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1917 – Filmkritik

„Erlebniskino“

In unseren europäischen Friedenszeiten ist ein Weltkrieg unvorstellbar. Dennoch versuchen Filmemacher immer wieder diese grausame Zeit möglichst authentisch nachzubilden, nur um uns daran zu erinnern, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Vor gut 100 Jahren war eine Schlacht von Material und Mensch in unermesslichem Ausmaß entstanden, die heute wie ein Alptraum wirkt: Der Erste Weltkrieg, zwei Fronten voller Soldaten, die sich tagelang belauern, nur, um im richtigen Moment die Stellung auf der anderen Seite niederzumetzeln. 1917 zeigt nicht nur das Überleben in dieser furchtbaren Zeit, sondern gestattet dem Zuschauer nicht das kleinste Blinzeln, denn der Film von Regisseur Sam Mendes kommt ohne einen sichtbaren Filmschnitt aus. BIRDMAN (2014) oder VICTORIA (2015) haben bereits bewiesen, dass dies durchaus möglich ist ohne langweilig zu sein. Aber gerade bei 1917 ist das Ergebnis dieser visuellen Vorgabe um einiges intensiver als man erwartet.

Lance Corporal Schofield (George MacKay) // © Universal Pictures

Handlung

Der 6. April 1917, ein wichtiges Datum in der Geschichte des Ersten Weltkriegs, denn an diesem Tag erklären die Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich den Krieg. Aber um die USA soll es in dieser Geschichte nicht gehen, sondern um die Schlacht in den Schützengräben der Alliierten in Frankreich. Die beiden britischen Soldaten Lance Corporal Schofield (George MacKay) und Lance Corporal Blake (Dean-Charles Chapman) erhalten den Auftrag, eine Nachricht an ein Bataillon zu überbringen, welches in eine Falle der Deutschen zu laufen droht. Der angekündigte Angriff muss aufgehalten werden. Die Alliierten sind im Begriff, in die gnadenlosen Fänge des Feindes zu rennen, der sich augenscheinlich zurückgezogen hat. Schofield und Blake steht ein stundenlanger Weg durch Feindesgebiet bevor. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn ihnen bleiben nur ein paar Stunden für die Kilometer durch eine Ödnis voller Hinterhalte, Minen und zurückgelassener Heckenschützen. Das Leben von 1.600 Soldaten hängt an der Übermittlung des Befehls.

© Universal Pictures

Komprimierung

Der Erste Weltkrieg zeichnete sich nicht durch globale Bewegungen aus, sondern war eher ein Kampf des Stillstands. Monatelang wurde an den Fronten um wenige Meter bis zum letzten Mann gekämpft. Grundlage für die fiktive Geschichte von 1917 ist der Rückzug der Deutschen zu den stark befestigten Hindenburglinien. Das zurückgelassene Land schien nicht von dieser Welt zu sein. Bäume wurden gefällt, Tiere erschossen und Flüsse mit Leichen vergiftet. Das Drehbuch nimmt diese Aspekte auf und bleibt zwei Stunden ganz dicht bei den beiden Hauptfiguren hinter den feindlichen Linien.

© Universal Pictures

Regisseur und Drehbuchautor Sam Mendes ist seit den Geschichten seines Großvaters, der Bote im Ersten Weltkrieg war, von dieser Epoche fasziniert und setzte aus den vielen Geschichten, die er von ihm hörte, wie auch weiteren Ereignissen während der Recherche, den nervenaufreibenden Weg von Blake und Schofield zusammen. Das gelingt ihm aber immer mit einem guten Händchen für Echtheit, auch wenn einige Zufälle manchmal konstruiert wirken. Davon lenkt aber geschickt die visuelle Wucht ab.

© Universal Pictures

Die Kamera von Roger Deakins

Wer Filme auch wegen ihrer Bilder liebt, kommt an einem Genie hinter der Kamera nicht vorbei: Roger Deakins. Er verlieh Filmen wie 1984, DIE VERURTEILTEN, O BROTHER WHERE ART THOU? und BLADE RUNNER 2049 ihre eigene visuelle Poesie. Für 1917 stellte er sich zusammen mit Sam Mendes der Herausforderung, nicht nur wunderschöne Bilder von einer grausamen Welt zu zeigen, sondern uns Zuschauer förmlich mitzunehmen. Seine Kameralinse bleibt bei den zwei Soldaten, rennt, schwimmt, kämpft, klettert und schießt mit ihnen und wir als Zuschauer sind immer ganz nah dabei.

Kameramann Roger Deakins am Set von 1917 // © Universal Pictures

Der Film ist nicht in einer einzigen Aufnahme gedreht worden, erweckt aber durch geschickte Schnitte bei Schwenks und Lichtwechsel den Eindruck als One-Take-Movie. Dennoch bedeutet es für manch minutenlange Szene, dass die Kamera über mehrere Meter getragen wird, dann in eine Seilbahn gehangen wird, an deren Ende entnommen wird, auf einen Jeep gesetzt, durch Felder gefahren wird, um dann wieder in die Hände eines weiteren Kameramitarbeiters zu gelangen. Man kann es sich kaum vorstellen, welche umfangreiche Planung und Übung dieses Unterfangen benötigte. Hier ein Einblick:

Zum Glück schaffte es der Münchner Kamerahersteller ARRI eine besonders kleine Kamera mit sehr großem Bildsensor (es gibt kaum einen Einsatz von künstlichem Licht) zu entwickeln, die dieser Herausforderung gewachsen ist. Die Prototypen der ALEXA Mini LF kamen bei den Dreharbeiten 2018 zum Einsatz. Nicht nur technisch ist die Bildgestaltung beeindruckend, sondern auch kompositorisch, fast schon malerisch. Bei mancher Einstellung möchte man förmlich innehalten und sich an Gemälde von Otto Dix, Michael Zeno Diemer, Fritz Fuhrken, Max von Poosch und William Orpen aus dem Ersten Weltkrieg besinnen. Das Wechselspiel von Farben, Licht und Schatten eines Roger Deakins ist dennoch unverkennbar und verleiht 1917 dessen künstlerische Signatur. Die Kamera vermag einen Perspektivwechsel durch den fehlenden Filmschnitt nicht zu ersetzen, aber durch Verlagerung von Schärfe oder die Bewegung des Bildausschnitts gelingt eine Anspannung, die seinesgleichen sucht.

Dean-Charles Chapman als Blake // © Universal Pictures

Die Besetzung

Die Auswahl der Schauspieler tut gut daran, nicht auf Superstars zu setzen. Die beiden Protagonisten werden von George MacKay (CAPTAIN FANTASTIC) und Dean-Charles Chapman (GAME OF THRONES, THE KING) unverbraucht, aber dennoch mit dem Wunsch beide näher kennenzulernen, besetzt. Chapman legt seinen Soldat Blake naiv und unerfahren, aber mit dem Herz am richtigen Fleck an. MacKay spielt Schofield besonnen, ruhig und tiefgründig. Er ist eine imposante Erscheinung auf der Leinwand, vermittelt allein durch seine Augen unglaublich viele Emotionen. Vor allem sein Schofield muss sich nicht nur durch eine physische Varianz, sondern auch durch eine psychische extrem wandeln. MacKay meistert diese schwierige Aufgabe professionell und man hofft auf mehr große Rollen für den Briten.

Schofield (George MacKay) // © Universal Pictures

Die englischen Superstars werden in die zweite Reihe gestellt und heben die Kommandostrukturen des Kriegs noch einmal hervor. Die „alten Hasen“ werden hier zu erfahrenen Führungskräften: General Erinmore (Colin Firth), Captain Smith (Mark Strong) und Colonel MacKenzie (Benedict Cumberbatch).

Major Hepburn (Adrian Scarborough) und Colonel Mackenzie (Benedict Cumberbatch) // © Universal Pictures

Vor allem Mark Strong bleibt am stärksten in Erinnerung mit seinem Hinweis, den Befehl zum Abbruch des Angriffs vor Zeugen an Col. MacKenzie auszusprechen. „Manche Feldherrn ziehen zu gern in den Krieg“. Der Stellungskrieg, ein Kampf der Strategen, der den Ersten Weltkrieg auszeichnete, hebt diese Besetzung mit jungen Schauspielern als Soldaten und erfahrenen Darstellern als Kommandierende noch einmal hervor. Ein cleverer Schachzug.

General Erinmore center) George MacKay Colin Firth) // © Universal Pictures

Der Baum als Verbindung

1917 beginnt an einem Baum und endet auch an einem. Der Baum steht für Heimat und Familie. Blake und Schofield beginnen, aus der Rast an einen Stamm gelehnt, ihren Spezialauftrag. In den Dialogen beider wird viel von der Heimat gesprochen, die Angst vor dem Heimaturlaub oder vielmehr, dem wieder zum Krieg müssen, aber auch Familie, Frau und Kinder sind zentrale Themen. Es sind junge Männer in einem Krieg, der aus Überzeugung begonnen wurde, aber in dem am Ende jeder nur ein Ziel hat: wieder nach Hause zu kommen.

© Universal Pictures

Die Silhouetten der Bäume sind stumme Zeugen des Geschehens. 1917 spielt an einem Frühjahrstag und die Kirschblüte ist die Hoffnung auf einen Neubeginn. Die deutschen Besetzer haben alle Bäume aus dem Rückzugsort gefällt und erst zum Filmende kann man sich wieder an einen Baum lehnen und Fotos der Familie betrachten. Die Fotografien sind sicherlich echte aus dem Ahnenbuch von Regisseur Sam Mendes. Der Baum als visuelle Metapher, aber auch als Stammbaum, beginnt und beendet die Geschichte.

© Universal Pictures

Fazit

Filmerfahrene werden in manchen Momenten aus diesem intensiven Erlebnis herausgerissen werden, um sich zu fragen, wo jetzt ein Schnitt gesetzt wurde oder wie die Kamerabewegung möglich war. Es ist aber jedem Zuschauer zu wünschen, von Beginn bis Ende mit starrem Auge dieser beeindruckenden Mission beizuwohnen. So viel gibt es auf den Bildern zu entdecken, vom gnadenlosen Alltag eines Frontenkriegs bis hin zur Schönheit einer Leuchtfackel in einem zerbombten Meer aus Häuserwänden. Eine Erfahrung, die jeder kennen sollte, kann man jetzt in der behaglichen Obhut des Friedens machen. Unbedingt ansehen!

© Christoph Müller

Titel, Cast und Crew1917 (2019)
Poster
ReleaseKinostart: 16.01.2020
ab dem 30.06.2020 auf (Blu-ray und DVD)

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RegisseurSam Mendes
Trailer
BesetzungDean-Charles Chapman (Lance Corporal Blake)
George MacKay (Lance Corporal Schofield)
Daniel Mays (Sergeant Sanders)
Colin Firth (General Erinmore)
Mark Strong (Captain Smith)
Benedict Cumberbatch (Colonel MacKenzie)
DrehbuchSam Mendes
Krysty Wilson-Cairns
KameraRoger Deakins
FilmmusikThomas Newman
SchnittLee Smith
Filmlänge119 Minuten
FSKab 12 Jahren

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