„Eine Reise ohne Worte“
Es ist immer wieder schön, wenn Filme ihre eigenen Genrekonventionen hinter sich lassen und völlig anders sind als erwartet. FLOW gehört auf jeden Fall zu dieser Sorte, obwohl Animationsfilme mittlerweile ein enormes Spektrum an Themen, Erzählperspektiven und Zielgruppen abdecken. Vielleicht sollten auch einfach mehr animierte Filme aus Ländern kommen, die nicht die USA oder Japan sind. Der lettische Regisseur Gints Zilbalodis ist der verantwortliche kreative Kopf hinter diesem ungewöhnlichen Film. Vielleicht ist einigen sein Vorgängerfilm AWAY (2019) bekannt. Warum ist FLOW nun ungewöhnlich? Zum einen wird im gesamten Film nicht gesprochen, sondern lediglich Tierlaute dienen der verbalen Kommunikation. Und zum anderen ist der Film besonders, da er sich der üblichen dramaturgischen Schablone verwehrt und eine Vielzahl an Interpretationen zulässt. Zusätzlich ist das Erlebnis enorm barrierefrei, wegen der „universellen Sprache“ und auch der undefinierten Zielgruppe. Kinder werden sich an dem realitätsnahen, tierischen Verhalten genauso erfreuen und bei dem Kampf der Hauptfigur gegen die Wassermassen mitfiebern, wie auch Erwachsene versuchen werden, in dem teilweise sehr menschlichen Verhalten der Tiere Metaphern zu deuten. In vielen Belangen ist FLOW ein ungewöhnlicher Film.

Handlung
Eine Katze führt ein idyllisches Leben in einem von Menschen verlassenen Haus. Die Vorbesitzer scheinen eine Schwäche für die schnurrende Haustiere gehabt zu haben, denn der Garten steht voll mit Katzenstatuen. Lediglich ein Rudel verwahrloster Hunde macht der Katze ab und zu das Essen aus dem Fluss streitig. Doch eines Tages gibt es eine riesige Flutwelle im nahegelegenen Wald. Wenig später steigt der Wasserstand des Flusses bedrohlich an. Der Pegel steigt so schnell, dass die Katze ihr Zuhause verlassen muss. Im letzten Moment taucht ein kleines Segelboot auf. Darin hält sich bereits ein Wasserschwein auf, das den Neuankömmling toleriert und sich erstmal schlafen legt. Schlaf werden beide brauchen, denn die Reise wird aufregend werden.

Die Schönheit der Katastrophe
Man kann FLOW auf die ursprünglichste Regel für eine Filmhandlung herunterbrechen: die Hauptfigur lebt ein normales Leben, bis sich etwas Gravierendes ändert und sie zum Handeln zwingt. In diesem Fall führt die Katze ein ruhiges Leben, das auf einmal von einer Flut und dem Verlust des Zuhauses auf den Kopf gestellt wird. Sie muss sich nun ihrer Angst vor dem Wasser stellen, um zu überleben und an einen sicheren Ort zu gelangen. Auch das ist ein wichtiger Baustein eines Drehbuchs, der Protagonist oder die Protagonistin muss über die eigenen Fähigkeiten hinauswachsen.

Diese elementaren Aspekte der Filmerzählung sind in FLOW aber nicht zu offensichtlich, weil das Publikum sich erst einmal auf den Prozess, bei den Tieren ihre Motivationen und Gedanken zu entschlüsseln, einstellen muss. Zusätzlich ist FLOW noch beeindruckend animiert, so dass die Immersion von der ersten Minute an gelingt. Die Geräusche der Tiere sind alle echt und wurden nicht von Menschen synchronisiert. Das Animationsteam hat genau auf die Bewegungen echter Tiere genau studiert und dadurch viel Naturleben in diese künstliche Welt hineingepflanzt. Selbst wenn die Tiere menschlich agieren, wie zum Beispiel das Segelboot zu steuern, sind wir hier von einem typischen Disneyfilm weit entfernt. FLOW ist aber auch ein bisschen ein Roadmovie oder vielleicht eher ein Boatmovie, in dem die Figuren von einem unsicheren Ort an einen sicheren gelangen wollen und unterwegs jede Menge Abenteuer erleben.

Interpretationsebenen
Filmemacher Gints Zilbalodis hat in einem Interview gesagt, dass er kein großes Interesse hat, Hinweise auf die Symboliken in FLOW zu geben. Das merkt man dem Film an, sowohl positiv als auch negativ. Szenen und Figuren sind immer recht weit gefasst und nie genau als Metapher für etwas zu deuten. Abgesehen von den Lemuren, die offensichtlich unsere Konsumgesellschaft darstellen und sich gern im Spiegel (vielleicht stellvertretend für unsere Eitelkeit oder Smartphones?) betrachten. In allen Tieren ist eine gewisse Charakteristik zu erkennen und alle wollen oder leben in konkreten sozialen Gefügen. Die Katze als Hauptfigur bildet ihre eigene kleine Überlebensgemeinschaft, obwohl sie doch sehr schüchtern wirkt. Selbst der Tod wird in diesem Film spirituell dargestellt. Was die Szene aber darüber aussagt, bleibt jedem selbst überlassen.

Solch eine offene Deutungsebene kann aber auch störend sein, weil es den Eindruck vermittelt, dass dem Film eine Meinung zu bestimmten Themen fehlt. Sicherlich ist zu erkennen, dass man schwierige Zeiten am besten als Gemeinschaft durchsteht. Jedoch bleiben Dinge wie Egoismus, Ausgrenzung und Gier recht ungestraft in diesem Film liegen, als spielt spielten diese keine Rolle. Vor allem die letzte Szene ist so konstruiert offen, dass man nicht so richtig mit einem wohligen Gefühl in den Abspann wechselt. Dies sind jedoch Kritikpunkte auf hohem Niveau, wenn man bedenkt, dass dies die erste große Filmproduktion von Zilbalodis und auch ein internationales (Lettland, Frankreich und Belgien) Projekt ist. Über fünf Jahre hat der Produktionsprozess gedauert und da kann manchmal der Fokus etwas aus den Augen verloren gehen.

Fazit
FLOW ist ein toller, unabhängiger Animationsfilm, der ein breites Publikum anspricht und zum Diskutieren nach dem Film einlädt. Schön zu sehen, dass kreative und tiefgründige Animation nicht nur in Japan und den USA produziert wird. Gern mehr davon!
Titel, Cast und Crew | Flow (2024) |
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Poster | ![]() |
Release | seit dem 25.09.2025 im Mediabook (Ultra HD Blu-ray + Blu-ray) und auf Blu-ray und DVD erhältlich. Direkt beim Label bestellen. |
Regie | Gints Zilbalodis |
Trailer | |
Drehbuch | Gints Zilbalodis Matīss Kaža |
Musik | Rihards Zaļupe |
Kamera | Gints Zilbalodis |
Schnitt | Gints Zilbalodis |
Filmlänge | 88 Minuten |
FSK | ab 6 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter