schmälern versuchen, doch derartige Vehemenz braucht es nun auch wieder nicht.
Fazit
Ein „definitives Handbuch“, wie bereits aus London verkündet wurde, ist diese in Leinen gebundene Publikation durchaus. Immer wieder möchte man das Buch aus dem Regal nehmen, nachdem es mit seinem recht übersichtlichen Format gelungen Platz zwischen der persönlichen Sammlung von Hitchcock-Filmen gefunden hat. Immer wieder möchte man darin blättern, sich (erneut) inspirieren lassen von dem enormen Korpus dieses besonderen Lebenswerks. Schön ist auch, dass das bei TASCHEN bekannte Visionäre des jeweiligen Filmemachers auch visuell-ästhetisch gekonnt abgebildet wird. Dies geschieht in der Konzeption – auch dieses Buchs – eben nicht nur mit leicht verständlichen Kerntexten, sondern auch mit key images, sowohl von vor als auch hinter den Kulissen. Zahllose on-set photos, film stills, Storyboards, Werbefotografien und Plakatmotive haben Eingang in dieses Buch gefunden. Offizielle Angaben vom Verlag zur Anzahl der Abbildungen im Buch haben wir leider nicht erhalten, aber nach einmaligem Durchlesen beziffern wir deren Höhe auf 700 bis 750. Fotostrecken und ausgewählte, teils gruppierte Bildausschnitte aus den Filmen kompensieren die reinen Textseiten um ein Leichtes, sodass im Schnitt etwas mehr als eine Grafik pro Seite den Leser/Betrachter erfreut. Unzählige Archive wurden hierfür durchforstet – der Gewinn dieser auch grafischen Sammlung ist wirklich bemerkenswert und zuletzt sehr lohnend für den einzelnen Käufer.
- Alfred Hitchcock. Sämtliche Filme
- Verlag: TASCHEN
- Autor: Paul Duncan
- In Leinen gebunden, 17 x 24 cm, 688 Seiten
- 30 € — Bei Amazon bestellen
- ISBN: ISBN 978-3-8365-6681-0
Literaturhinweis: ein weiterführendes Buch
Ein filmanalytisches, auch interdisziplinäres Werk – in englischer Sprache – möchte ich zuletzt zumindest erwähnen, um es dem geneigten Leser vorzustellen: Reassessing the Hitchcock Touch: Industry, Collaboration, and Filmmaking (Hg. Wieland Schwanebeck, 2017) aus dem Springer-Verlag. Es trifft genau in das Raster der jüngeren Veröffentlichungen über Hitchcock (and beyond), die beweisen, dass eben noch nicht alles über den Meister überlegt, diskutiert und niedergeschrieben wurde (Leseprobe als .pdf) . Auch weil es bei dem hier besprochenen Handbuch von TASCHEN leider nicht in der Bibliografie aufgeführt ist, lohnt sich dieser Hinweis. Zugegebenermaßen ist es sehr teuer: knapp 120 € für 270 Seiten, 90 € als eBook. Dafür handelt es sich um ein lückenlos zitiertes, (kultur)wissenschaftliches Werk, mit Beiträgen von renommierten internationalen Autoren. Eine deutschsprachige Rezension über das Buch, an dem auch Marcus Stiglegger und ich mitwirken durften, ist via das Archiv der Universität Marburg als PDF einsehbar.
Liebt Filme und die Bücher dazu / Liest, erzählt und schreibt gern / Schaltet oft sein Handy aus, nicht nur im Kino / Träumt vom neuen Wohnzimmer / Und davon, mal am Meer zu wohnen