„Die Schlacht um Macht“
Der Name Paul Thomas Anderson ist wie ein Garantieschein für ein außergewöhnliches Kinoerlebnis. Seine Filme balancieren immer zwischen sozialkritischen Aspekten und ungewöhnlicher Satire, meist auf einem literarischen Fundament. Außerdem lässt er so gut wie keinen Aspekt des Filmdrehens aus der Hand. Schauspieler William H. Macy sagte einmal in einem Interview: „Anderson würde sogar die Linsen für die Kameras selbst herstellen, wenn er die Zeit dafür hätte.“ ONE BATTLE AFTER ANOTHER ist ein vollblutiger Paul-Thomas-Anderson-Film. Produktion, Regie und Drehbuch sind ihm zuzuschreiben und selbst den Posten des Kameramanns gab er nicht vollständig an Michael Bauman ab. Schnitt (Andy Jurgensen) und Filmmusik (John Greenwood) legt er jedoch wieder in vertrauensvolle Hände aus vorherigen Produktionen. Wir wollen hier aber nicht nur über das Genie Anderson sprechen, der uns Cinephilen Meisterwerke wie MAGNOLIA (1999) und THERE WILL BE BLOOD (2007) schenkte. Es soll hier mehr um den Film gehen und warum er wohl einer der ungewöhnlichsten und mutigsten Beiträge des aktuell sehr passiven Hollywoods ist. ONE BATTLE AFTER ANOTHER ist der zeitgenössischste Film seiner Karriere und zeigt dem internationalen Publikum, was es bedeuten kann, im „Land der Freiheit“ – wir reden von den USA, das muss man mittlerweile dazuschreiben – zu leben.

Handlung
Die linksextreme Widerstandsgruppe „French 75“ (wie der Cocktail aus Gin und Champagner) setzt dem konservativen, kapitalistischen System der USA stark zu. Sie befreit Einwanderer aus ICE-Gefängnissen, sprengt Wahllokale in rechtsnationalen Bezirken und überfällt Banken, um sich Waffen, Sprengstoff und Kommunikationstechnik zu kaufen. In der Gruppe sind auch Perfidia (Teyana Taylor) und Bob (Leonardo DiCaprio), die in diesem Netz aus Kämpfen und Flucht ein Kind zeugen. Perfidia sieht sich in der Rolle der Mutter eingeschränkt und lässt den Vater mit seiner Tochter zurück, der sofort mit ihr untertaucht als die Gruppe auffliegt.

16 Jahre später, die kleine Willa (Chase Infiniti) ist bereits in der Highschool, holt Bobs Vergangenheit ihn in Form von Col. Steven J. Lockjaw (Sean Penn) wieder ein. Doch Bob hat es in den letzten Jahren mit den Drogen und Alkohol etwas zu gut gemeint und kann sich kaum noch an Kennwörter, Regeln und Handbücher der Revolution erinnern.

Ensemble
Typisch für Paul Thomas Anderson ist auch ONE BATTLE AFTER ANOTHER ein Ensemblefilm, auch wenn uns der Trailer und das Kinoposter sagen will, es handle sich um einen Leonardo-DiCaprio-Film. Während sich einige Leute noch in den Medien auslassen, wie divers eine Besetzung sein sollte, setzt ONE BATTLE AFTER ANOTHER zwanglos auf einen vielfältigen Cast. Und das nicht nur nach Hautfarben, sondern auch nach gespielten Persönlichkeiten, die zum Drehbuch passen und somit ein realitätsnahes Amerika darstellen. Die Handlung wechselt spielend zwischen den Figuren der kämpfenden Seiten hin und her. Selbst Nebenfiguren, wie Karatemeister Sergio (Benicio del Toro), werden so wunderbar ausdifferenziert wie es nur die Coen-Brüder in ihren besten Filmen vollbrachten.

Apropos Coen-Filme, denn die Figur des Bobs, gespielt von Leonardo DiCaprio, ist auffällig mit Bademantel und Sonnenbrille vernebelt in diesem Kräftemessen unterwegs. Sein „Dude“ prallt auf die Soldatenkarikatur von Sean Penn. Manchmal geht seine Darbietung etwas zu sehr mit ihm durch, aber es ist eine willkommene Entspannung von der dunklen realitätsnahen autokratischen Welt, die einen Gruseln lässt. Penns Figur des Col. Lockjaw ist ein kleiner Muskelsoldat, der unbedingt in einen Geheimbund berufen wird, die Christmas Adventures, was ihm auch gelingt. Wenn er aus seiner militärischen Kleidung in seinem sonntäglichen West-Point-Anzug wechselt und seine Stirnfransen mit etwas Spucke im Kamm zurechtlegt, geben sich Ekel und Humor die Klinke in die Hand. Wenn Penn seine Lippen und Zähne immer wieder zurechtschiebt, lässt sich nur erahnen, welche dunkle Gedanken und Konflikte in ihm vorgehen.

Mehrheitlich bietet jede Figur in ONE BATTLE AFTER ANOTHER durch ihre Extrovertiertheit Unterhaltung. Wer kann schon behaupten, einen solchen Kampf gesehen zu haben? Hier führt ein weihnachtlicher Geheimbund aus privilegierten Collegeboys im Poloshirt und mit weißen Sneakers einen geheimen Krieg gegen Cannabis vapende, Büchsenbier trinkende Rebellen.
CIVIL WAR (2024) war in seinem fiktiven Bürgerkriegsszenario auf amerikanischem Boden ein intensiver, deprimierender Trip. ONE BATTLE AFTER ANOTHER sieht den Kampf zwischen linken und rechten Ideologien verspielt und leichtherzig. Die Sympathien liegen ganz klar auf dem politisch linken Flügel, jedoch werden auch hier moralisch fragwürdige Taten kritisiert. Unschuldige werden erschossen, Kinder zurückgelassen und Gewalt als politisches Mittel genutzt. Die Themen von Verschwörungen aus Geheimbunden, und im Untergrund kämpfenden Rebellenmilizen wechseln stets zwischen Humor und Brutalität. Das Chaos wird über die fast drei Stunden Laufzeit zur Normalität. Eingewanderte Familien verstecken sich schon seit Generationen vor den Kontrollen der amerikanischen Polizei- und Zollbehörden. Mit Zusammenhalt, Fluchtplänen und Codenamen gelingt es ihnen bei Razzien unterzutauchen. Von einer legitimen Polizei kann man schon gar nicht mehr auf Seiten des ICE sprechen. Seelenlose militärische Spezialeinheiten agieren ohne demokratische Legitimationen selbstgefällig mit ihrem Alpha-Gehabe. Für ein europäisches Publikum, das sich meist sicher innerhalb des Staates fühlt, ist ONE BATTLE AFTER ANOTHER ein Alptraum. Der Wilde Westen mit Bundesmarshalls und selbsternannte Sheriffs hat sich mit automatischen Waffen eine machtvolle Position erarbeitet, was die aktuelle Nachrichtenlage aus den USA weiter unterstreicht.

Analoge Filmkunst und Referenzen
Die Kamera ist oft ganz nah bei den Charakteren. Make-up auf den Gesichtern, um einem typischen Schönheitsideal zu entsprechen, gibt es nicht. Frisuren sind ungekämmt und ungewaschen. Kleidung sieht man das Alter an und Sensei Sergios Outfit mit Cowboy-Stiefeln, weißer Kampfsporthose und Jeansjacke ist jetzt schon ikonisch. Wenn die Kamera auf die Totale wechselt, erleben wir wunderschöne Breitbildaufnahmen auf analogem VistaVision, die besonders gut im Kino zur Geltung kommen. Das IMAX-Kinoformat und Vorstellungen auf 70mm Film sind hiermit empfohlen. Aber auch die filmgeschichtlichen Fans kommen auf ihre Kosten. Bob will sich einen ruhigen Abend machen und schaut einen seiner Lieblingsfilme: SCHLACHT UM ALGIER (1966) – ein Film, den jeder auf seiner Watchlist haben sollte.

Fazit
Chaos, Angst und Gewalt sind Themen, die ONE BATTLE AFTER ANOTHER mit einer ordentlichen Portion Satire geschickt jongliert, ohne die Spannung eines Thrillers zu verlieren. Von der ersten Minute an packt dieses Meisterwerk den Zuschauer und lässt ihn selbst nach dem Kinobesuch nicht mehr los. Und das Beste ist, dass dieses Erlebnis ein Mantra der Heilung mit auf den Weg gibt, um in den aktuellen Zeiten aus Konflikten nicht den Verstand zu verlieren: Durchatmen! Unsere Atmung muss zu Wellen der Entspannung werden und dann erkennt man, dass stehenbleiben eine Lösung sein kann. Oder in diesem Fall: Ins Kino gehen und aufatmen.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter